Und jetzt weiss ich auch, was @fumo die Tage meinte und dass er nicht unrecht hatte.
Kältezeit schrieb:
Das war auch die Meinung eines Germanisten.
Ich habe aber in meinen Beiträgen auf Seite 110 schon gezeigt, dass
@fumo mit seiner literaturtheoretischen Argumentation unrecht hat, da die Kriterien von Satire Angriff, Indirektheit und Norm von Böhmermann nie verletzt wurden.
Noch mal ausführlich: das Gebot der Indirektheit besagt, dass die auf der Inhaltsebene vermittelte Kernbotschaft auf der Darstellungsebene (die satirische Einkleidung) durch Einsatz ästhetischer Maßnahmen wie Übertreibung, Komik etc.verfremdet wird, um den Angriff nicht allzu platt und augenfällig erscheinen zu lassen, nicht zuletzt aber, um möglichen politischen Zensurmaßnahmen zu entgehen.
Dabei bleibt aber der Bezug zur Kernbotschaft transparent genug, um den Gegenstand der Kritik erkennen zu lassen, Satire will ja verstanden werden. Heißt also, dass die Kernbotschaft und die satirische Darstellung notgedrungen inhaltlich korrelieren, was aber bei Böhmermanns Schmähgedicht gerade nicht gegeben ist.
Mal ein paar Beispiele schematisch dargestellt:
fumos Beispiel:
Darstellungsebene: "Helmut Kohl wurde zum Essen eingeladen, 2 Schafherden ließen noch am gleichen Abend ihr Leben!"
Inhaltsebene: Herr Kohl leidet an Adipositas.
Das Gebot der Indirektheit wäre verletzt bei Folgendem:
Darstellungsebene: "Helmut Kohl ist eine fette Sau!"
Inhaltsebene: Herr Kohl leidet an Adipositas.
Beispiel Hape Kerkelings „Hurz“
Darstellungsebene: Aufführung und Besprechung des Stückes „Hurz“.
Inhaltsebene: Beleidigung und Vorführung des Publikums, das sich als Intelligenzia ausgibt, aber Kunst nicht von Nonsens unterscheiden kann.
Hape hätte seinerseits das Gebot der Indirektheit verletzt, wenn er statt „Hurz“ gesungen hätte:
Darstellungsebene: Hape singt: „Verehrtes Publikum, Sie sind so einfältig, Sie halten dies für Kunst, nur weil ich einen Frack trage“ etc.
Inhaltsebene: Beleidigung des Publikums.
Nun zu Böhmermann:
Darstellungsebene: Inszenierung eines Nachhilfeunterrichts für Erdogan, Verlesen des Schmähgedichts.
Inhaltsebene: Erdogan kann Satire nicht von Beleidigung unterscheiden.
Das Gebot der Indirektheit wäre erst verletzt worden, wenn Böhmermann, wie ich schon mal sagte, auf der Darstellungsebene gesagt hätte:
Darstellungsebene: „Herr Erdogan, Sie sind so ein geistig minderbemittelter Schwachmat, dass sie Satire nicht von Beleidigung unterscheiden können, Sie Vollhonk!“
Inhaltsebene: Erdogan kann Satire nicht von Beleidigung unterscheiden.
Böhmermann hat also nicht nur nicht gegen die Kriterien der Satire verstoßen, vielmehr erlaubt die Anwendung des Begriffs der Indirektheit sogar, in der Nichtverletzung ein stichhaltiges Indiz dafür zu sehen, dass das Schmähgedicht ein bloß funktionstragendes Element innerhalb der satirischen Kunstfigur der Nachhilfelektion für Erdogan darstellt, denn weder lautet die Kernbotschaft, dass Erdogan ein Ziegenficker ist noch verändert sich die Kernbotschaft „Erdogan kann Satire nicht von Beleidigung unterscheiden“, wenn man die Beleidigungen im Schmähgedicht austauscht oder variiert.
Man kann jetzt weiterhin geteilter Meinung sein, ob die satirische Einbettung überzeugend genug ist, um dem Schmähgedicht den Beleidigungscharakter zu nehmen, aber gerade fumos literaturtheoretische Kriterien stützen die Annahme, dass das Schmähgedicht bloß formalen Demonstrationscharakter hat, ohne eine tatsächliche Beleidigungsabsicht zu formulieren, ebenso wenig wie z. B. den Beleidigungen in Peter Handkes „Publikumsbeschimpfung“ eine tatsächliche ehrverletzende Intention zukommt. Dass Beleidigungen in der Satire per definitionem nicht vorkommen dürfen stimmt halt nicht (abgesehen davon, dass die Satire auch in ihrem Gattungsbegriff viel zu indifferent und vielfältig ist), sofern das Gebot der Indirektheit nicht verletzt wird.