joleen schrieb: Wie hat sich das geäußert? Warst du viel allein oder wurdest nach deinem Empfinden nicht so integriert?
Meine Eltern führten mehr so eine "Vernunftehe". Mein Vater war so bissl nerdig, lebte mit seinem verwitweten Vater auf einem Hof und sie hatten das Gefühl, da müsste eine Frau her - und jemand gezeugt werden, der potentiell der Hof übernehmen kann - mein Vater ist Akademiker und hatte von Tieren wenig Ahnung und noch weniger Interesse - obwohl er auf dem Hof groß wurde. Die ledige Schwester meines Großvaters war noch mit an Bord, aber sie kam langsam in die Jahre, wo sie als Frau ersetzt werden musste. Meine Mutter war mit fast 30 noch nicht verheiratet - das war auf dem Land doof, hier feierte man mit 25 das "Schachtelfest". Sie war erst ausgebüchst und hatte eine Weile in Paris gelebt - dann aber wieder heimgekommen und hatte einen Bürojob in der Stadt, empfand es aber zusehens als Makel, nicht verheiratet zu sein.
Insgesamt war die Ehe am Anfang ziemlich unglücklich - das erste Kind meiner Eltern starb bzw. war eine Totgeburt. Daher riesige Freude, als mein Bruder kam - der Bäckeropa dachte, er hätte einen Nachfolger, der Landwirtopa auch (beide selbstständig und eben mit ihrem Betrieb völlig eins). Meine Eltern waren ziemlich mit sich beschäftigt. Meine Mutter fand das Landleben doch nicht so idyllisch, vermisste ihren Job im Büro, es war nicht ihrs, täglich mit Gummistiefeln durch einen Kuhstall zu waten. Zudem war die Tante, die auf dem Hof lebte, sehr stutenbissig.
Dann kam ich - völlig ungeplant - und ihr wurde das alles zu viel, zudem war ich ein Mädchen - meine Mutter ist mehr so eine Jungsmama. Mein Bruder und ich wurden dann ziemlich lieblos großgezogen, d.h. der Bauernopa liebte uns heiß und innig und verbrachte so viel Zeit mit uns ... eigentlich hat er uns aufgezogen, er wollte ja, dass wir Liebe zur Landwirtschaft entwickeln. Ich hatte lange das Problem, dass ich dachte, ich müsste den Hof übernehmen, einfach, weil ich ihm nicht das Herz brechen wollte.
Von uns Kindern wurde verlangt, dass wir einfach funktionieren, ohne viel Ärger zu machen. Die Mittage verbrachten wir mit dem Bauernhofopa (da lebten wir ja auch), die Wochenenden mit dem Bäckeropa. Da gab es wenig Familienleben und wenig Gemeinsamkeiten. Mein Vater hat mich damals an Onkel Quentin in Fünf Freunde erinnert :-). Wir kamen also von der Schule heim, aßen zu Mittag - machten Hausaufgaben, gingen mit Opa aufs Feld, melkten, ... dann duschten wir abends, lasen noch etwas in unseren Zimmern, weil meine Eltern 2er Zeit verbringen wollten. Wir kamen uns da eher so vor, als ob wie störten.
Meine Eltern hatten dann so einen honeymoon, als wir im Grundschulalter waren - sie hatten sich zusammengerauft, meine Mutter arbeitete wieder stundenweise im Büro. Sie bekamen dann meine Schwester und es war, wie wenn sie das wichtigste Kind war - vermutlich das erste, dass sie aus wirklicher Überzeugung gezeugt hatten. Mein Bruder und ich fingen dann an, uns gegenseitig zu zerfleischen .... Richtig doof war es dann, als der Bauernhofopa starb - er war so die gute Seele in unserem Leben. Damit war es einfach emotional kalt, niemand freute sich, wenn man uns sah.
Mein Bruder zog dann mit 16 aus - angeblich, um einen LK in der Schule zu belegen, den es in der nahen Stadt nicht gab. Ich machte eine Ausbildung 160km entfernt. Ich fuhr einmal im Jahr heim - und selbst da bekamen es meine Eltern nicht hin, mich vom Bahnhof abzuholen. Einmal musste ich trampen, weil mein Ausbildungsort keinen Bahnhof hatte und stand 40km von daheim weg - es war bitter kalt und schneite. Es gab ja noch kein Handy. Ich rief meine Mutter aus einer Telefonzelle an - sie sagte, dass sie eigentlich gar keine Zeit hätte, mich zu holen - schon gar nicht in der nächsten Zeit. So stand ich da und wartete ... und wartete .... es war so kalt. Eine alte Frau ließ mich dann bei ihr im Wohnzimmer warten (ich war mindestens drei Stunden dort) - und sie erzählte, wie sehr sie sich auf Kinder und Enkel freute - es war für mich wie in einem Kitschfilm: Es gab selbst gebackene Plätzchen, alles toll geschmückt, sie hatte viel selbst gebastelt - das war so ein irrer Kontrast zu meiner Mutter, die mich drei Stunden im Schneegestöber stehen ließ.
joleen schrieb:Mein jüngerer Bruder war viel krank und häufig im Krankenhaus. Meine Mutter hatte ich dadurch oft tagelang nicht gesehen, weil sie nach der Arbeit immer bei ihm war und Abends erst nach Hause kam, als ich schon im Bett lag. Hatte so lang gedauert, durch die Öffis damals. Kam mir da auch sehr überflüssig und teils für sie, als nich existent vor.
Ich hatte damals oft das Gefühl, dass ich da nicht hingehöre. ich habe auch oft überlegt, ob ich adoptiert bin, weil ich mich gar nicht dazu gehörig fühlte.