Exakt (MDR) vom 14.10.2015
Facebook-Hetze gegen Flüchtlinge
Eine erfundene Kindesentführung oder sexuelle Übergriffe, die es nie gab. Das Netz ist voll von Propaganda-Posts, die mit der Realität nichts zu tun haben. Sie verbreiten sich rasend schnell. Wir recherchieren den Wahrheitsgehalt einiger solcher "Meldungen". Ein krasser Fall: In Delitzsch soll es zu einer versuchten Kindesentführung gekommen sein. Bilder einer Überwachungskamera und die Recherchen der Polizei sprechen dagegen. Exakt konfrontiert die Frau, die das Vergehen auf Facebook "angezeigt" hat.
Bilder einer Überwachungskamera. Ein dunkelhäutiger Mann betritt einen Drogeriemarkt. Sein Ziel: Mit einem Komplizen dieses Kind zu entführen. - Das behauptet zumindest die Mutter des Jungen. Auf Facebook schimpft sie über die angeblichen Täter. Das Internet ist voll von Meldungen über angeblich kriminelle Asylbewerber und Flüchtlinge. Angst wird geschürt und genau das ist auch so gewollt, sagt Michael Geffken. Der Journalist und Leiter des Mediencampus Leipzig sieht dahinter dieselben Motive wie bei der Pegida-Bewegung.
Hetztiraden im Internet treffen immer öfter Asylbewerber. Der Wahrheitsgehalt interessiert dabei offenbar niemanden. Wir berichten über die gefährliche Stimmungsmache.
"In dem Moment, wo ich etwas habe, was meine Vorurteile bestätigt, dann trage ich das natürlich gerne nach außen. Es ist eine Situation für viele, die ihnen dann auch eine gewisse Macht gibt. Sie verbreiten etwas weiter, von dem sie wissen, das heizt die Stimmung auf." Michael Geffken
Doch was ist Wahrheit, was ist Lüge und was steckt wirklich hinter solchen Posts? Wir haben einige Fälle untersucht.
Am 10. Juli kommt es im bayrischen Ansbach zu einem Amoklauf. Ein 47-jähriger Mann erschießt eine Rentnerin und einen Radfahrer. Der Täter wird später an einer Tankstelle überwältigt. Der NPD-Kreisverband im westfälischen Unna berichtet auf seiner Facebook-Seite darüber. Vom Täter heißt es, dass er "… sich seit seinem Übertritt zum Islam Yussuf Mohammed nennt, während des Schießens "Allahu akbar" gebrüllt hat, einen Salafisten-Bart trägt und wegen seiner Salafisten-Kutte und seiner Salafisten-Haube aufgefallen ist."
Doch die örtliche Polizei versichert uns: Eine politisch motivierte Tat wird ausgeschlossen. Ein Foto der Festnahme belegt: Der Amokschütze trägt weder einen Salafisten-Bart, noch eine Haube oder Kutte. Doch woher hat der NPD-Kreisverband diese Informationen? Schriftlich heißt es: Der Vorgang war nicht verifizierbar. Auch der Absender, von dem wir die Nachricht erhalten hatten, konnte uns nicht weiterhelfen.
Bei einer Recherche im Internet stoßen wir auf diese Meldung aus Gießen. In einem Supermarkt soll es durch Flüchtlinge zu sexuellen Übergriffen und Pöbeleien gekommen sein. Die Filiale wurde daraufhin angeblich geschlossen. Wir kontaktieren Aldi Süd und erfahren: Diese Meldung ist falsch.
Auf der Thügida-Facebook-Seite, dem Thüringer Ableger von Pegida, finden wir diesen Eintrag. 20 Asylbewerber hätten in Sömmerda angeblich einen Jugendclub gestürmt, bewaffnet mit Zaunslatten. Als vermeintliches Opfer wird dieser Mann präsentiert. Nach einer Rücksprache mit der örtlichen Polizei steht fest: Die Geschichte ist unwahr.
Die Ermittlungsbehörden werden immer häufiger mit Falschmeldungen konfrontiert. Dennoch, die Beamten müssen jedem Anfangsverdacht nachgehen. Andreas Loepki von der Polizeidirektion Leipzig reagiert zunehmend genervt.
"Das erfordert einen hohen Aufwand. Zunächst müssen wir einmal prüfen, ist an dem Gerücht irgendwas dran. Wir müssen es notfalls beweisen oder widerlegen. Und das bindet richtig messbar Arbeitszeit und Arbeitskraft, die dann eben an anderer Stelle fehlt." Andreas Loepki, Polizeidirektion Leipzig
Ein weiterer Fall ereignete sich am 06. Juli dieses Jahres. In einem Drogeriemarkt in Delitzsch soll angeblich gleich ein Verbrechen passiert sein: versuchte Kindesentführung. Die Überwachungskamera hält das Geschehen fest, die Aufnahmen liegen uns exklusiv vor. Eine Mutter betritt mit ihrem Sohn den Laden. Kurze Zeit später folgen nacheinander zwei dunkelhäutige Personen. Auf Facebook schildert Katrin R., was ihr Sohn angeblich einen Moment später erzählt: "Mich hat ein Mann angelabert. Ich: Waaas? Er hat gefragt, ob ich mitkomme, der hat so komisch geredet, kaum verstanden den Mann."
Was passiert wirklich. Das Kind verschwindet in der Spielzeugabteilung und damit aus dem Sichtfeld der Kamera. Drei Minuten später bewegt sich einer der Tatverdächtigen in dieselbe Richtung. Ob es hier tatsächlich zu einem Kontakt kommt, ist mehr als fraglich. Nur 20 Sekunden später: Der Junge kehrt, vorbei am zweiten Tatverdächtigen, seelenruhig zu seiner Mutter zurück. Katrin R. kommentiert: "Da war i so geschockt. Wollte zu den hin, laut anschreien, da waren die weg."
Eine Schockreaktion ist auf den Aufnahmen nicht zu erkennen. 20 Minuten lang setzen Mutter und Kind ihren Einkauf entspannt fort. Ein Versuch, die angeblichen Entführer zur Rede zu stellen, ist nicht erkennbar. Erst einen Tag nach dem angeblichen Entführungsversuch erstattet die Frau Anzeige. Wir treffen uns mit Klaus-Dieter Kabelitz von der Polizei Delitzsch.
"Wir können ausschließen, dass tatsächlich eine Straftat geplant oder durchgeführt werden sollte. Wir haben eben zunehmend die Erkenntnis, auch hier in der Kleinstadt, dass eben wirklich Dinge in Richtung Ausländerfeindlichkeit gehen, dass eben jedes Ereignis versucht wird auf diese Schiene zu drücken und dann entsprechend auch ausgeschlachtet wird." Klaus-Dieter Kabelitz, Polizei Delitsch
Der Eintrag von Katrin R. wurde fast 900-mal geteilt - auch von der JN Nordsachsen, der Jugendorganisation der NPD. Der angebliche Versuch einer Kindesentführung durch Asylbewerber - eine Steilvorlage für Rechtspopulisten. Übrigens: Das Verbreiten von Falschmeldungen im Internet hat in den allermeisten Fällen keine strafrechtlichen Konsequenzen. Stimmungsmache im Netz ist bisher ein Kavaliersdelikt.
http://www.mdr.de/exakt/facebookhetze106.html