Ray Bradbury - Fahrenheit 451Ray Bradbury hat diesen dystopischen Roman 1953 veröffentlicht und der Text ist komplexer als die klassische Verfilmung von Francois Truffaut mit Oskar Werner und Julie Christie in den Hauptrollen, die vom Setting in den 60er Jahren angesiedelt ist.
Die Handlung spielt in einer Großstadt an der Westküste der USA und das Land steht vor einem dritten Atomkrieg. Alle Häuser sind mit feuerfesten Schutzschichten gesichert, das Leben der Menschen wird von interaktivem Fernsehen und von Radio dominiert. Aggression wird befördert, für den Autoverkehr gibt es keine Höchstgeschwindigkeiten, sondern Mindestgeschwindigkeiten. Verkehrstote werden in Kauf genommen. Literatur und wissenschaftliche Werke sind verboten, Bücher werden aufgespürt, deren Besitzer verhaftet.
Die Feuerwehren sind umfunktioniert worden, da keine Brände mehr ausbrechen können, zu Einheiten, die nach Anzeigen Bücher aufspüren und verbrennen. Zur Unterstützung gibt es Roboter mit spinnenartigen Beinen, die "Hunde" genannt werden. Sie spüren anhand von Geruchssignaturen Verdächtige auf und lähmen bzw. töten sie mit Betäubungs- und Giftspritzen. In den Spritzenwagen befindet sich kein Wasser, sondern Kerosin als Brandbeschleuniger, die Feuermänner (im Original
firemen) sind mit Flammenwerfern ausgestattet.
Was Truffaut nicht umgesetzt hat, sind die audiovisuellen Technologien. Es gibt keine Fernsehgeräte mehr, sondern die Wände selbst werden zu Bildschirmen, und das Ziel ist, dass vier Wände zu Bildschirmen werden (Preis: etwa ein durchschnittlicher Jahresgehalt). Es werden interaktive Serien ausgestrahlt, bei denen die Bewohner selbst Teil werden und deren Darsteller sie als "Familie" in die eigene Wohnung einbauen. Mittels Deep Fakes werden die Zuseher direkt und mit Namen angesprochen. Die Handlungen sind inhaltsleer und bestehen nur mehr aus bedeutungslosen Kommunikationshülsen. Radio wird per drahtlosen Ohrstöpseln empfangen. Gesendet wird Unterhaltungsmusik. Informationen werden über Radio- und Fernsehen nur mehr in Einzelsätzen übertragen, so wird zum Beispiel angekündigt, dass demnächst der Krieg beginne. Hintergründe werden der Bevölkerung nicht übermittelt.
Hauptfigur ist der dreißigjährige Feuermann Guy Montag. Seine gleichaltrige Frau Mildred ist mediensüchtig, lässt sich von einer dreiseitigen Fernsehwand (ihr Traum ist die vierte Wand) sowie den Radiostöpseln dauerberieseln und kann nur mehr mit einer hohen Dosis an Schlafmitteln zur Ruhe kommen. Wir lernen sie kennen, als Guy wegen einer Überdosis Schlafmittel den Notdienst rufen muss, der mit Hilfe eines vollautomatisierten Schlauches ihren Magen auspumpen und ihr Blut austauschen muss. Dies sei aufgrund der hohen Fallzahlen Routine, erfährt Guy. Mildreds einziger Sozialkontakt sind Frauen aus dem Wohnviertel, die sich zu Fernseh-Sessions mit ihren jeweiligen "Familien" treffen.
Der Roman steigt ein, als Guy von einem Arbeitstag mit der U-Bahn nach Hause kommt und auf dem Weg von der Station zu seiner Wohnung ein 17-jähriges Mädchen namens Clarisse trifft, mit ihr zu reden beginnt, und die ihn in den nächsten Tagen über Natur und ihre offensichtlich belesene Familie erzählt, die ihre Freizeit mit Sprechen verbringt. Der Kontakt reißt wieder ab, Clarisse wird laut Gerücht von einem rasenden Auto getötet. Doch in Guy ist etwas geweckt worden.
Bei einem der nächsten Einsätze verbrennt sich eine alte Frau gemeinsam mit ihren Büchern selbst, was in Guy einen Schock auslöst. Er selbst hat bereits seit Längerem von den Einsätzen immer wieder Bücher mitgehen lassen und in einem nicht benötigten Kamin versteckt. Er nimmt Kontakt mit einem emeritierten alten Professor für englische Literatur namens Faber auf, der Kontakt zu einer Dissidentengruppe außerhalb der Stadt hat. Mittels eines Funkohrstöpsels bleiben sie in Kontakt.
Guy ist noch immer so aufgekratzt, dass er bei einer Fernsehsitzung seiner Frau mit ihren Bekannten ihnen ein Gedicht vorliest und outet, dass er Bücher besitzt. Mildred zeigt ihn an, Guy ist beim Einsatz gegen sich selbst dabei, brennt seine Wohnung nieder. Als sein Kommandant Beatty ihn mit gezogener Pistole verhaften will, verbrennt ihn Guy mit seinem Flammenwerfer wie auch den attackierenden "Hund" und flieht zunächst zu Faber. Dort wechselt er Kleider, Geruchsspuren werden beseitigt und Faber weist ihm den Weg zu den Dissidenten, die südlich der Stadt an einem Fluss entlang einer alten Bahnstrecke siedeln. Guy kann die Verfolger abschütteln, indem er sich den Fluss entlangtreiben lässt, und stößt auf die Gruppe der Dissidenten, welche aufgrund eines tragbaren Fernsehgeräts bereits wissen, wer er ist. Sie nehmen ihn auf, und er kann auf dem Bildschirm mitverfolgen, wie in einem anderen Stadtteil ein einsamer Spaziergänger von Polizeieinheiten ermordet und als Guy Montag ausgegeben wird. Im Anschluss erfährt Guy, dass sie eine Gruppe Intellektueller sind, die mit Hilfe von Mnemotechniken gelesene Bücher auswendig wiedergeben können, und dass in vielen Dörfern des Landes Ihresgleichen lebt, in der Hoffnung, nach Ende des Regimes die so gerettete Literatur wieder drucken zu können.
Während des Gesprächs sehen sie, dass feindliche Flugzeuge Atombomben auf die Stadt abwerfen. Nach Abflauen des Druckwellensturms machen sie sich auf den Weg Richtung Stadt, um helfen zu können.
Damit endet der Roman, der mit dem Atomkrieg einen Cop-Out hat, aber viel Raum zum Reflektieren bietet. Am interessantesten sind die beiden Gespräche Montags mit seinem Kommandanten Beatty, einem fanatischen Bücherverbrenner, der jedoch in seinen Gesprächen ständig Zitate aus Büchern einbaut.
Es ist Beatty, der Guy offenbart, dass das Handbuch über die Geschichte der Feuerwehren falsch ist, in dem dargestellt wird, dass bereits im Unabhängigkeitskrieg gegen England die Feuerwehren die Aufgabe hatten, englische Bücher zu verbrennen und Benjamin Franklin der erste Feuermann gewesen sei. Dies ist wohl eine Anspielung ans Wahrheitsministerium Orwells.
Noch interessanter sind Beattys Ausführungen darüber, wie es zum Buchverbot gekommen ist. Beatty stellt eine Verbindung zu der immer größer und heterogener gewordenen Massengesellschaft, in welcher der soziale Frieden durch divergierende Meinungen in Gefahr ist, und Literatur wie diskursive Wissenschaft sind eine Quelle divergierender Meinungen. Es benötige Massenkultur (Sport, Großveranstaltungen, Massentourismus) als sozialen Kitt.
Beatty im Wortlaut (gekürzt, in Reihenfolge adaptiert):
Je größer die Bevölkerung, um so mehr Minderheiten. Sieh dich vor, daß du den Hundefreunden nicht zu nahe trittst, oder den Katzenfreunden, den Ärzten, Juristen, Kaufleuten, Geschäftsleitern, den Mormonen, Baptisten, Quäkern, den eingebürgerten Chinesen, Schweden, Italienern, Deutschen, Iren, den Bürgern von Texas oder Brooklyn, von Oregon oder Mexiko.
Farbige nehmen Anstoß an ›Klein Sambo«. Man verbrenne es. Den Weißen ist Onkel Toms Hütte ein Dorn im Auge. Man verbrenne es.
Nur die Bildergeschichten ließ eine Leserschaft, die auf ihrem Geschmack bestand, gnädig am Leben. Und die dreidimensionalen Schönheitsmagazine, versteht sich. Da hast du's, Montag. Es kam nicht von oben, von der Obrigkeit. Es fing nicht mit Verordnungen und Zensur an, nein! Technik, Massenkultur und Minderheitendruck brachten es gottlob ganz von allein fertig. Dem verdanken wir es, wenn unser Dauerglück heute ungetrübt bleibt, wenn wir Bildergeschichten lesen dürfen, Lebensbeichten oder Fachzeitschriften.
Man beschäftige Leute mit Wettbewerben - wer am meisten Schlagertexte kennt oder Hauptstädte aufzählen kann
und dergleichen. Man stopfe ihnen den Kopf voll unverbrennbarer Tatsachen, bis sie sich zwar überladen, sich aber doch als "Fundgrube von Wissen" vorkommen.
Vergiß vor allem nicht, Montag, wir sind die Glückshüter, du und ich und die andern. Wir stemmen uns gegen die wenigen, die mit ihrem widersprechenden Dichten und Denken den Leuten vor dem Glück stehen.
Doch ist dem in Realität nich so. Die Gesellschaft wird als extrem aggressiv dargestellt, Jugendliche sind zum Beispiel nächtens in schnellen Autos unterwegs und machen Hetzjagd auf Fußgänger, welche die Straße überqueren. So entkommt Guy bei seiner Flucht nur knapp einer Jugendgruppe, die mit 200 km/h auf ihn zurast. Clarissa ist vermutlich auf solche Weise ermordet worden. Die Polizei kümmert dies nicht.
Als Gegenstimme zu Beatty ist aus dem Mund Clarissas ihr Onkel zu vernehmen, der über die sportlichen Massenveranstaltungen Folgendes äußert:
Wie soll einer der ortseigenen Mannschaft zujubeln, wenn er kein Programm hat und keine Namen kennt? Er weiß nicht einmal. was für Trikots die Leute tragen, wenn sie auf den Spielplatz hinaustraben.
Letztlich ist es eine entwurzelte Gesellschaft, die vorgestellt wird, und nicht die harmonische Traumgesellschaft, die Beatty kommuniziert. Und Bradbury legt durchaus einen Finger auf Wunden einer Massengesellschaft, die nicht wie bei Orwell von einem totalitären Regime beherrscht wird, sondern deren Illiberalität aus sich selbst gespeist wird. So gibt es auch noch Wahlen, doch die Wählbarkeit ist von fernsehästhetischen Gesichtspunkten geprägt. So ist der aktuelle Präsident groß, sportlich, einnehmend, sprachgewandt. Sein Gegenkandidat war klein, dick, abstoßend, sprachgehemmt. Inhalte spielen keine Rolle mehr.
Um den Vergleich zu Orwells
1984 aufzugreifen: Während Orwell die Mechaniken und Tiefenstrukturen totalitärer Regime thematisiert, so finden wir bei Bradbury eine Gesellschaft, die nicht so unbekannt erscheint. Sie ist näher an unserer und hält uns noch immer einen Spiegel vor.
Quelle der Zitate: Ausgabe des Heyne-Verlags (1977), Übersetzung von Fritz Güttinger