Edward Gibbon - Verfall und Untergang des römischen Imperiums (Kap. 13-18)Original anzeigen (0,2 MB)Diese Kapitel des großartigen Werks über das Römische Reich aus dem späten 18. Jahrhundert umfasst den Zeitraum von Diokletian bis zur Herrschaft der Söhne Konstantin des Großen. Neben der politischen und militärischen Geschichte liegt der Schwerpunkt auf dem Aufstieg des Christentums (zwei Kapitel) sowie der wirtschaftlichen und sozialen Lage des Römischen Reichs. Tiefen Einblick erhält man durch die Fußnoten in die Arbeitsweise Gibbons, der als Privatgelehrter Unmengen an römischen Originalquellen zu Rate zieht, sie vergleicht und aus ihren oft persönlich gehaltenen Aussagen (sei es Lobpreis, sei es Kritik) den Kern der Wahrheit auszulösen strebt. Und bis auf wenige Irrtümer halten viele seiner Darstellungen und Analysen der Kritik bis heutzutage Stand.
Diokletian wird insgesamt als positiver Herrscher dargestellt, der zwar nicht den unbedingten Mut im Kampf zeigt, aber sehr umsichtig das Reich führt und aus den Bedrohungen den Schluss zieht, dass er allein nicht mehr in der Lage ist, das Reich zu verwalten und zu verteidigen. Die Schlussfolgerung war eine Zweiteilung mit zwei Augusti und zwei Caesaren. Eine Tetrarchie, eine Herrschaft von vier Angesehenen, die sich letztlich das Reich teilen. Rom selbst wird als Stadt immer weniger bedeutend, die Herrschaftszentren werden verlagert: Im Westen nach Mailand (leichterer Zugriff auf die Westprovinzen), im Osten nach Nikomedia. Einer seiner Schwerpunkte war die Aufwertung der alten römischen Werte, darunter des Polytheismus. Dies führte zu Edikten, auf deren Grundlage Führer der christlichen Kirche (Bischöfe) und schließlich einfache Mitglieder mit dem Tod bestraft werden konnten, wenn sie sich weigerten, auch anderen Göttern zu opfern. Die einfachste Lösung, dass Jesus in den Pantheon der Götter aufgenommen wird, war nicht möglich.
Interessant ist die These, dass eine Christenverfolgung leichter möglich war als eine Judenverfolgung, da die Juden sich als Volk sahen und somit den Respekt der Römer abverlangten. Die Christen wurden als eine verschworene Gemeinschaft gesehen, die für alle Menschen unabhängig von der Herkunft offen war. Sie galten als Bedrohung, unter anderem auch wegen der in Abgeschiedenheit vollzogenen Riten. Nicht zuletzt deswegen kursierten über die Christen Gerüchte über sexuell aufgeladene Versammlungen und sogar über sexuell konnotierte Ritualmorde an Kindern. Gerüchte, die in späteren Zeiten von Christen über die Juden verbreitet wurden.
Gibbon versucht auch die Opferzahlen der Christenverfolgungen zu eruieren und kommt zu dem Schluss, dass letztlich sie relativ gering waren. Die Zahl der durch Christen überlieferten Märtyrer läge viel zu hoch (Gibbon schätzt die Zahl auf 2000 Ermordete), viele Christen wurden gar nicht belangt oder konnten einer Verfolgung entkommen. Auch weigerten sich viele Verantwortliche des Römischen Reichs, die in Diokletians Edikten geforderte Todesstrafe umzusetzen. Die hohe Zahl an Märtyrer entspringt nach Gibbon auch dem mittelalterlichen Wahn, dass jede Kirche im Besitz von Märtyrerreliquien sein wollte. In einem Whataboutismus stellt Gibbon fest, dass die Zahl der durch christlichen Wahn wie der Inquisition oder in Religionskriegen Ermordeten die Zahl der Märtyrer bei Weitem übersteigt.
Überlebensfähig war die christliche Kirche laut Gibbon deswegen, dass sie in früher Zeit bereits Bistümer mit Bischöfen einrichtete, die zunächst gewählt waren, aber immer mehr an autoritärer Macht über ihre Gemeinden erlangten. Dies war die Struktur, die im vierten Jahrhundert auch in das Römische Reich integriert werden konnte.
Die Bewertung Konstantins ist zwiespältig. Einerseits gelang es ihm als Herrscher über Westeuropa mit Hilfe der Italiener und Römer den lokalen Tyrannen Maxentius und den östlichen Herrscher Licinus zu besiegen, andererseits regierte er mit Pomp, extrem hohen Staatsausgaben und einem die Menschen immer mehr belastenden Steuersystem. Auch bildete sich unter seiner Herrschaft ein Höflingsstaat heraus, der die Grundlage des byzantinischen Reichs sein wird. Nur: dieser ist teuer und für die Herrscherclique wird das Volk des Römischen Reichs an die Grenzen der wirtschaftlichen Sinnhaftigkeit und Belastbarkeit ausgequetscht. Als Person wird Konstantin als Tyrann und Despot bewertet, der nicht davor zurückschreckt, einen Sohn, beide Ehefrauen sowie eine große Zahl an ehemaligen Günstlingen, Förderern und Freunden zu ermorden.
Auch die Gründung Konstantinopels am Bosporus sieht Gibbon zwiespältig. Einerseits sei der Ort für eine Stadtgründung aus wirtschaftlichen und strategischen Gründen genial gewählt. Andererseits wird wenig Neues geschaffen, für Kunstwerke werden Stätten des Römischen Reichs geplündert, darunter auch Delphi. Für die Bewohner wurde Konstantinopel in Bezug auf Lebensqualität und Hygiene zur Hölle, da die Gebäude viel zu eng aneinander gebaut waren und die Stadt überbesiedelt war.
Nach seinem Tod wird das Reich 337 unter seinen drei Halbbrüdern aufgeteilt. Diokletians Tetrarchie existiert nicht mehr, eine monarchische Erbfolge ist das Ziel, der den Osten regierende Hannibalianus ließ sich sogar den von den Römern verachteten Titel König zukommen. Ihre Herrschaft dauerte nicht lange, noch im selben Jahr kommen sie in bürgerkriegsartigen Kämpfen ums Leben.
Für einen modernen Lesegeschmack schreibt Gibbon zu überladen und nicht ausreichend strukturiert, aber dennoch sind seine Schlussfolgerungen auf sehr hohem Niveau. Als Licinius im Osten gegen Konstantin in den Bürgerkrieg zieht, so begründet Gibbon es damit, dass Licinius sich von der Expansion Konstantins bedroht fühlte und ihm mit einem Präventivschlag entgegenkommen wollte. Gibbon zieht einen Vergleich zu Thukydides, der den Abfall Korinths vom Peloponnesischen Bund als Anlass sieht, dass Sparta in den Krieg gegen Athen und den Attisches Seebund zieht, weil es sich bedroht sieht. Der erste Gedanke: Diese (vorgeblichen) Kriegsgründe erinnern schwer an Putins Rechtfertigungen im aktuellen Ukrainekrieg.