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17.10.2020 um 10:07Anforderungen an Verfahren der regelmäßigen Sprachstandsfeststellung
Sprachwissenschaften interessieren mich und so habe ich mal ein altes Papier aus 2005 ausgegraben, zu einer Zeit, als die Testitis so richtig losgegangen ist. Konrad Ehlich (damals Uni München) formuliert das Ziel von Sprachtestungen bei Kindern knackig: "Retardierungen frühzeitig erkennen", um allen "Mitgliedern der neuen Generation die für eine Demokratie unabdingbaren Handlungsmöglichkeiten zu verschaffen". Ein hehres Ziel, und so muss frühzeitig auf sehr vielen Ebenen getestet werden (ab Frühkindesalter):
- phonisch (korrekte Lautproduktion)
- pragmatisch (Erkennen von Handlungszielen, zuerst beim Kleinstkind, dann beim Schulkind)
- semantisch (werden Wörter, Phrasen, Sätze verstanden?)
- morphologisch-syntaktisch (Wort- und Satzgrammatik)
- diskursiv (Kommunikation in allen möglichen Schattierungen)
- literal (Lesen und Schreiben)
Um diese Testungen zu gewährleisten, ist ein kommerzieller "Testmarkt" (wird wirklich so genannt) entstanden. Diese Tests werden vorgestellt und zum Teil bewertet. Die Anzahl dieser Tests ist umwerfend.
Bei der Betrachtung der Sprachentwicklung muss dann auch noch berücksichtigt werden, dass richtig nicht gleich richtig ist. Es gäbe nämlich den Weg von Richtig - Falsch - Richtig:
Auch Rechtschreibfehler ist nicht Rechtschreibfehler. "Tak" statt "Tag" zeige, dass die Auslautverhärtung erkannt wird, "Pad" statt "Bad" zeige, dass das Kind den Unterschied zwischen "p" und "b" nicht höre/verstehe.
Man müsse nur aufpassen, dass die falschen Formen nicht "fossilieren". Wie dies (vermutlich durch Lehrer bzw. bei Kleinkindern durch Eltern) das geschehen kann, wird nicht geschrieben, aber das Nichtbeschriebene wird benannt: "Förderung". Wozu führt das? Zu einer großen Zahl an kommerziellen Nachhilfeorganisationen, an die sich immer mehr Eltern und Schüler wenden. Formel: Testung zeigt Retardierung und Noten sind schlecht > Nachhilfe.
Für Schulen wird empfohlen, dass ein "Sprachberater" angestellt wird, der den individuellen Sprachstand eines jeden Schülers erhebt und ein individuelles Förderkonzept entwickelt, das Lehrer umzusetzen haben. Auch sollen Lehrer einer Schulklasse regelmäßig für jedes Kind "detaillierte Beschreibungen" über den Sprachstand verfassen. Wie das gehen soll, dass ein Lehrer fünfundzwanzig Schüler einer Klasse individuell unterrichtet und den Sprachstand niederschreibt, wird nicht gesagt. Wird ja alleine aus Zeitgründen nicht möglich sein.
Da Kinder, die zuhause eine andere Sprache als Deutsch sprechen, öfter auch Mängel in ihrer "Muttersprache" aufweisen, soll auch diese gefördert werden (gibt es in Österreich seit 2000 als frewillige Option als Nachmittagsunterricht in vielen Sprachen). Am besten sollte dies jedoch inklusiv im Klassenverband durchgeführt werden, wobei auch hier das Wie wieder nicht genannt wird. Wie denn auch? Soll jeder Lehrer zwanzig Sprachen lernen oder sollen zwanzig "Muttersprachenlehrer" in einer Klasse "rumstehen"?
Insgesamt sind 39 Sprachtestverfahren gelistet, wobei ein Test sogar für Einjährige konzipiert ist. In den letzten fünfzehn Jahren, vermute ich, sind noch weitere dazugekommen. Die Testitis nahm ja gerade ihren Anfang.
Interessant, mal die Zeit zurückzudrehen und sowas zu lesen, das ich vor Ewigkeiten mal runtergeladen hatte. Der Band ist immer noch als PDF in der Deutschen Nationalbibliothek online, sogar mit einem modernisierten Cover
Sprachwissenschaften interessieren mich und so habe ich mal ein altes Papier aus 2005 ausgegraben, zu einer Zeit, als die Testitis so richtig losgegangen ist. Konrad Ehlich (damals Uni München) formuliert das Ziel von Sprachtestungen bei Kindern knackig: "Retardierungen frühzeitig erkennen", um allen "Mitgliedern der neuen Generation die für eine Demokratie unabdingbaren Handlungsmöglichkeiten zu verschaffen". Ein hehres Ziel, und so muss frühzeitig auf sehr vielen Ebenen getestet werden (ab Frühkindesalter):
- phonisch (korrekte Lautproduktion)
- pragmatisch (Erkennen von Handlungszielen, zuerst beim Kleinstkind, dann beim Schulkind)
- semantisch (werden Wörter, Phrasen, Sätze verstanden?)
- morphologisch-syntaktisch (Wort- und Satzgrammatik)
- diskursiv (Kommunikation in allen möglichen Schattierungen)
- literal (Lesen und Schreiben)
Um diese Testungen zu gewährleisten, ist ein kommerzieller "Testmarkt" (wird wirklich so genannt) entstanden. Diese Tests werden vorgestellt und zum Teil bewertet. Die Anzahl dieser Tests ist umwerfend.
Bei der Betrachtung der Sprachentwicklung muss dann auch noch berücksichtigt werden, dass richtig nicht gleich richtig ist. Es gäbe nämlich den Weg von Richtig - Falsch - Richtig:
Auch Rechtschreibfehler ist nicht Rechtschreibfehler. "Tak" statt "Tag" zeige, dass die Auslautverhärtung erkannt wird, "Pad" statt "Bad" zeige, dass das Kind den Unterschied zwischen "p" und "b" nicht höre/verstehe.
Man müsse nur aufpassen, dass die falschen Formen nicht "fossilieren". Wie dies (vermutlich durch Lehrer bzw. bei Kleinkindern durch Eltern) das geschehen kann, wird nicht geschrieben, aber das Nichtbeschriebene wird benannt: "Förderung". Wozu führt das? Zu einer großen Zahl an kommerziellen Nachhilfeorganisationen, an die sich immer mehr Eltern und Schüler wenden. Formel: Testung zeigt Retardierung und Noten sind schlecht > Nachhilfe.
Für Schulen wird empfohlen, dass ein "Sprachberater" angestellt wird, der den individuellen Sprachstand eines jeden Schülers erhebt und ein individuelles Förderkonzept entwickelt, das Lehrer umzusetzen haben. Auch sollen Lehrer einer Schulklasse regelmäßig für jedes Kind "detaillierte Beschreibungen" über den Sprachstand verfassen. Wie das gehen soll, dass ein Lehrer fünfundzwanzig Schüler einer Klasse individuell unterrichtet und den Sprachstand niederschreibt, wird nicht gesagt. Wird ja alleine aus Zeitgründen nicht möglich sein.
Da Kinder, die zuhause eine andere Sprache als Deutsch sprechen, öfter auch Mängel in ihrer "Muttersprache" aufweisen, soll auch diese gefördert werden (gibt es in Österreich seit 2000 als frewillige Option als Nachmittagsunterricht in vielen Sprachen). Am besten sollte dies jedoch inklusiv im Klassenverband durchgeführt werden, wobei auch hier das Wie wieder nicht genannt wird. Wie denn auch? Soll jeder Lehrer zwanzig Sprachen lernen oder sollen zwanzig "Muttersprachenlehrer" in einer Klasse "rumstehen"?
Insgesamt sind 39 Sprachtestverfahren gelistet, wobei ein Test sogar für Einjährige konzipiert ist. In den letzten fünfzehn Jahren, vermute ich, sind noch weitere dazugekommen. Die Testitis nahm ja gerade ihren Anfang.
Interessant, mal die Zeit zurückzudrehen und sowas zu lesen, das ich vor Ewigkeiten mal runtergeladen hatte. Der Band ist immer noch als PDF in der Deutschen Nationalbibliothek online, sogar mit einem modernisierten Cover
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18.10.2020 um 10:59Ich lese eine Biographie "Ulrike Meinhof" von Jutta Ditfurth.
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18.10.2020 um 14:28Original anzeigen (3,9 MB)
Ich lese gerade "Wer die Nachtigall stört" ("To kill a Mockingbird") von Harper Lee in einem Exemplar der zweiten Auflage (12.-21.Tsd.) der ersten deutschen Ausgabe von 1962 im fast perfekt erhaltenen Schutzumschlag. Die amerikanische Originalausgabe ist 1960 erschienen.
Seltsam, wie viele Freiheiten sich manche Übersetzer herausnehmen (hier Claire Malignon): Nicht nur, dass der deutsche Titel mit dem Originaltitel nicht viel zu tun hat, die Hauptfigur Atticus Finch heißt hier durchgehend Atticus Fink.
Eine interessante Südstaatengeschichte im Mark-Twain-Stil, erzählt aus kindlicher Sicht, die Schlaglichter auf auch die heute noch relevanten gesellschaftlichen Konflikte in den USA wirft.
Ich lese gerade "Wer die Nachtigall stört" ("To kill a Mockingbird") von Harper Lee in einem Exemplar der zweiten Auflage (12.-21.Tsd.) der ersten deutschen Ausgabe von 1962 im fast perfekt erhaltenen Schutzumschlag. Die amerikanische Originalausgabe ist 1960 erschienen.
Seltsam, wie viele Freiheiten sich manche Übersetzer herausnehmen (hier Claire Malignon): Nicht nur, dass der deutsche Titel mit dem Originaltitel nicht viel zu tun hat, die Hauptfigur Atticus Finch heißt hier durchgehend Atticus Fink.
Eine interessante Südstaatengeschichte im Mark-Twain-Stil, erzählt aus kindlicher Sicht, die Schlaglichter auf auch die heute noch relevanten gesellschaftlichen Konflikte in den USA wirft.
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19.10.2020 um 10:47Derzeit lese ich "Zeichen am Weg" von Dag Hammarskjöld.
Dag Hammarskjöld war der 2. UN-Generalsekretär, auf ihn zurück gehen z.B. die UN-Blauhelm Soldaten.
Zeichen am Weg ist eine Art spirituelles Tagebuch in welchem er sich mit sich selbst und mit seinem Lebensweg auseinandersetzte. Es wurde auf seinen eignen Wunsch, nach seinem Tod, durch einen Freund veröffentlicht.
Zum Buch
Dag Hammarskjöld war der 2. UN-Generalsekretär, auf ihn zurück gehen z.B. die UN-Blauhelm Soldaten.
Zeichen am Weg ist eine Art spirituelles Tagebuch in welchem er sich mit sich selbst und mit seinem Lebensweg auseinandersetzte. Es wurde auf seinen eignen Wunsch, nach seinem Tod, durch einen Freund veröffentlicht.
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19.10.2020 um 19:31Lese beide immer wieder gern:
Original anzeigen (0,5 MB)
Anacleto Verrecchia: Giordano Bruno-Nachtfalter des Geistes.
"Giordano Bruno, ein Nachtfalter des Geistes, der am Licht der eigenen Ideale verbrannte, ist das berühmteste Opfer der römischen Inquisition.
Nach siebenjähriger Haft und Folter wurde er am 17. Februar 1600 wie ein gemeiner Verbrecher auf dem Campo dei Fiori in Rom bei lebendigem Leib verbrannt." (Aus der Beschreibung der Buchrückseite)
Giordano Bruno: Über das Unendliche, das Universum und die Welten.
"In fünf Dialogen erörtert der Nolaner die Frage, 'ob die Welt endlich ist oder unendlich'.
Bewiesen wird - gegen den damals noch herrschenden Aristotelismus - die Unendlichkeit der Welt, d.h. es gibt unendlich viele Welten".
(Buchrückseite des Reclam-Bändchens).
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Anacleto Verrecchia: Giordano Bruno-Nachtfalter des Geistes.
"Giordano Bruno, ein Nachtfalter des Geistes, der am Licht der eigenen Ideale verbrannte, ist das berühmteste Opfer der römischen Inquisition.
Nach siebenjähriger Haft und Folter wurde er am 17. Februar 1600 wie ein gemeiner Verbrecher auf dem Campo dei Fiori in Rom bei lebendigem Leib verbrannt." (Aus der Beschreibung der Buchrückseite)
Giordano Bruno: Über das Unendliche, das Universum und die Welten.
"In fünf Dialogen erörtert der Nolaner die Frage, 'ob die Welt endlich ist oder unendlich'.
Bewiesen wird - gegen den damals noch herrschenden Aristotelismus - die Unendlichkeit der Welt, d.h. es gibt unendlich viele Welten".
(Buchrückseite des Reclam-Bändchens).
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20.10.2020 um 16:36NONsmoker schrieb:"Giordano Bruno, ein Nachtfalter des Geistes, der am Licht der eigenen Ideale verbrannte...Interessante Bücher!
Aber der zweite Titel enthält m.M.n. schon ein etwas schiefes Bild:
Giordano Bruno ist doch wohl in Wirklichkeit nicht am "Licht der eigenen Ideale" verbrannt, sondern eher an der Dummheit und böswilligen Ignoranz seiner Zeitgenossen...
Ich finde auch die Formulierung im Klappentext merkwürdig, dass Bruno "wie ein gemeiner Verbrecher auf dem Campo dei Fiori... bei lebendigem Leib verbrannt" worden sei. Gerade in der frühe Neuzeit wurden doch Zehntausende von anständigen Menschen völlig sinnlos auf dem Scheiterhaufen verbrannt, die alles andere als "gemeine Verbrecher" waren...
Wenn der Autor dann auch noch (unfreiwillig komisch?) den berühmten Vorgänger mit einer Motte (einem Ungeziefer der Nacht) vergleicht, frage ich mich, auf welcher Seite er steht... Kann es sein, dass Anacieto Verrecchia in Wirklichkeit ein Apologet der römischen Inquisition war? Oder konnte er nur einfach kein Deutsch und der Übersetzer bzw. der Lektor bei Böhlau waren ein ein bisschen doof?
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22.10.2020 um 22:48Enki Bilal - die Geschäfte der Unsterblichen -1980
Einer der bekanntesten französichen SciFi-Comics
Einer der bekanntesten französichen SciFi-Comics
Wikipedia: Alexander NikopolDie Handlung beginnt in Paris im März des Jahres 2023. Nach zwei Atomkriegen ist Paris unter Führung des Präsidenten Hans-Ferdinand Weisskohl ein faschistischer Stadtstaat geworden, der aus zwei Bezirken besteht: Der eine Bezirk bleibt der privilegierten Klasse vorbehalten, während in dem anderen Bezirk, wo die Mutanten leben, Gesetzlosigkeit und Chaos herrschen. Frauen stellen eine Bevölkerungsminderheit dar und dienen als Gebärmaschinen. In dieser Situation erscheint über Paris ein pyramidenförmiges Raumschiff mit ägyptischen Göttern, das aufgrund Treibstoffmangels nicht mehr weiterfahren kann. Zeitgleich wird eine Raumkapsel, in der sich der wegen Desertion zu zwanzig Jahren Kälteschlaf verurteilte und dann aufgrund der Kriege vergessene Alexander Nikopol (fr. Alcide Nikopol) seit 1993 befindet, als unidentifizierbares Flugobjekt über Paris abgeschossen.Quelle:
Als die ägyptischen Götter die Freigabe großer Mengen Treibstoff verlangen, schlägt Weisskohl ihnen einen Handel vor. Für den geforderten Treibstoff verlangt er Unsterblichkeit. Horus, einer der Götter, verfolgt dabei seine eigenen Pläne. Er verschmilzt mit der Person Nikopols, zwingt Weisskohl, der Nikopol für seine eigenen Zwecke instrumentalisieren wollte, mittels Telepathie zum Rücktritt und lässt ihn Nikopol als seinen Nachfolger vorschlagen. Die anderen Götter versuchen Horus aufzuhalten, indem sie einen geeigneten Kandidaten für das Präsidentenamt suchen. Dieser wird von Putschisten aus dem Umfeld Weisskohls getötet und Nikopol bleibt als einziger Anwärter übrig, obwohl seine Psyche durch die regelmäßige Inbesitznahme von Horus zunehmend leidet.
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23.10.2020 um 17:50Cujo von Stephen King
Wollte ich schon seit Jahren lesen, habe dann vorgestern hier im Stephen-King-Thread gelesen und mich erinnert. Heute dann gleich gekauft
Wollte ich schon seit Jahren lesen, habe dann vorgestern hier im Stephen-King-Thread gelesen und mich erinnert. Heute dann gleich gekauft
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25.10.2020 um 11:55Der Mann, der Donnerstag war.
Im Auftrag der Londoner Kriminalpolizei gelingt es Gabriel Syme, Zugang zum innersten Zirkel eines Anarchistenbundes zu finden. Dem Führungskreis gehören sieben Personen an, die sich nach Wochentagen nennen. Syme wird zu Donnerstag und trifft den Anführer der Bande, der sich Sonntag nennt und Syme in eine Abfolge absurder Abenteuer stürzt.
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25.10.2020 um 15:47Ich lese fasziniert
Laetitia Colombani, DER ZOPF
Drei Frauen aus drei Kontinenten suchen die Freiheit....
unterschiedlichste Hintergründe...
Original anzeigen (5,0 MB)
Wenn ich durch bin, schreibe ich mehr.
Laetitia Colombani, DER ZOPF
Drei Frauen aus drei Kontinenten suchen die Freiheit....
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Wenn ich durch bin, schreibe ich mehr.
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25.10.2020 um 21:17Mojca Kumerdej - Chronos erntet
Original anzeigen (0,2 MB)
Die slowenische Philosophin und Kultursoziologin Kumerdej hat mit diesem Roman, der 2016 auf Slowenisch erschien und 2019 in deutscher Übersetzung von Erwin Köstler veröffentlicht wurde, ein wenig beachtetes postmodernes Meisterwerk geschrieben. Es spielt um die Jahrhundertwende des 16. und 17. Jahrhunderts, als Innerösterreich von Graz ausgehend rekatholisiert wurde.
Ausgehend von einem nach einer Massenvergewaltigung schwangeren Bauernmädchen, das zuhause von einer Teufelsverführung erzählt und von ihrem Vater verdroschen und rausgeschmissen wird, beginnt ein slowenisches Panoptikum, in deren Zentrum ein pädophiler katholischer Fürstbischof namens Wolfgang und dessen gräflicher, mit den Lutherischen sympathisierenden Jugendfreund Friedrich stehen. Der Fürstbischof drängt ihn unter Erpressung zum Abhalten eines Hexenprozesses, der auch durchgezogen wird, wobei das Bauernmädchen eine Show abzieht, das ihr das Leben rettet, weil es ihr gelingt, den Hauptvergewaltiger, einen brutalen Schmied, glaubwürdig des Teufelsbundes zu bezichtigen.
Egal von welcher Perspektive aus geschrieben (vieles ist aus Figurenperspektive, manches von einem auktorialen Erzähler, der philosophierend bis zum Cern vorausschaut), der Schreibduktus ist nüchtern, beschreibend, nie emotional geladen. Die nüchterne Logik des Fürstbischof, warum ein Hexenprozess zur Machterhaltung nötig ist, wird von Kumerdejs Schreibstil gespiegelt. Folter und Hinrichtung waren keine Racheakte, sondern eine Notwendigkeit zum Machterhalt. Damit wird nicht nur das späte 16. Jahrhundert reflektiert, was hier zu lesen ist, gilt auch für Diktaturen bis in unsere Zeit.
Durchgehend wird im Roman immer wieder die Frage reflektiert, was Realität überhaupt ist. Gipfelpunkt ist die Geschichte des reichen Bauern Kostanšek, der sieben großgewachsene, schweigsame, teuflisch wirkende Helfer aus dem Kaukasus engagiert, dessen verwachsene, kränkliche Tochter parallel zu einer blühenden Landwirtschaft eine Schönheit wird und deswegen als Hexe gefoltert und zum Scheiterhaufen verurteilt wird. Zur Befreiung kommt Kostanšek mit einer Armee unter der Führung einer Riesin, welche alle zerschmettert, die sich ihr in den Weg stellen. Schon während der Befreiung fragen sich die Bewohner, ob sie nicht Opfer einer Mutterkornvergiftung seien und unter Massenhalluzination litten, Jahre später kann sich niemand mehr daran erinnern.
Der Roman endet mit dem Stadtschreiber Nikolaj, der bei einem - am Ende verschwundenen - lutheranischen Bürgermeister angestellt war und dessen melancholischen Reflexionen immer wieder eingestreut sind. Er verliebt sich in eine Ritterstochter, mit der er davonreitet, nachdem eine Zigeunerin ihnen ein glückliches Leben in einem weit entfernten Land prophezeit. Europa wird kolonial.
Und der Titel? Eingestreut kurz ist: Die Zeit ist der größte Schrecken des Menschen. Es ist die Erkenntnis des Todes, die ihn erschüttert, aber auch - wie der adipöse Fürstbischof Wolfgang am Ende schwerkrank reflektiert - zum schrankenlosen Egoismus antreibt, es ist nicht die Angst vor einem ewigen Leben und einer Höllenstrafe, was es vielleicht gar nicht gibt.
Infolinks im Spoiler
Verlagsinfo:
https://www.wallstein-verlag.de/9783835334427-mojca-kumerdej-chronos-erntet.html
Rezenzsion:
https://read-ost.com/2020/05/12/leben-in-der-renaissance-chronos-erntet-von-mojca-kumerdej/
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Die slowenische Philosophin und Kultursoziologin Kumerdej hat mit diesem Roman, der 2016 auf Slowenisch erschien und 2019 in deutscher Übersetzung von Erwin Köstler veröffentlicht wurde, ein wenig beachtetes postmodernes Meisterwerk geschrieben. Es spielt um die Jahrhundertwende des 16. und 17. Jahrhunderts, als Innerösterreich von Graz ausgehend rekatholisiert wurde.
Ausgehend von einem nach einer Massenvergewaltigung schwangeren Bauernmädchen, das zuhause von einer Teufelsverführung erzählt und von ihrem Vater verdroschen und rausgeschmissen wird, beginnt ein slowenisches Panoptikum, in deren Zentrum ein pädophiler katholischer Fürstbischof namens Wolfgang und dessen gräflicher, mit den Lutherischen sympathisierenden Jugendfreund Friedrich stehen. Der Fürstbischof drängt ihn unter Erpressung zum Abhalten eines Hexenprozesses, der auch durchgezogen wird, wobei das Bauernmädchen eine Show abzieht, das ihr das Leben rettet, weil es ihr gelingt, den Hauptvergewaltiger, einen brutalen Schmied, glaubwürdig des Teufelsbundes zu bezichtigen.
Egal von welcher Perspektive aus geschrieben (vieles ist aus Figurenperspektive, manches von einem auktorialen Erzähler, der philosophierend bis zum Cern vorausschaut), der Schreibduktus ist nüchtern, beschreibend, nie emotional geladen. Die nüchterne Logik des Fürstbischof, warum ein Hexenprozess zur Machterhaltung nötig ist, wird von Kumerdejs Schreibstil gespiegelt. Folter und Hinrichtung waren keine Racheakte, sondern eine Notwendigkeit zum Machterhalt. Damit wird nicht nur das späte 16. Jahrhundert reflektiert, was hier zu lesen ist, gilt auch für Diktaturen bis in unsere Zeit.
Durchgehend wird im Roman immer wieder die Frage reflektiert, was Realität überhaupt ist. Gipfelpunkt ist die Geschichte des reichen Bauern Kostanšek, der sieben großgewachsene, schweigsame, teuflisch wirkende Helfer aus dem Kaukasus engagiert, dessen verwachsene, kränkliche Tochter parallel zu einer blühenden Landwirtschaft eine Schönheit wird und deswegen als Hexe gefoltert und zum Scheiterhaufen verurteilt wird. Zur Befreiung kommt Kostanšek mit einer Armee unter der Führung einer Riesin, welche alle zerschmettert, die sich ihr in den Weg stellen. Schon während der Befreiung fragen sich die Bewohner, ob sie nicht Opfer einer Mutterkornvergiftung seien und unter Massenhalluzination litten, Jahre später kann sich niemand mehr daran erinnern.
Der Roman endet mit dem Stadtschreiber Nikolaj, der bei einem - am Ende verschwundenen - lutheranischen Bürgermeister angestellt war und dessen melancholischen Reflexionen immer wieder eingestreut sind. Er verliebt sich in eine Ritterstochter, mit der er davonreitet, nachdem eine Zigeunerin ihnen ein glückliches Leben in einem weit entfernten Land prophezeit. Europa wird kolonial.
Und der Titel? Eingestreut kurz ist: Die Zeit ist der größte Schrecken des Menschen. Es ist die Erkenntnis des Todes, die ihn erschüttert, aber auch - wie der adipöse Fürstbischof Wolfgang am Ende schwerkrank reflektiert - zum schrankenlosen Egoismus antreibt, es ist nicht die Angst vor einem ewigen Leben und einer Höllenstrafe, was es vielleicht gar nicht gibt.
Infolinks im Spoiler
Verlagsinfo:
Rezenzsion:
https://read-ost.com/2020/05/12/leben-in-der-renaissance-chronos-erntet-von-mojca-kumerdej/
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26.10.2020 um 16:11Es ist ja oft eine heikle Sache, wenn man Bücher 10 oder 20 Jahre später nochmal liest, die man als junger Mensch heiß und innig geliebt hat.
Ich habe das gerade mit Helmut Kraussers "Schweine und Elefanten" getan. Und darf konstatieren, das Buch ist fantastisch gealtert (bzw eben nicht gealtert), hört sich immer noch so frisch an, wie vor nahezu 25 Jahren.
Die Rotzigkeit und der Swing Bukowskis treffen auf die Poesie Hölderlins. Ein großmäuliges Meisterwerk der coming-of-age Literatur.
Worum geht's?
Der Roman ist semi-autobiographisch. Es geht um Hagen Trinker (Kraussers literarisches Alter Ego) und seine Pläne mit seiner Band 'Genie und Handwerk' (die Band gab es in den 80er Jahren wirklich und hatte eine sehr positive Besprechung in der Spex. Krausser war Texter und Sänger der Band) die Welt zu erobern. Dummerweise muss Hagen auch irgendwie über die Runden kommen, ist normaler Arbeit nicht grundsätzlich abgeneigt - jedenfalls wenn sie einen gewissen Stil wahrt. So schnorrt er sich bei Freunden durch, oder spielt um Geld Backgammon. Die wilde Beziehung mit der deutliche älteren Valerie, die allein durch Sex und Machtspiele getragen wird, ist ihm dabei unterhaltsame Abwechselung.
Großartiger Auftakt der Hagen Trinker Trilogie. Die beiden anderen Bände heißen "Könige über dem Ozean" und "Fette Welt"
Ich habe das gerade mit Helmut Kraussers "Schweine und Elefanten" getan. Und darf konstatieren, das Buch ist fantastisch gealtert (bzw eben nicht gealtert), hört sich immer noch so frisch an, wie vor nahezu 25 Jahren.
Die Rotzigkeit und der Swing Bukowskis treffen auf die Poesie Hölderlins. Ein großmäuliges Meisterwerk der coming-of-age Literatur.
Worum geht's?
Der Roman ist semi-autobiographisch. Es geht um Hagen Trinker (Kraussers literarisches Alter Ego) und seine Pläne mit seiner Band 'Genie und Handwerk' (die Band gab es in den 80er Jahren wirklich und hatte eine sehr positive Besprechung in der Spex. Krausser war Texter und Sänger der Band) die Welt zu erobern. Dummerweise muss Hagen auch irgendwie über die Runden kommen, ist normaler Arbeit nicht grundsätzlich abgeneigt - jedenfalls wenn sie einen gewissen Stil wahrt. So schnorrt er sich bei Freunden durch, oder spielt um Geld Backgammon. Die wilde Beziehung mit der deutliche älteren Valerie, die allein durch Sex und Machtspiele getragen wird, ist ihm dabei unterhaltsame Abwechselung.
Großartiger Auftakt der Hagen Trinker Trilogie. Die beiden anderen Bände heißen "Könige über dem Ozean" und "Fette Welt"
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27.10.2020 um 11:03Welches Buch lest ihr gerade?
27.10.2020 um 14:11Kenneth Anger: Hollywood Babylon
Heute mal das volle Skandalprogramm der goldenen Hollywood Ära bis in die Fünfziger Jahre. Quasi die Bild Zeitung der damaligen Zeit mit allen gebündelten Skandalen und Skandälchen, Enten und Aufregern. Von Charlie Chaplin über Marilyn Monroe und Thelma Todd bis Rudolph Valentino oder Errol Flynn.
"Eine köstliche Schachtel vergifteter Pralinen", schrieb einst die New York Times. Die dunkle Seite des damaligen Hollywood.
Gesammelt von einem der Heroen der 60er Gegenkultur, Okkultist und Regie-Legende Kenneth Anger (einer der Haupteinflüsse für Francis Ford Coppola, David Lynch, Martin Scorsese oder RW Fassbinder... und zeitweise auch der Rolling Stones und Jimmy Page) - sein Film "Lucifer Rising" ist sehr empfehlenswert, großartiger Soundtrack von Charles Manson Kumpel Bobby Beausoleil.
Die Misfits um Glenn Danzig haben übrigens mal ein Lied über das Buch gemacht.
Heute mal das volle Skandalprogramm der goldenen Hollywood Ära bis in die Fünfziger Jahre. Quasi die Bild Zeitung der damaligen Zeit mit allen gebündelten Skandalen und Skandälchen, Enten und Aufregern. Von Charlie Chaplin über Marilyn Monroe und Thelma Todd bis Rudolph Valentino oder Errol Flynn.
"Eine köstliche Schachtel vergifteter Pralinen", schrieb einst die New York Times. Die dunkle Seite des damaligen Hollywood.
Gesammelt von einem der Heroen der 60er Gegenkultur, Okkultist und Regie-Legende Kenneth Anger (einer der Haupteinflüsse für Francis Ford Coppola, David Lynch, Martin Scorsese oder RW Fassbinder... und zeitweise auch der Rolling Stones und Jimmy Page) - sein Film "Lucifer Rising" ist sehr empfehlenswert, großartiger Soundtrack von Charles Manson Kumpel Bobby Beausoleil.
Die Misfits um Glenn Danzig haben übrigens mal ein Lied über das Buch gemacht.
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28.10.2020 um 13:19@Narrenschiffer
Wenn du dich für Sprachwissenschaften interessierst, musst du dir unbedingt die Maledicta-Zeitschriften besorgen.
https://de.qaz.wiki/wiki/Maledicta
Herausgeber, Gründer und Chefredakteur Reinhold Aman war auch ein ganz besonderes Herzchen:
https://de.qaz.wiki/wiki/Reinhold_Aman
https://stronglang.wordpress.com/2019/03/13/remembering-reinhold-aman/
Ich habe mich im Studium auf Sprachwissenschaften spezialisiert und mich mit dem Fluchen beschäftigt. Das war sehr interessant und teilweise wirklich sehr lustig. Menschen sind unglaublich kreativ, wenn es um Schimpfwörter geht.
Wenn du dich für Sprachwissenschaften interessierst, musst du dir unbedingt die Maledicta-Zeitschriften besorgen.
https://de.qaz.wiki/wiki/Maledicta
Herausgeber, Gründer und Chefredakteur Reinhold Aman war auch ein ganz besonderes Herzchen:
https://de.qaz.wiki/wiki/Reinhold_Aman
https://stronglang.wordpress.com/2019/03/13/remembering-reinhold-aman/
Ich habe mich im Studium auf Sprachwissenschaften spezialisiert und mich mit dem Fluchen beschäftigt. Das war sehr interessant und teilweise wirklich sehr lustig. Menschen sind unglaublich kreativ, wenn es um Schimpfwörter geht.
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29.10.2020 um 23:56Arthur Schnitzler - Der Weg ins Freie
Weniger bekannt ist, dass der Meister der Beziehungsdramen und psychoanalytischen Erzählungen auch zwei Romane geschrieben hat. Dieser ist sein erster und wurde 1908 veröffentlicht. Er wurde in den Nullerjahren des 20. Jahrhunderts geschrieben, in Schnitzlers 40ern.
Hauptheld ist - wie so oft bei Schnitzler - ein junger Wiener niedrigen Adels, Georg von Wergenthin (27), der eine Beziehung zu einer Kleinbürgerlichen, Anna Rosner (23) hält. Anna wird schwanger, doch das Kind stirbt bei der Geburt (Nabelschnurstangulation). Georg, von der Erbschaft seiner verstorbenen Eltern als dilettierender Komponist lebend, träumt von einer Komponistenkarriere, kriegt aber nichts auf die Reihe (Opernpläne mit einem in Literatur dilettierenden Freund namens Heinrich, ein nicht vollendetes Quintett, ein paar in Salonkreisen gut angekommene Lieder). Als ihm ein Bekannter einen Hofkapellmeisterposten in der ostwestfälischen Kleinstadt Detmold vermittelt, zieht Georg dorthin, noch bevor sein verstorbener Sohn begraben ist. Zu Anna bricht er das Verhältnis nicht, doch der von ihr erhoffte Heiratsantrag kommt nie. Der Roman endet mit einem Kurzbesuch in Wien, bei dem er unbewusst wie auch bewusst mit dieser Stadt bricht: mit Anna und mit seinem Freund Heinrich. Die Kapellmeisterstelle bedeutet für ihn Freiheit. Der Leser weiß: Detmold ist das Ende seiner Träume und der Beginn einer biederen, von ihm immer befürchteten Karriere als Provinzmusiker.
Dass Schnitzler diesen von der Kritik eher nicht beachteten Roman mit Goethes Wilhelm Meister oder Thomas Manns Buddenbrooks gleichsetzt, ist bei diesem Setting fast Selbstironie. Ich habe keine Ahnung, ob er dies ernst gemeint hat. Georg ist eine jener jungen Männer der Oberschicht, die Schnitzler in seinen Meisterwerken in ihre Atome zerlegt hat. Hier im Roman ja auch.
Schnitzler, selbst von Beruf Arzt und ein einer Villa in einem Nobelviertel Wiens wohnend, siedelt diesen Roman - wie so oft in seinen Werken - in der Wiener Oberschicht an (niedriger Adel, reiche Bürger, hohe Beamte), die via Politik mit den Diskussionen "niedrigerer" Schichten konfrontiert ist: dem Deutschnationalismus und der Sozialdemokratie. Mit Theresa - Tochter aus einer absteigenden jüdischen Bürgerfamilie stammend, die aber immer wieder Liebesbeziehungen mit Männern aus der Oberschicht eingeht und die "typischen" Reiseziele abklappert (Lugano, norditalienische Seen, Vereser See, Florenz, Rom, Neapel, Sizilien), wird eine sozialdemokratische Agitatorin im Roman eingeführt, die wegen angeblicher Majestätsbeleidigung von Franz Joseph zwei Monate Haft absitzen muss.
Einen noch breiteren Raum nehmen jüdische Diskussionen ein: Assimilierung vs. Zionismus. Theresas Bruder Leo ist glühender Zionist, der auf einen jüdischen Staat in Palästina hofft, während Heinrich (der jüdische Librettist) diese Idee für hirnverbrannt hält und sich die Frage stellt, warum jemand, dessen Urahnen vor 2000 Jahren Palästina aus Palästina flohen, weniger österreichisch sein soll als ein christlicher Georg, dessen Ahnen vor 200 Jahren vom Rhein nach Österreich zogen.
Bei den manchmal etwas langatmigen Diskussionen über das Judentum in Wien kann ich heutzutage trotzdem einen historischen Aspekt nicht vom Tisch wischen. Der Roman spielt 1898/99, die Hauptfiguren sind Mitte 20, also etwa 1870-75 geboren, ihnen folgte fünfzehn bis zwanzig Jahre später eine Generation, die blutigst aufmischte. Ich sehe die jüdischen jungen Menschen in diesem Roman als 65-70-Jährige in Viehwaggons nach Südpolen zur Vernichtung gekarrt.
Schnitzler konnte dies nicht wissen, nicht mal den Ersten Weltkrieg in diesem Roman. Ein Satz des Zionisten Leo jedoch ließ mich beim Lesen erschaudern:
Weniger bekannt ist, dass der Meister der Beziehungsdramen und psychoanalytischen Erzählungen auch zwei Romane geschrieben hat. Dieser ist sein erster und wurde 1908 veröffentlicht. Er wurde in den Nullerjahren des 20. Jahrhunderts geschrieben, in Schnitzlers 40ern.
Hauptheld ist - wie so oft bei Schnitzler - ein junger Wiener niedrigen Adels, Georg von Wergenthin (27), der eine Beziehung zu einer Kleinbürgerlichen, Anna Rosner (23) hält. Anna wird schwanger, doch das Kind stirbt bei der Geburt (Nabelschnurstangulation). Georg, von der Erbschaft seiner verstorbenen Eltern als dilettierender Komponist lebend, träumt von einer Komponistenkarriere, kriegt aber nichts auf die Reihe (Opernpläne mit einem in Literatur dilettierenden Freund namens Heinrich, ein nicht vollendetes Quintett, ein paar in Salonkreisen gut angekommene Lieder). Als ihm ein Bekannter einen Hofkapellmeisterposten in der ostwestfälischen Kleinstadt Detmold vermittelt, zieht Georg dorthin, noch bevor sein verstorbener Sohn begraben ist. Zu Anna bricht er das Verhältnis nicht, doch der von ihr erhoffte Heiratsantrag kommt nie. Der Roman endet mit einem Kurzbesuch in Wien, bei dem er unbewusst wie auch bewusst mit dieser Stadt bricht: mit Anna und mit seinem Freund Heinrich. Die Kapellmeisterstelle bedeutet für ihn Freiheit. Der Leser weiß: Detmold ist das Ende seiner Träume und der Beginn einer biederen, von ihm immer befürchteten Karriere als Provinzmusiker.
Dass Schnitzler diesen von der Kritik eher nicht beachteten Roman mit Goethes Wilhelm Meister oder Thomas Manns Buddenbrooks gleichsetzt, ist bei diesem Setting fast Selbstironie. Ich habe keine Ahnung, ob er dies ernst gemeint hat. Georg ist eine jener jungen Männer der Oberschicht, die Schnitzler in seinen Meisterwerken in ihre Atome zerlegt hat. Hier im Roman ja auch.
Schnitzler, selbst von Beruf Arzt und ein einer Villa in einem Nobelviertel Wiens wohnend, siedelt diesen Roman - wie so oft in seinen Werken - in der Wiener Oberschicht an (niedriger Adel, reiche Bürger, hohe Beamte), die via Politik mit den Diskussionen "niedrigerer" Schichten konfrontiert ist: dem Deutschnationalismus und der Sozialdemokratie. Mit Theresa - Tochter aus einer absteigenden jüdischen Bürgerfamilie stammend, die aber immer wieder Liebesbeziehungen mit Männern aus der Oberschicht eingeht und die "typischen" Reiseziele abklappert (Lugano, norditalienische Seen, Vereser See, Florenz, Rom, Neapel, Sizilien), wird eine sozialdemokratische Agitatorin im Roman eingeführt, die wegen angeblicher Majestätsbeleidigung von Franz Joseph zwei Monate Haft absitzen muss.
Einen noch breiteren Raum nehmen jüdische Diskussionen ein: Assimilierung vs. Zionismus. Theresas Bruder Leo ist glühender Zionist, der auf einen jüdischen Staat in Palästina hofft, während Heinrich (der jüdische Librettist) diese Idee für hirnverbrannt hält und sich die Frage stellt, warum jemand, dessen Urahnen vor 2000 Jahren Palästina aus Palästina flohen, weniger österreichisch sein soll als ein christlicher Georg, dessen Ahnen vor 200 Jahren vom Rhein nach Österreich zogen.
Bei den manchmal etwas langatmigen Diskussionen über das Judentum in Wien kann ich heutzutage trotzdem einen historischen Aspekt nicht vom Tisch wischen. Der Roman spielt 1898/99, die Hauptfiguren sind Mitte 20, also etwa 1870-75 geboren, ihnen folgte fünfzehn bis zwanzig Jahre später eine Generation, die blutigst aufmischte. Ich sehe die jüdischen jungen Menschen in diesem Roman als 65-70-Jährige in Viehwaggons nach Südpolen zur Vernichtung gekarrt.
Schnitzler konnte dies nicht wissen, nicht mal den Ersten Weltkrieg in diesem Roman. Ein Satz des Zionisten Leo jedoch ließ mich beim Lesen erschaudern:
... aber wenn die Scheiterhaufen wieder angezündet werden ...?
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30.10.2020 um 00:43Gustave Flaubert - Bücherwahn
Diese kurze Kriminalnovelle wurde 1836 veröffentlicht, Flaubert war gerade 15 Jahre alt und legte eine unglaubliche Talentprobe ab.
Wie bereits im ersten Absatz erkenntlich, ist E.T.A. Hoffmann eines seiner großen Vorbilder, den etwa 30-jährigen Büchersammler Giaocomo aus Barcelona präsentiert er mit dessen Physiognomie. Den Charakter Giacomos als Büchersammler beschreibt Flaubert mit diesen Worten:
Da nach und nach Geschäftspartner versterben, darunter auch der Student aus Salamanca, wird Giacomo des Mordes angeklagt. Die Novelle endet im Gerichtssaal mit einem offenen Ende und einem einfühlenden Plädoyers seines Verteidigers.
Dass diese Kurznovelle eine Skizze geblieben ist und nicht in die Tiefen der Psychologie vordringt wie die Meisternovellen seines Vorbilds, sei einem 15-Jährigen nachgesehen. Der Text ist ein Schmuckstück.
Diese kurze Kriminalnovelle wurde 1836 veröffentlicht, Flaubert war gerade 15 Jahre alt und legte eine unglaubliche Talentprobe ab.
Wie bereits im ersten Absatz erkenntlich, ist E.T.A. Hoffmann eines seiner großen Vorbilder, den etwa 30-jährigen Büchersammler Giaocomo aus Barcelona präsentiert er mit dessen Physiognomie. Den Charakter Giacomos als Büchersammler beschreibt Flaubert mit diesen Worten:
Nein! nicht die Wissenschaft liebte er, sondern ihre Form und ihren Ausdruck. Er liebte ein Buch, weil es ein Buch war; er liebte seinen Geruch, seine Form, seinen Titel.Giacomo investiert all sein Geld in seine Büchersammlung, und das Unglück beginnt, als ein Student aus Salamanca ihm eine "Türkische Chronik" für sehr viel Geld abkauft, was sich im nachhinein herausstellt, weit unter dessen Wert. Das Unglück nimmt seinen Lauf, als ihm ein anderer Büchersammler namens Baptisto bei einer Auktion die erste und einzige Bibel in spanischer Sprache wegschnappt, weil Giacomo nicht mehr mitbieten kann. Als dessen Haus abbrennt, steigt Giacomo in das brennende Haus ein und rettet dieses Buch aus einem Geheimverschlag.
Da nach und nach Geschäftspartner versterben, darunter auch der Student aus Salamanca, wird Giacomo des Mordes angeklagt. Die Novelle endet im Gerichtssaal mit einem offenen Ende und einem einfühlenden Plädoyers seines Verteidigers.
Dass diese Kurznovelle eine Skizze geblieben ist und nicht in die Tiefen der Psychologie vordringt wie die Meisternovellen seines Vorbilds, sei einem 15-Jährigen nachgesehen. Der Text ist ein Schmuckstück.