Mary Shelley - Frankenstein oder Der moderne PrometheusImmer wieder beeindruckend, was die 19-jährige Mary Shelley 1816 in Genf während des "Jahres ohne Sommer" geschrieben hat, aber auch beinahe traurig, was für Schrottfilme auf Basis dieses Romans mehr als hundert Jahre danach gedreht wurden.
Es ist nicht nur die Auseinandersetzung mit der Frage, was Wissenschaft überhaupt moralisch verantworten kann, die diesen Roman prägt, sondern auch die Komposition. Es gibt keine Erzählfigur, es wird ausschließlich aus der Sicht der Figuren erzählt, was aber auch mit sich führt, dass sich in die jeweilige Person hineingedacht werden muss. In diesem Falle denkt sich die 19-jährige Shelley fast ausschließlich in männliche Protagonisten, mit Ausnahme der Briefe von Elisabeth.
Gleich zu Beginn des Romans der Cliffhanger, der dann von hundsmiserablen Nachfolgern ausgebreitet wird: Die Schöpfung Viktor Frankensteins verschwindet auf einem Hundeschlitten in der Arktis, was von dem Arktisforscher Robert Walton auf seinem Expeditionsschiff beobachtet wird. Ein wenig später wird Viktor Frankenstein mit seinem Hundeschlitten auf einer Packeisscholle aufgegriffen, und er erzählt nach einer Warnung, seinem wissenschaftlichen Drang ja nicht nachzugehen, da dies nur Unglück bringt.
Wenn das Studium, dem Sie sich widmen, die Tendenz zeitigt, Ihre Gefühlsbindungen zu schwächen und Ihren Sinn für jene schlichten Freuden zu zerstören, denen sich nie ein unrechtes Element beimischen kann, dann ist dieses Studium sicherlich unerlaubt, das heißt, es ziemt dem menschlichen Geist nicht. Würde diese Regel stets eingehalten, würde kein Mensch zulassen, daß irgendwelche Bestrebungen störend in seine familiären Bindungen eingreifen, dann wäre Griechenland nicht versklavt worden, hätte Caesar sein Land verschont, hätte man Amerika schrittweise entdeckt, und die Reiche von Mexiko und Peru wären nicht untergegangen.
Und an anderer Stelle wird die Verantwortung der Wissenschaft gegenüber der Menschheit hervorgehoben:
In einem Rausch wissenschaftlichen Wahnsinns schuf ich ein wirkliches Wesen, und meine Pflicht wäre es gewesen, ihm so viel Glück zukommen zu lassen, als in meinen Kräften stand. Das war eine Pflicht; aber eine andere stand diametral gegenüber. Die Pflicht meinen Mitmenschen gegenüber.
Frankenstein ist Shelleys Faust, dessen Hingabe zu alten Schriften von Cornelius Agrippa ihn mit Hilfe modernen wissenschaftlichen Wissen dazu führt, in Ingolstadt, wo er Student ist, einen künstlichen Menschen von überdimensionaler Größe und Kraft sowie erschreckender Hässlichkeit zu schaffen, den er aber bereits in der Nacht der Schöpfung vor Grauen verstößt. Auf seiner Flucht muss das Geschöpf erfahren, dass alle Menschen ihn nicht nur verabscheuen, sondern auch attackieren, was einen tiefen Hass in seinen Schöpfer Frankenstein gebiert. Da er aus einer Schrift herausfindet, wo dessen Familie wohnt, zieht er Richtung Genf und ermordet den kleinen Bruder Viktors. Nach dem Mord, für den ein Dienstmädchen hingerichtet wird, weil in ihre Tasche ein Medaillon gesteckt wird, das der Ermordete um den Hals trug, flieht das Geschöpf in die Gletscherwüste des Mont-Blanc-Gebiets.
Frankenstein, auf der Suche nach seinem Geschöpf, findet es dort und verspricht ihm, eine Gefährtin zu schaffen, doch bricht er sein Vorhaben, das er auf einer Orkney-Insel durchführen möchte, ab. Das Geschöpf ist nun gewillt, jede Person, die Viktor nahesteht zu töten. Dessen bester Freund wird in Irland ermordet, und schließlich tötet er Viktors Angetraute auf ihrer Hochzeitsreise in Evian. Die Verfolgungsjagd, die auf dem Arktisschiff mit dem (natürlichen) Tod Viktors endet, beginnt.
Aber die Handlung, ist nicht das Wesentliche, es sind die immer wieder eingeflochtenen Reflexionen, die - neben der Kompositionsweise und der Fanatasie - diesen Roman so wertvoll machen.
So ist das Bekenntnis zur Republik nicht nur kurz, sondern sehr eindringlich und anschaulich:
Die republikanischen Einrichtungen unseres Landes bringen einfachere und schönere Lebensformen mit sich, als man sie vielleicht in den Monarchien, die uns umgeben, kennt. Deshalb ist auch kein so großer Unterschied zwischen der wohlhabenden und der dienenden Klasse, und die letzteren sind deshalb, weil sie nicht als minderwertig gelten, feiner und moralischer als ihre in der gleichen Lage befindlichen Mitmenschen in anderen Ländern. Ein Dienstmädchen in Genf ist etwas wesentlich anderes als ein solches in Frankreich oder in England.
Oder wenn es um das Glück geht, wird es doppeldeutig, wenn Viktor sagt:
Wenn unsere Sinne sich lediglich auf Hunger, Durst und Liebe erstreckten, wären wir nahezu frei
Das ist genau das, was sein Geschöpf sich wünscht: Die Befriedigung basaler Bedürfnisse mit einer Gefährtin. Dann wäre es bereit, sich in den brasilianischen Urwald zurückzuziehen. Nur müsste Viktor ihm eben eine Gefährting schaffen, was er aber nicht tut. Ob Shelley eine ernste Überzeugung übermitteln will oder ob es ein ironisch gebrochenes Ziel ist, bleibt offen.
Aber was ist mit dem Geschöpf? Dieses lässt Shelley darüber reflektieren, wie eine ursprünglich gute Seele zu einem Mörder werden kann. Die Kernaussagen:
Aber wenn ich um mich sah, fand ich niemand, der mir glich. glich. Ich war also eine Abnormität, ein Ungeheuer, ein Schandfleck der Schöpfung, den alle Menschen flohen und von sich stießen. [...] Kein Vater hat meine Kinderjahre behütet, keine Mutter mir ihre Liebe und Zärtlichkeit geschenkt. [...] Gott bildete den Menschen in seiner Güte nach seinem eigenen Bilde; aber du gabst mir Antlitz und Gestalt, die nur ein erschreckendes Zerrbild deines Leibes waren. Satan selbst hat seine Genossen, die mit ihm leben; aber ich bin allein und verhaßt, wo man mich erblickt. [...] Unter den Millionen Menschen war nicht einer, auch nicht einer, der mir geholfen oder auch nur Mitleid mit mir gehabt hätte, und ich sollte gegen meine Feinde mild und gut sein? Nein! In diesem Augenblick erklärte ich dem ganzen verruchten Geschlecht Krieg bis aufs Messer, und besonders dem, der mich gebildet und an all dem unsäglichen Leid Schuld trug.
Damit lässt Shelley uns in die Seele eines Mörders blicken.
Wer einen unterhaltsamen Horror-Flick erwartet, ist mit diesem Roman nicht bedient. Wer aber wissen möchte, was hinter den vielen auf diesem Roman basierenden Horror-Flicks steht und sich darauf einlässt, was geschrieben ist, wird Freude finden. Der Untertitel weist den Weg.