Stefan Kühl - Ganz normale OrganisationenDer Bielefelder Soziologe Kühl legte vor einigen Jahren eine Studie vor, welche es sich zum Ziel setzte, die Motivation der Mitglieder des Hamburger Polizeibatallion 101, an der Tötung von Juden aktiv teilzunehmen. Im Raum Lublin wurden von dieser Einheit Zehntausende Juden ermordet.
Kühls Ausgangspunkt ist, dass Daniel Goldhagens Ansatz, dass die Einheit
Hitlers willige Vollstrecker, also zweckmotiviert waren, zu kurz greife, sondern die Handlungsmotivation wie in "normalen Organisationen" sich aus fünf Motivierungselementen zusammensetze:
1. Zweck und Ziel der Organisation (Goldhagens Ansatz)
2. Zwang
3. Kollegialität bzw. Kameradschaft
4. Geld bzw. materieller Vorteil
5. Attraktivität der Handlung (in diesem Fall Ausleben eines Sadismus)
Kernthese Kühls ist, dass die meisten Tötungen ausschließlich im Organisationszusammenhang des Polizeibatallions stattfanden und nur wenige Mitglieder auf eigene Faust durchs Ghetto streiften und wahllos Juden erschossen (Motivierungselement 5). Auch war die Bereicherung nicht Hauptmotivationsgrund, es gab keine Plünderungsbefehle, sie waren offiziell verboten, wenn aber auch durchgehend weggeschaut wurde, wenn sich Einzelne oder Gruppen von Ermordeten Wertgegenstände in die eigene Tasche steckten.
Wenn nun, wovon Kühl ausgeht, nicht die Mehrheit der Mitglieder des Batallions so weit von der NS-Doktrin, dass sämtliche Juden zu töten seien, überzeugt war, stellt sich die Frage: warum sie es taten. Kühl ist der Ansicht, dass durch Propaganda, Befehle, Verordnungen und Gesetze, welche die Tötungen rahmten, eine Indifferenzzone geschaffen worden ist, sodass die Mitglieder Befehle zu Massenerschießungen oder Tötung von nicht mobilen Greisen und Kindern während Räumungsaktionen als legitimen Teil ihrer polizeilichen Tätigkeit sahen bzw. die Befehle für legitim ansahen.
Für die Organisation hatte die Ausweitung der Indifferenzzone den Vorteil, dass eben nicht alle an den Tötungen beteiligten Polizisten von diesen persönlich überzeugt sein mussten, sondern sie nur als legitimen Teil ihrer Arbeit anerkennen mussten, solange es den Befehl dazu gab.
Dies ermöglichte es, die vorhandenen Zwangsmaßnahmen bei Befehlsverweigerung nicht auszuschöpfen, solange das Einsatzziel nicht gefährdet ist. So ist bezeugt, dass Mitglieder der Einheit, die nicht in der Lage waren, diese grausamen Tötungsbefehle durchzuführen, andere Aufgaben wie zum Beispiel die Raumsicherung durchführten, da immer ausreichend Polizisten vorhanden waren, die bereit waren, zu schießen.
Wenn die These, dass es ausreicht, eine Indifferenzzone in einer Organisation zu schaffen, um ihre Mitglieder dahin zu bringen, massenhaft zu töten, eine Erkenntnis ist, dann ist sie erschreckend, da keine "Bestialität" bei den Tötern zu Grunde liegen muss, sondern es ausreicht, das Töten als legitime, von einer Autorität befohlene Handlung innerhalb eines Aufgabenbereichs einer Organisation zu sehen.
Um zu erläutern, was unter dem Begriff Indifferenzzone zu verstehen ist, hier eine Definition von Univ.Prof Dr. Jürgen Weibler aus Hagen:
Ein Spektrum pauschal akzeptierter Verhaltensweisen von Vorgesetzen, in dem verschiedene Arten der zielorientierten Steuerung möglich sind. So lange sich Einflussversuche in diesem Rahmen bewegen, sind die Adressaten hiervon nicht notwendigerweise an näheren Begründungen interessiert und leisten bereitwillig Gefolgschaft (Gehorsam). Erzeugt wird dieser Effekt im Wesentlich durch das über Arbeitsverträge abgesicherte Direktionsrecht – also der Befugnis, Arbeitnehmern Anweisungen zu erteilen.
https://www.leadership-insiders.de/lexikon/indifferenzzone/
Wie sehr diese Indifferenzzone entwickelt war, zeigt Kühl daran, wie lange es in der Bundesrepublik brauchte, diese Tötungen juristisch überhaupt als Mord anzuerkennen, da sich geweigert wurde, einen rückwirkenden Tatbestand des "Verbrechens gegen die Menschlichkeit" einzuführen, wie es der Nürnberger Prozess der Alliierten tat. Juristen in der Bundesrepublik argumentierten lange, dass das Handeln der Töter keine Tat war, sie keine Täter waren, da sie, wenn im Organisationszusammenhang Tötungen durchgeführt wurden, sie im legalen Auftrag handelten und somit gegen kein Gesetz verstießen.
Ein nicht leicht zu lesendes Buch, auch aufgrund der vielen Fußnoten mit Ergänzungen und Literaturverweisen, aber eines, das zum Nachdenken anregt. Beeindruckend ist, dass praktisch sämtliche wissenschaftliche Literatur zum Holocaust reflektiert und in einem sehr langen Literturverzeichnis gelistet ist.
https://www.suhrkamp.de/buecher/ganz_normale_organisationen-stefan_kuehl_29730.htmlhttps://www.hsozkult.de/review/id/reb-22444?title=s-kuehl-ganz-normale-organisationenEin sehr hörenswerter Vortrag Kühls zu diesem Thema im
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Ganz normale Organisationen - Organisationssoziologische Analyse des Holocaust
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