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Seit 20 Jahren vermisst
Düsseldorf. Am 13. Februar 1996 trat Debbie Sassen durch die Hintertür der Henri-Dunant-Schule und verschwand.
Stefani Geilhausen
20 Jahre. Zeit, in der Kinder erwachsen werden. Ihren eigenen Weg finden. Schule, Ausbildung, Beruf, eine eigene Familie.
Es ist nicht sehr wahrscheinlich, dass Debbie Sassen diesen Weg gegangen ist. Sie war acht Jahre alt, als sie am 13. Februar 1996 nach dem Schwimmunterricht ihre rote Daunenjacke anzog, um zum Mittagessen zu Hause zu sein. Vom Schuleingang an der Wiesdorfer Straße bis in ihr Elternhaus sind es nicht einmal 1000 Meter. Irgendwo dort ist Debbie verschwunden. Und blieb es.
20 Jahre Ungewissheit - das ist eine Tortur, die kaum nachvollziehbar ist. Damals, in jenen ersten Tagen, als sie noch bei jedem Telefonklingeln und bei jedem Geräusch an der Tür voller panischer Hoffnung aufgesprungen sind, haben sich auch Debbies Eltern nicht vorstellen können, dass die eigentliche Hölle noch vor ihnen lag. Dass sie nicht enden würde, und dass ihr gemeinsames Leben sich auflösen würde, so wie Debbie sich in Luft aufgelöst zu haben scheint.
Es war der Dienstag vor Karneval. Zwei Stunden nach Schulschluss hatten Debbies Eltern die Polizei alarmiert. An jenem bitterkalten Nachmittag begann die bis heute größte Suchaktion der Düsseldorfer Polizei. Jeden Stein drehten die Beamten um, Taucher stiegen zweimal in den zugefrorenen See im Buga-Gelände. Eine Passantin hatte dort an jenem Dienstag Kinder auf dem Eis spielen sehen. Zeichner fertigen nach anderen Zeugenaussagen das Bild eines Mannes, der in einem beigefarbenen Auto an der Schule gewesen sein soll. Er wird nie gefunden. Wie Debbie.
"Es ist, als hätte sich ein Loch aufgetan und sie mit allem, was sie bei sich hatte, verschluckt", hat Dietmar Wixfort irgendwann frustriert gesagt. Er war Leiter der Sonderkommission Wersten, die sie bei der Polizei auch nach Monaten nicht "Mordkommission" nennen wollten, weil sie die Hoffnung nicht aufgeben. Weder ihr Schulranzen noch der Turnbeutel oder auch nur ein Teil ihrer auffallenden Kleidung ist je wieder aufgetaucht.
Wenn Debbies Mutter später darüber redete - und sie hat es wohl tausende Mal erzählt - dann war es, als sehe sie vor sich, was sie beschrieb. Wie sie ihrem Kind, das gerade wach geworden war, "Tschüs, mein Schatz" zugeflüstert hat, bevor sie zur Arbeit ging. Wie sie nach Hause kam und ihr Anita entgegenlief, ihre Älteste, die damals 15 war, und völlig aufgelöst gerufen hat: "Debbie ist nicht heimgekommen." Wie ihr Mann ins Haus kam, der losgegangen war, zur Schule und zurück und dann noch einmal den anderen Schulweg, den Debbie eigentlich nicht nahm, und wie sie zum ersten Mal diese allesfressende Angst gespürt hatten, die von da an bei ihnen bleiben sollte.
Es ist ein Horror-Film in Endlosschleife, und es gelingt ihnen nicht, ihn anzuhalten. Als sie endlich lernen, damit zu leben, hat die Ungewissheit sie längst auseinander gebracht.
Sie haben noch zwei Töchter bekommen. Blond und stupsnäsig wie Debbie krabbelten sie durch das Haus, in das ihre Schwester nicht zurückkehrte. Für ihre Liebe zu den beiden fühlte sich Debbies Mutter manchmal schuldig.
Einmal schien es, als habe die Ungewissheit ein Ende. Ein Brief war gekommen, in dem stand, dass Debbie tot auf dem Grund des Halterner Sees liege. Die Polizei sucht den See mit einem Großaufgebot ab - ergebnislos. Den Brief hat ein Theologiestudent geschrieben, der später verurteilt wurde, den Polizeieinsatz zu bezahlen. Was sein dummer Brief bei den Eltern auslöste, macht er nie wieder gut.
Debbies Mutter versucht, dem brennenden Schmerz in ihrer Seele mit Alkohol und Beruhigungsmitteln zu entkommen. Ihr Mann, der Debbies Stiefvater ist, seit das Kind zu krabbeln begann, versucht, mit seiner Familie zu leben. Debbies Mutter versucht zu sterben
Doch dann ist es Anita, die an dem Verlust der Schwester und der Verzweiflung zerbricht, die statt Debbies Platz eingenommen hatte. Im Spätsommer 1999 erhängt sich die 18-Jährige. Um sie kann Debbies Mutter trauern. Um Debbie hat sie immer nur Angst.
Heute lebt Debbies Mutter an der Ostsee. Sie hat ihre beiden jüngsten Töchter, die nun auch schon fast erwachsen sind, beim Vater gelassen und versucht, der Erinnerung zu entkommen. Es gelinge ihr nicht besonders gut, sagte sie vor einigen Jahren in einem Interview. Und dass sie noch ein bisschen Hoffnung hat. Eine Hoffnung, die im Lauf der Jahre so monströs geworden ist wie die Ungewissheit. Wie sollte sie ihrem Kind begegnen, das sie als Achtjährige zuletzt geküsst hat, und das im Mai 29. Geburtstag hat?
Debbies Vater hat seine Töchter, die ihre Schwestern nicht kennenlernen konnten, alleine großgezogen. Er hat sein Leben aufgeteilt, in das, das er heute führt und in eines, in dem es Debbie und Anita und die Mutter seiner Kinder gab.
Polizist Dietmar Wixfort ist versetzt und befördert worden, ermittelt heute in Neuss. Die Ermittlungsakte hat er nicht mitgenommen. Er hat sie im Kopf. Wenn er von einer noch so vagen Spur hört, geht er dem sofort nach. Das wird er wohl für immer tun.
In Debbies Schule spricht man nicht mehr über das Mädchen, das durch den Hinterausgang ging und verschwand. 20 Jahre ist das nun her, und einige der Kinder, die damals mit Debbie beim Schwimmen waren, sind heute selbst Eltern. Sie werden es wohl nie vergessen.
Quelle: RP