Heute wurde auf Spiegel Online der Artikel veröffentlicht. Für alle die ihn noch nicht gelesen haben.
Die zwei Leben des Martin N.
Von Michael Fröhlingsdorf und Antje Windmann
Fast zwei Jahrzehnte jagte die Soko "Dennis" einen pädophilen Serienmörder. Warum es so schwierig war, den Mann mit der Maske zu finden, das offenbart die Ermittlungsakte zum Fall Martin N. Nun wurde Anklage erhoben.
Vor ein paar Stunden haben sie ihn verhaftet, nun sitzt er da, im Raum 207 des Zentralen Kriminaldienstes in Verden. Der mutmaßliche Serienmörder, den sie zwei Jahrzehnte lang gesucht hatten; ein Pädophiler, der nachts maskiert in Kinderzimmer und Jugendheime eindrang; einer der gefährlichsten Männer in der Kriminalgeschichte der Bundesrepublik.
Sie nannten ihn "schwarzer Mann".
Martin N. misst 1,93 Meter, er hat eine Pigmentstörung, seine blonden Haare sind scheckig, seine Augen blaugrau. Er hat als Sozialpädagoge gearbeitet, musste schon viele Konfliktgespräche führen.
Die Ermittler konfrontieren den 40-Jährigen mit Fakten, die ihn belasten, mit Fotos, mit E-Mails. Martin N. schwitzt und bleibt doch gelassen. Er und pädophil? Seine Phantasien, entgegnet er, bezögen sich auf Männer im Alter eines der vernehmenden Kripo-Beamten. Das Dunkle in sich zu verbergen, hat N. über Jahre perfektioniert.
Martin N. verweigert die Aussage
Die Beamten stehen unter enormem Druck. Sie haben Indizien, aber kein Hautschüppchen, keinen Fingerabdruck, nichts, um ihm eindeutig die Taten zuzuschreiben.
Ohne sein Geständnis müssen sie ihn bald gehen lassen. Und am Ende des Tages verweigert Martin N. die Aussage.
Die Nacht verbringt er in einer Zelle. In kurzen Abständen sieht man nach ihm.
Am nächsten Tag erzählt Martin N., er habe eine schlimme Nacht gehabt, Tausende Menschen hätten ihn in seinen Träumen besucht. Er sagt, er habe Angst vor dem, was da auf ihn zukomme, seine Familie, die Menschen, die er liebhabe. Er beginnt zu weinen.
Einer der Ermittler sieht den Moment gekommen - fragt ihn, ob man nun über die Fälle reden wolle. Und ob er der schwarze Mann sei. Ja, antwortet Martin N. Dann erzählt er, wie er seine Opfer missbraucht und getötet hat.
Seitenlang zeugen die Vernehmungsprotokolle, die dem SPIEGEL vorliegen, von den Stunden, in denen sich N. als der unheimliche Kinderschänder enttarnt, der über Jahre Eltern in der ganzen Republik ängstigte. Der Mütter und Väter dazu trieb, bei der Polizei nachzufragen, ob sie ihre Kinder mit gutem Gewissen auf Klassenfahrt nach Norddeutschland schicken könnten.
Martin N. hat sein Geständnis am 14. April dieses Jahres abgelegt . Den ersten Mord, den er zugegeben hat, beging er 1992. Fast zwei Jahrzehnte war N. unerkannt unterwegs.
Und so stellt sich die Frage, wie jemand über eine so lange Zeit sein Unwesen treiben konnte. Wieso er zwar als Sexualstraftäter in Ermittlungsakten geführt, aber nicht als der schwarze Mann überführt wurde. Wie er sich dem Zugriff der Polizei entziehen konnte, obwohl sich doch Hunderte Beamte in Sonderkommissionen an der Jagd nach dem schwarzen Mann beteiligten.
Nun wurde Anklage gegen Martin N. erhoben. "Die Mordmerkmale lauten: Heimtücke, niedrige Beweggründe und Verdeckung einer anderen Straftat", sagt Kai Thomas Breas, Pressesprecher der Staatsanwaltschaft Stade.
Im Prozess, der vermutlich im Oktober beginnt, sollen jene Taten verhandelt werden, die N. bislang gestanden hat:
Der Mord an Stefan Jahr, 1992.
Der Mord an Dennis Rostel, 1995.
Der Mord an Dennis Klein, 2001.
Und rund 40 Fälle von sexuellem Missbrauch, sofern sie nicht verjährt sind.
Die Ermittler gehen davon aus, dass N. noch mehr Jungen getötet hat. Konkret schreiben sie ihm einen Mord in Frankreich und einen in den Niederlanden zu. Doch N. bestreitet diese Taten.
Wer die Chronologie der fast 20 Jahre dauernden Fahndung mit den Aussagen von Martin N. im vergangenen April wie Teile eines Puzzles verzahnt, erhält das Bild eines Mannes, der so ganz anders handelt als die meisten Serientäter. Der nicht spontan und regional begrenzt agierte, sondern über lange Zeit planvoll und dreist. Und der heute wahrscheinlich immer noch frei wäre, wenn da nicht diese E-Mail und dieses Foto gewesen wären.
Im Sommer 2010, neun Jahre nach dem Mord an Dennis Klein, meldet sich ein Soldat bei der Soko "Dennis" in Verden. Er sei lange im Ausland gewesen, habe nun per Zufall von der Tat erfahren, gibt der Zeuge an. In der Nacht, als der Neunjährige aus dem Schullandheim im niedersächsischen Wulsbüttel verschwand, will er in einem Waldstück einen Mann in einem hellen Opel Kombi gesehen haben. Auf dem Rücksitz habe ein verängstigter Junge gesessen.
Erfahren im Umgang mit Kindern
Rund 8000 Spuren und Hinweise hatte die Soko "Dennis" allein nach dem Mord an Dennis Klein verfolgt. Die Aussage des Soldaten veranlasst die Polizei zu einer Pressekonferenz. Mehrere TV-Sender übertragen live, auf dem Podium sitzen Soko-Chef Martin Erftenbeck und der Profiler Alexander Horn.
Bei ihrer Täterbeschreibung zeichnen sie das Bild eines sozial angepassten, in der Gesellschaft integrierten Mannes, dem man Missbrauch und Mord nie zutrauen würde. Einer, der nicht wie ein Monster daherkommt, sondern wie der nette Kerl von nebenan . Einer, so Horn, der "doppelte Buchführung" betreibt.
Der Profiler Horn, kurze graue Haare, akkurater Bart, ist Leiter der Operativen Fallanalyse Bayern. Soko-Chef Erftenbeck hat ihn 1997 kontaktiert. Horn und sein Team haben seitdem jede Tat des mysteriösen Maskenmannes rekonstruiert, sie in Einzelentscheidungen zerlegt, Rückschlüsse auf seine Tätermerkmale gezogen: männlicher Einzeltäter, Bezug zur Region Bremen, sozial integriert, intelligent und, vor allem, erfahren im Umgang mit Kindern.
Vielleicht war es dieses Detail, das in einem seiner Opfer eine Erinnerung bewegte. Jedenfalls erreichte noch am Tag der Pressekonferenz, um 22.28 Uhr, die Soko "Dennis" eine E-Mail. Der Absender schrieb, in einer Sommernacht 1995 in seinem Elternhaus missbraucht worden zu sein. Zuvor habe er auf einer Ferienfreizeit einem Betreuer aufmalen müssen, wie sein Zuhause aussehe, in welchem Zimmer er schlafe.
Der Mann heiße Martin.
Schnell kennen die Ermittler seinen Nachnamen. Und plötzlich lassen sich die losen Enden einer schier endlosen Polizeirecherche zusammenknüpfen.
Die Flensburger Kollegen, zuständig für den Mordfall Dennis Rostel, 8, finden heraus, dass unter dem Namen des Betreuers im Juli 1995 in Dänemark ein Ferienhaus gemietet worden sei: 13 Kilometer vom Fundort des toten Dennis Rostel entfernt.
Ein Blick in den Polizeicomputer ergibt, dass Martin N. schon mehrfach wegen sexuellen Missbrauchs von Jungen aufgefallen ist, 1994 in Bremen und 2004 in Hamburg. Beide Verfahren wurden eingestellt, letzteres gegen Zahlung einer Geldbuße.
"Die Bilder wurden weder näher ausgewertet noch bearbeitet"
2006 war N. sogar zu einer Bewährungsstrafe verurteilt worden: Er hatte einen Sozialpädagogen aus Berlin erpresst, 20.000 Euro zu zahlen - andernfalls werde er dessen kinderpornografisches Material der Staatsanwaltschaft zuspielen.
Die Erpressung flog auf, und im Zuge der Ermittlungen fand die Polizei in N.s Wohnung auf seinem PC Tausende Bilder von unbekleideten Jungen. Weil der letzte Zugriff darauf lange zurücklag, wurde das Verfahren wegen Verjährung eingestellt, und die Fotos kamen, auf DVDs gesichert, in die Asservatenkammer der Hamburger Polizei.
Der Bezug zu den Morden und der Vielzahl von Missbrauchsfällen sei nicht herzustellen gewesen, sagt Wilhelm Möllers, Pressesprecher der Hamburger Staatsanwaltschaft. Er räumt jedoch gleichzeitig ein: "Die Bilder wurden weder näher ausgewertet noch bearbeitet."
Mit den DVDs verschwand jedoch eines der Bilder, die den Ermittlern der Soko "Dennis" Jahre später den Weg zu Martin N. weisen sollten.
Besonders dieses eine Foto.
Es entstand im Sommer 1999 im Schullandheim Wulsbüttel. Laut Akten wurde es draußen bereits hell, als ein maskierter Mann in einen Schlafsaal schlich. Der Saal grenzte an jenen Raum, aus dem zwei Jahre später Dennis Klein entführt werden sollte.
Marco kaute Fingernägel, weinte, zitterte
Der Maskenmann weckte Marco B., 8, trug den schlaftrunkenen Jungen eine Etage tiefer, zwang ihn, vor einer Treppe nackt zu posieren, fotografierte ihn, berührte ihn. Und versuchte, ihm ein rotes Führgeschirr für Kleinkinder anzulegen, das an der Wand hing. Dann drohte er dem Jungen, ihn umzubringen, sollte er je über das Geschehene sprechen.
Zurück bei den Eltern, kaute Marco Fingernägel, weinte, zitterte spätabends. Erst viel später vertraute er sich seinen Eltern an. Sie gingen zur Polizei.
März 2011. Die Beamten der Soko Dennis haben sich die Foto-DVDs aus der Hamburger Asservatenkammer schicken lassen. Sie studieren jedes Bild. Ein Kommissar entdeckt das Foto eines Jungen vor einer Treppe.
Und nun ist das Glück auf der Seite der Ermittler: Der Kripo-Mann ist derselbe, der nach der Missbrauchsanzeige von Marcos Eltern mit dem Jungen eine Phantomzeichnung erstellt hatte und den Tatort kannte. Er erinnert sich an die Treppe, vergleicht die Bilder mit den Tatortfotos der alten Akte.
Die Anzahl der Stufen. Stimmt.
Die Handläufe der Treppe. Stimmt.
Die Lichtschalter. Stimmt.
Auch Marco, inzwischen erwachsen, erkennt sich auf den Bildern, zweifelsfrei. Auf einem der Fotos deutet er auf einen Gegenstand im Hintergrund. Das rote Führgeschirr.
Die neuen Erkenntnisse reichen für einen richterlichen Beschluss, den Tatverdächtigen mit allen Möglichkeiten der Technik zu observieren. Martin N. ahnt davon nichts. Der Pädagoge und ehemalige Jugendbetreuer lebt in einer Zwei-Zimmer-Wohnung im ersten Stock einer gelbgeklinkerten Doppelhaushälfte im Hamburger Stadtteil Harburg.
N. wurde in Bremen geboren. Die ersten zwei Schuljahre verbrachte er auf einer Förderschule, weil er beim Sprechen Buchstaben verwechselte. Nach dem Abitur mit der Note 1,5 studierte er Mathematik und Physik auf Lehramt, bestand mit Auszeichnung. Und fuhr nebenbei Taxi in Bremen.
N. wurde verbeamtet, doch dann brach er das Referendariat ab, arbeitete in Kindertageseinrichtungen, wurde als Familienbetreuer eingesetzt. Er bekam sogar ein Pflegekind, einen Jungen, wie er es sich bei seinem Antrag gewünscht hatte.
"Zu keinem Zeitpunkt gab Hinweise auf Fehlverhalten"
Im Herbst 2000 zog Martin N. nach Hamburg. Mit einem gefälschten Sozialpädagogik-Diplom hatte er sich bei der Evangelischen Jugendhilfe Friedenshort beworben. Seine Kollegen beschreiben ihn noch heute als freundlich, kompetent. "Durch sein Engagement war er bei den betreuten Jugendlichen sehr beliebt", teilt sein ehemaliger Arbeitgeber mit. "Zu keinem Zeitpunkt gab es für uns Anhaltspunkte oder Hinweise auf Fehlverhalten oder Auffälligkeiten."
Anfang 2008 wurde er dennoch fristlos entlassen. Die Staatsanwaltschaft Hamburg hatte die Jugendhilfe über das Ermittlungsverfahren gegen N. wegen Kinderpornografie informiert, das nach der Erpressungssache eingeleitet worden war.
Augenscheinlich war es das einzige Mal, dass sich die beiden Leben des Martin N. kreuzten. Dass seine doppelte Buchführung aufzufliegen drohte. Sich an seinen Arbeitsplätzen nichts zuschulden kommen zu lassen war die Strategie des Pädophilen. Um jeden Verdacht weit von sich zu lenken, präsentierte er sich konsequent als sozialer, integrer Mensch.
Welche Triebe in ihm lodern, erfahren die Ermittler aus den Überwachungsprotokollen seiner Internetaktivitäten. Bei Ebay ersteigert er Kinderkleidung: Fußballtrikots, Neoprenanzüge, Muskelshirts, eine schwarze Radlerhose in Größe 116. Er schaut sich Bilder von Messdienern und Fußballmannschaften an, D- und E-Jugend, also 10- bis 13-Jährigen. N. sucht seine früheren Opfer im Netz, klickt ihre Fotos an.
Immer am Rockzipfel der Mutter gehangen
In einem Forum kommentiert er unter dem Nicknamen "Endokriminologe": "Dass Kinder ein Sexualleben haben und dieses sogar ausleben, scheint in den Köpfen der meisten Menschen absolut undenkbar zu sein." Und fragt: "Soll wirklich alles, was laut Gesetz als sexueller Missbrauch von Kindern gilt, ohne Verjährung für immer verfolgbar sein?" Für ihn ist es ein "archaischer Wunsch nach Rache".
Auch dieser Beitrag interessiert ihn: "US-Polizei warnt vor pedobaer - das Maskottchen der Pädophilen."
Bei einer anderen Internetadresse gibt er eine SM-Anzeige auf. Martin N. sucht jemanden für den devoten Part.
Aus der Telefonüberwachung erfahren die Ermittler auch Familiäres: Seine Mutter ist traurig, dass er sich lange nicht gemeldet hat. Sie nennt ihn "Nickchen".
Die ehemalige Krankenschwester hat Martin und seine Brüder allein in einer Sozialwohnung in Bremen-Schönebeck großgezogen. Der Martin, erinnert sich ihr ehemaliger Lebensgefährte, habe immer an ihrem Rockzipfel gehangen.
Ihr Sohn sei eher verschlossen gewesen, wird die Rentnerin nach seiner Verhaftung aussagen. Und dass sie ihn mal gefragt habe, ob er homosexuell sei. Er habe das bestritten, woraufhin sie überlegte, ob er asexuell sei. Weil er nie eine Beziehung hatte, weder mit einem Mann noch mit einer Frau.
Abgabe einer freiwilligen Speichelprobe abgelehnt
Aus einem Telefonat erfahren die Ermittler im März, dass der Berliner Norman L., verurteilt wegen Verbreitung von Kinderpornografie, Martin N. am ersten Aprilwochenende besuchen will - mit einem neunjährigen Jungen. Angeblich zum Besuch eines Bundesligaspiels des FC St. Pauli.
Die Ermittler müssen nun handeln. Sie bitten Berliner Kollegen, L. zu besuchen, ihn zu fragen, in welchem Verhältnis er zu dem Jungen stehe. L. redet sich raus.
Kaum sind die Polizisten weg, ruft L. seinen Kumpel Martin N. an. Die Strategie der Verdener Ermittler geht auf: Die beiden Männer einigen sich, dass der Junge besser nicht mitkomme. L. vermutet, eine besorgte Mutter habe ihn angezeigt.
Soko-Chef Erftenbeck glaubt, genug für einen Haftbefehl gegen Martin N. in der Hand zu haben. Auf 16 Seiten listet er für die Staatsanwaltschaft die Verdachtsmomente auf. Darunter sind N.s Aussagen aus dem Jahr 2007.
Damals war N. im Zuge einer Rasterfahndung ins Visier der Soko "Dennis" geraten. Ein Fahnder besuchte ihn in seiner Hamburger Wohnung. Fragte ihn, ob er als Kinderbetreuer gearbeitet habe, ob er Vinderup und Hvidemose, zwei Orte nahe des dänischen Limfjords, kenne. N. verneinte beides, präsentierte sich glaubwürdig, wenngleich er die Abgabe einer freiwilligen Speichelprobe ablehnte .
N. ist überrascht, leistet keinen Widerstand
Aber nun, drei Jahre später, haben die Ermittler Indizien wie die Ferienhausbuchung und das Foto. Jetzt sind sie sicher, dass N. der schwarze Mann ist.
Der zuständige Richter am Amtsgericht Stade lehnt den Haftbefehl jedoch ab. Der Serienzusammenhang sei "nicht hinreichend gesichert". Es sei immer noch möglich, dass die Taten von unterschiedlichen Personen begangen worden seien. Die Ermittler bekommen lediglich einen Durchsuchungsbeschluss und die Erlaubnis zur Entnahme seiner Speichelprobe.
Am 13. April, laut Polizeibericht um 6.40 Uhr, fängt ein Mobiles Einsatzkommando Martin N. vor dessen Wohnung ab. Er ist auf dem Weg zum TÜV Nord, wo er Arbeitslose schult. Er ist überrascht, leistet keinen Widerstand.
N. willigt ein, Soko-Chef Erftenbeck und Profiler Horn zum Zentralen Kriminaldienst nach Verden zu begleiten. Während der Fahrt hält er seinen Kopf aus dem Seitenfenster. Sein Körper krampft, er muss sich übergeben.
Zur selben Zeit betreten Beamte in Einmalanzügen mit Fuß- und Mundschutz N.s Wohnung. Sie finden eine Schreckschusswaffe, Patronen, Kabelbinder, Handschellen, eine 18-zügige Peitsche. Und ein HSV-Trikot, Größe 140 bis 152.
Auf dem Dachboden entdecken sie in einem Ordner den Antrag an das Bremer Amt für Soziales, wonach N. ein Pflegekind haben will. 1996 vertraute ihm die Behörde den zwölfjährigen Christian A. an. Dessen Mutter war Alkoholikerin, der Vater saß im Gefängnis wegen sexuellen Missbrauchs an Christians Halbschwestern.
Laut "Hilfeplan" vom 26. November 1996 sieht die Behörde in N. für den Jungen "eine zuverlässige Beziehungsperson", die ihm bestenfalls "Lebensweisen und Strukturen vermittelt, die ihn zu einer gesunden und selbständigen Persönlichkeit wachsen lassen", verspricht sich aber mindestens den "Aufbau einer tragfähigen Beziehung zwischen Christian und Herrn N.".
Der Junge sei wach geworden und "völlig freiwillig" mitgegangen
Martin N. sei wie ein "zweiter Vater" für ihn gewesen, sagte Christian A. den Ermittlern rückblickend. Er habe ihn aber nie angefasst.
Doppelte Buchführung eben.
Als Martin N. im Raum 207 des Zentralen Kriminaldienstes seine Lebensbeichte ablegt, verniedlicht er seine Taten als Dinge, die er "angestellt" habe. Sein erstes Mordopfer, den Internatsschüler Stefan Jahr, fand er "süß". Er habe den 13-Jährigen in der Nacht zum 31. März 1992 einfach mitgenommen. Doch als ihm klargeworden sei, dass der Junge vermutlich das Kennzeichen seines roten Fiat Panda gesehen hatte, habe er ihn umgebracht und "verbuddelt". Wochen später fanden Spaziergänger Stefans Leiche.
Auch die Sache im Zeltlager Selker Noor bei Schleswig soll ganz harmlos angefangen haben. In der Nacht zum 24. Juli 1995 habe er in ein Zelt geguckt, und da habe der Dennis Rostel gelegen. Der Junge sei wach geworden und "völlig freiwillig" mitgegangen, behauptet N.
Er sei mit dem Jungen nach Dänemark gefahren, habe tagelang mit ihm wie Vater und Sohn gelebt, ein Gefühl gehabt, "wie Dennis' Papa zu sein". Dann sei ihm aber auch hier klargeworden, dass er den Jungen nicht einfach so zurückbringen könne. Seine Leiche will er mit einer "ollen Schaufel" im Sand vergraben haben. Ein Urlauber fand den toten Jungen.
Dennis Klein dagegen will Martin N. am 5. September 2001 bereits im Schullandheim Wulsbüttel getötet haben. Begründung: Der Junge habe angefangen zu schreien. Ein Pilzsammler entdeckte den toten Jungen in einem Gebüsch.
Gefiel ihm ein Kind, sei er hinterhergegangen
Wie sein Gesichtsausdruck ist, wenn er die Geschehnisse schildert, was seine Körpersprache verrät, das geht aus den Protokollen der Vernehmung nicht hervor. Nur, dass er manchmal weint, schluchzt. Einmal winselt er, dass er Jungs nun mal liebe. Und ja eigentlich immer nur das Beste für andere wolle.
Die beiden Männer, die ihn in diesen Stunden erleben, Soko-Chef Erftenbeck und Profiler Horn, lehnen jede Stellungnahme ab. "Sollte der Beschuldigte sein Geständnis widerrufen oder gar nichts mehr sagen, sind sie wichtige Zeugen im Prozess", erläutert der Sprecher der Stader Staatsanwaltschaft.
Auch die Missbrauchstaten räumt N. ein, darunter jene an dem Jungen auf dem Foto vor der Treppe und jene an dem Jungen, der die E-Mail schrieb.
Habe er den Drang verspürt, sei er jede Woche losgefahren. Gefiel ihm ein Kind, sei er hinterhergegangen, um zu schauen, wo es wohnt. Als Betreuer auf den Ferienfreizeiten habe er automatisch die Adresslisten gehabt.
Manche Schlüssel hätten unter den Fußmatten gelegen. Einmal habe ein Junge sein Rad abgestellt, und der Schlüssel hing noch dran. So sei er einfach in die Häuser hineinspaziert, erst mit medizinischem Mundschutz getarnt, später mit schwarzer Sturmhaube. Und dann stand er da, nachts, an dem Ort, wo sich Kinder am sichersten fühlen: zu Hause, in ihrem Zimmer.
Im August wird der Münchner Psychiater Norbert Nedopil den 40-Jährigen begutachten. Die Einschätzung des Professors wird dazu beitragen, ob N. die Höchststrafe nach deutschem Recht bekommt: lebenslange Freiheitsstrafe bei Feststellung der besonderen Schwere der Schuld; anschließend Sicherungsverwahrung.
Für die Ermittler um Soko-Chef Erftenbeck ist die Arbeit noch lange nicht abgeschlossen. So fragen sie sich, hinter welchen ungeklärten Vermisstenfällen N. noch stecken könnte. Wo hat er sich wann aufgehalten? Was hat er getrieben, als er in Südamerika umherreiste? Und vor allem: Womit könnte man die Morde be- oder widerlegen, die seine Handschrift tragen, die Martin N. aber bestreitet?
Der Mord an Nicky Verstappen, 11, der im Sommer 1998 aus einem holländischen Zeltlager verschwand und in einer Fichtenschonung gefunden wurde - wenige Tage später wurden zwei Jungen in einem französischen Feriencamp missbraucht.
Oder der Mord an dem zehnjährigen Jonathan Coulum. Er verschwand 2004 aus demselben Schülerlager in Frankreich. Seine Leiche wurde nach sechs Wochen in einem Teich gefunden.
Laut der Personalakte seines damaligen Arbeitgebers hatte Martin N. zur Tatzeit Urlaub.
Quelle (mit Bildserie)
http://www.spiegel.de/spiegel/0,1518,775125,00.html (Archiv-Version vom 21.07.2011)