fischersfritzi schrieb:Vielleicht mag der geschätzte
@Rick_Blaine mal dazu Auskunft geben, ob das gängige Praxis ist oder eher selten so gehandhabt wird.
Wenn mich die sehr geschätzte Fritzi so lieb fragt, gerne
:)Hier haben wir einen Fall, an dem Wirklichkeit und Theorie mal wieder etwas aufeinanderprallen. Schauen wir uns mal die Theorie an: Im Strafprozess geht es nur um eine einzige Sache: die Wahrheit. Diese soll herausgefunden werden, damit dann, wenn sie bekannt ist, daraus Strafe oder auch nicht usw. folgen können und die Rechtsordnung wieder hergesetllt ist. Und es geht nicht nur um ein bisschen Wahrheit, sondern um die ganze, volle, ungeschönte Wahrheit. Alle, die am Verfahren beteiligt sind, sollen helfen, sie herauszufinden: die Richter freilich, auch der Staatsanwalt, die Zeugen, der Angeklagte, die Opfer, und der Verteidiger - alle. Sie alle haben erst einmal nur diese Rolle: helfen bei der Wahrheitsfindung.
Dann hat die Rechtsordnung allerdings ein paar Dinge geregelt, welche aus anderen Gründen notwendig waren: dazu gehört das Recht des Angeklagten zu schweigen, dafür aber die Pflicht der meisten Zeugen auszusagen - mit wenigen Ausnahmen - und so weiter. Wir kennen das.
Ein fairer Prozess im Sinne der Rechtsordnung ist einer, wo beide Seiten alle möglichen Informationen haben und niemand hinterrücks überrascht werden soll. Daher haben zum Beispiel die Verteidiger das Recht auf Akteneinsicht, sie dürfen sich anschauen, was Polizei und Staatsanwaltschaft so zusammengetragen haben.
Die Verteidiger, das haben hier einige, die immer fleissig gegen den Kollegen Fülscher schreiben, wohl nicht begriffen, haben in Deutschland sogar einen besonderen Status: sie gelten als "Organe der Rechtspflege," das heisst, sie gehören unbedingt zum funktionierenden System. Symbolisch wird das dadurch deutlich, dass sie wie Staatsanwalt und Richter eine Robe tragen, eine "Amtskleidung." Wichtiger ist, dass sich dadurch besondere Rechte ergeben, wie die Akteneinsicht, das Recht auf Vertraulichkeit usw. Vor allem aber: dadurch wird deutlich, dass der Verteidiger der Rechtsordnung dient und nicht bedingungslos dem Angeklagten. Das wird auch meist nicht begriffen.
So. Und nun sollte in der Theorie also jede Seite fleissig mitwirken, die Wahrheit zu finden. Dazu gehört dann eben auch, dass der Angeklagte, bzw. sein Verteidiger auch selbst ermitteln darf und soll, worum es eigentlich geht. Und dazu gehört freilich, dass er auch Zeugen befragen darf. Selbst das Opfer hat in diesem Stadium rechtlich ja keinen anderen Status als den eines Zeugen, und darf selbstverständlich befragt werden. Wie gesagt: die Idealvorstellung ist, dass sich so die Wahrheit herausstellt.
Allerdings gilt auch: Ein Zeuge, genau wie auch das Opfer, muss nur im Gericht, nur bei Befragung durch das Gericht aussagen (sofern es keine besonderen Aussageverweigerungsrechte gibt). Eine Befragung durch die Polizei, den Staatsanwalt, den Verteidiger und durch die neugierige Nachbarin Lieschen Müller kann ein Zeuge jederzeit verweigern.
Und hier kommen wir nun zur Realität: ein Verbechensopfer hat verständlicherweise oft keine Lust sich irgendwie mit dem vermuteten Täter oder seinen Verteidigern auseinanderzusetzen. Denn, obwohl die Rechtsordnung ja davon ausgeht, dass auch ein Beschuldigter oder gar Angeklagter bis zum Urteil als unschuldig zu betrachten ist, begreifen viele Leute das ganz und gar nicht, wie man ja auch hier immer wieder sieht. Und lehnen es komplett ab, "dem" da auch noch zu helfen.
Daher, ja, der Verteidiger hat selbstverständlich das Recht, auch ein Opfer oder jeden anderen Zeugen auch bereits im Vorverfahren zu befragen, genauso wie diese das Recht haben, eine Antwort zu verweigern. Bei komplexen Sachverhalten sollte der Verteidiger zumindest versuchen, eine solche Befragung zu erreichen, damit ihm nicht vorgeworfen werden kann, er habe das versäumt. Eine tatsächliche Antwort zu erhalten, ist dagegen nicht sehr wahrscheinlich. Da ist die Akteneinsicht meist ergiebiger, denn da stehen freilich dann auch die Aussagen der Zeugen vor der Polizei etc. drin.
In diesem Zusammenhang hier: also wieder einmal ein Sturm im Wasserglas.