Making a Murderer - der Fall Steven Avery/Brendan Dassey
27.02.2019 um 12:08An dieser Stelle lohnt es sich natürlich, das Thema der vernichteten Beweismittel, der Knochen aus der städtischen Grube, mit dem sich der Circuit Court wird auseinandersetzen müssen, doch noch einmal genau zu beleuchten. Werfen wir zunächst einen Blick zurück, was da in der gesetzlichen Regelung tatsächlich steht, die hier verletzt werden soll:
https://law.justia.com/codes/wisconsin/2012/chapter-968/section-968.205/
Dort heißt es unter Punkt b):
“(b) Except as provided in par. (c), if physical evidence that is in the possession of the laboratories includes any biological material that was collected in connection with a criminal investigation that resulted in a criminal conviction, a delinquency adjudication, or commitment under s. 971.17 or 980.06 and the biological material is from a victim of the offense that was the subject of the criminal investigation or may reasonably be used to incriminate or exculpate any person for the offense, the laboratories shall preserve the physical evidence until every person in custody as a result of the conviction, adjudication, or commitment has reached his or her discharge date.”
“(b) Vorbehaltlich der Bestimmungen in Par. (c) wenn physische Beweise, die sich im Besitz der Laboratorien befinden, biologisches Material umfassen, das im Zusammenhang mit strafrechtlichen Ermittlungen erhoben wurde und zu einer strafrechtlichen Verurteilung, einer Delinquenzentscheidung oder einer Festlegung nach s 971.17 oder 980.06 geführt hat, und das biologische Material von einem Opfer der Straftat stammt, die Gegenstand der strafrechtlichen Ermittlungen war, ODER vernünftigerweise dazu verwendet werden kann, eine Person für die Straftat zu belasten oder zu entlasten, müssen die Laboratorien die physischen Beweise aufbewahren, bis sich jede Person die sich als Folge der Verurteilung, Entscheidung oder Zumessung in Haft befindet, den Entlassungszeitpunkt erreicht hat.“
Heißt: Damit der Staat die Verpflichtung hat, das Beweismaterial aufzubewahren, muss eins von zwei Dingen gegeben sein. Das Material muss vom Opfer stammen ODER einen vernunftmäßig anzunehmenden Beweiswert (Be- oder Entlastung) haben. Letzteres ist hier gegeben, und von Ersterem ging die Staatsanwaltschaft offenbar selbst aus.
Hinzu kommt, dass aufgrund der besonderen Kriterien die Wisconsin für die Aufbewahrung von DNA beweisen aufgestellt hat (https://law.justia.com/codes/wisconsin/2012/chapter-968/section-968.205/), der Staat DNA Beweise grundsätzlich in ihrer Natur als möglicherweise be- oder entlastend definiert hat.
Die konkrete mögliche Entlastung ergibt sich in diesem Fall daraus, dass das Urteil gegen Avery in der massivsten Weise darauf fußt, dass die Leiche des Opfers auf Averys Grundstück gefunden wurde, nur dort und nirgendwo anders; ferner dass das Opfer zu Avery fuhr und niemals wieder weg. Kratz hat im Prozess vielfach explizit in Abrede gestellt, dass irgendwelche Teile des Verbrechens außerhalb des Schrottplatzes stattgefunden hätten oder hätten haben können, Leslie Eisenberg stellte dezidiert in Abrede, dass die Knochen jemals bewegt worden seien oder auch nur hätten bewegt worden sein können.
Kratz hat mehrfach darauf rekurriert, dass der Umstand, dass Leichenreste nur auf Averys Grundstück gefunden wurden, „den ganzen Fall“ darstelle. Dieser Umstand, so er stimmte, wiese nur auf einen, einen einzigen Täter: Avery. Dass sich die gesamte Tat nur auf Averys Grundstück abgespielt habe, war das Grundfundament der Anklage und des Urteils, mit dem Kratz z.B. die Jury auch dazu gebracht hat, darüber hinwegzusehen, dass die Garage und das Schlafzimmer als Tatorte forensisch ausscheiden.
Zudem: Die Knochen in der städtischen Grube waren zeitnah mit Halbachs Überresten gefunden worden, in relativer örtlicher Nähe und waren als menschlich, weiblich und mit Schnittspuren klassifiziert worden. Da bei den Funden auf Averys Grundstück 60% des Knochenmaterials fehlten, ist ein Zusammenhang logisch anzunehmen.
Wenn diese Knochen von Halbach stammen sollten (und wie wir sehen werden, reicht das rechtlich aus), dann ergibt sich nicht nur ein völlig anderer, noch weitgehend unbekannter Tatablauf, der auch die Täterschaft anderer Personen außer Avery eröffnet, sondern auch eine andere, vielsagende Reihenfolge (!) der Abläufe.
Gerne wird vergessen, dass die Knochen aus der städtischen Grube Schnittspuren aufweisen, laut Eisenberg konsistent mit der Klinge einer Handsäge, die kleineren Funde in Averys Grube jedoch NICHT. Das bedeutet, wenn die Kochen von ein und demselben Körper stammen sollten, muss dieser Körper in der städtischen Grube zerteilt worden sein und DANN verbrannt, nicht andersherum – und das verlagert die Ermordung aus Averys Schrottplatz heraus. Und das lässt nicht nur Raum für einen anderen Täter, sondern führt zum logischen Problem, weshalb, um alles in der Welt, Avery diese Knochen danach noch zurück auf den Schrottplatz hinter sein eigenes Haus hätte legen sollen, und somit letztlich zu einem Täter der nicht Avery ist und diese Leichenteile absichtlich dort hingebracht hat.
Mehr noch: Dadurch dass die Staatsanwaltschaft die Überreste nicht einfach so vernichtet hat, sondern Familie Halbach zum Beerdigen überließ, somit zum Ausdruck brachte, dass sie als sicher annahm (im Gegensatz zu dem was sie im Prozess behauptet hatte), dass die Knochen von Halbach stammen, räumte sie die Relevanz für den Fall selbst unmissverständlich ein.
Demnach nahm sie an, musste sie annehmen, dass sie Beweiswert hatten. Demnach hätte sie wissen müssen, dass sie die Knochen unter 968.205(2) niemals hätte herausgeben dürfen.
Ein weiterer Beleg hierfür ist, dass ein Stück aus diesen Funden aus der städtischen Grube, der Beckenknochen (Item 8675), von dem man jetzt weiß, dass er ebenfalls an die Halbachs übergeben worden war, 2017 mit Zustimmung (!) der StA und des Gerichts, einer weiteren Untersuchung durch Eisenberg und den Gutachter der Verteidigung unterzogen werden sollte – eben weil alle Parteien hinsichtlich eines Beweiswerts gleicher Ansicht waren. Zu dieser Untersuchung kam es, wie wir wissen, durch Sutkiewiczs ablehnendes Urteil nicht mehr.
Die Anforderungen für Beweisrelevanz unter 968.205(2) sind eindeutig erfüllt. Die StA wusste, dass das Knochenmaterial vernünftigerweise dazu hätte verwendet werden können, „eine Person für die Straftat zu belasten oder zu entlasten“
Weiter legt die entsprechende gesetzliche Regelung fest, unter welchen Umständen DNA Beweismittel die im Rahmen einer Ermittlung gesammelt wurden, überhaupt nur herausgegeben werden dürfen. ALLE müssen erfüllt sein, besonders diese:
(unter 968.205(3)(a))
„Das Department sendet eine Mitteilung über die Absicht, die Beweise zu vernichten, an alle Personen, die sich aufgrund von strafrechtlicher Verurteilung, Delinquenzbeschluss oder Festlegung in Haft befinden, und entweder an den für jede inhaftierte Person zuständigen Rechtsanwalt oder den staatlichen Pflichtverteidiger.“
Gegen diese Anforderung unter der die legale Herausgabe der Knochen möglich gewesen wäre, wurde ebenfalls verstoßen. Man kann daher nicht argumentieren, dass diese Herausgabe nicht gegen Statut 968.205 verstoßen hat, weil nicht nur a) das Knochenmaterial um das es geht, nach dem genannten Statut grundsätzlich nicht hätte herausgegeben werden dürfen, sondern auch b) gegen die Maßgaben unter denen Material, das nicht darunter fällt, hätte herausgegeben werden dürfen, ebenfalls verstoßen worden ist.
Ob dieser Gesetzesverstoß verfahrensrelevant ist, d.h. zu rechtlichen Folgen führt, untersuchen die Gerichte in Wisconsin anhand zweier Tests, die sich aus entsprechenden Supreme Court Urteilen herleiten – dem Trombotta Test und den Youngblood Test. Welcher Test jeweils zur Einschätzung genutzt wird, erklärte z.B. das Gericht in der Entscheidung United States v. Bohl:
„Wir müssen zunächst feststellen, ob Trombetta oder Youngblood unsere Analyse der Verfahrensanforderung [der Angeklagten] regelt. Diese Untersuchung dreht sich um die Bedeutung der zerstörten Materialien. Um Trombetta anführen zu können, muss ein Beklagter nachweisen, dass die Regierung Beweise vernichtet hat, die einen "ersichtlichen" entlastenden Wert besitzen. Um den Youngblood-Test auszulösen, muss jedoch lediglich gezeigt werden, dass die Regierung „möglicherweise nützliche Beweise“ vernichtet hat.
Das Gericht in Youngblood definierte „möglicherweise nützliche Beweise“ als Beweise, „über die nicht mehr gesagt werden kann als, dass wenn sie Tests unterzogen hätten werden können, deren Ergebnisse den Angeklagten hätten entlasten KÖNNEN“.
Da unsere Überprüfung der Unterlagen zu dem Schluss kommt, dass die [verlorenen Beweise] nur potenziell nützliche Beweise für die Verteidigung der [Angeklagten] enthielten, wenden wir die Regel von Youngblood anstelle von Trombetta an.“
In unserem Fall ist der Youngblood – Test zutreffend (Mehr dazu hier: https://openscholarship.wustl.edu/cgi/viewcontent.cgi?article=1118&context=law_lawreview), und auf ihn hat sich Zellner auch berufen. Es handelt sich ja bei den Knochen um „Beweise, „über die nicht mehr gesagt werden kann als, dass wenn sie Tests unterzogen hätten werden können, deren Ergebnisse den Angeklagten hätten entlasten können“.
Der Youngblood-Test (aus dem Verfahren Younblood vs. Arizona) ist zweistufig, wie wir z.B auch am Vorgehen des Berufungsgerichts in der Rechtssache State vs Parker feststellen können:
„Die ordnungsgemäßen Verfahrensrechte eines Beklagten werden durch die Vernichtung von Beweismitteln verletzt (1), wenn der vernichtete Beweis "ersichtlich entlastend" ist und der Beklagte auf andere vernünftige Weise keine vergleichbaren Beweise erhalten könnte; ODER (2) wenn die Beweise MÖGLICHERWEISE (POTENTIELL) entlastend waren UND in BÖSER ABSICHT vernichtet wurden.“
Dass die Knochen „möglicherweise (potentiell) entlastend“ waren, ist weiter oben bereits erschlossen. Die Frage ist somit nur noch ob die Beweise in „gutem Glauben“ oder „böser Absicht“ zerstört wurden.
„Böse Absicht“ (Bad Faith) wird dabei an zwei wesentlichen Kriterien festgemacht, die beide nachgewiesen sein müssen
a) Die Beamten waren sich bewusst, dass die Beweise, die sie nicht aufbewahrten, potentiell entlastend oder nützlich für die
Verteidigung gewesen wären
UND
b) die Beamten handelten mit offiziellem Vorsatz (official animus) oder unternahmen den bewussten Versuch die potentiell
entlastenden Beweise zu unterdrücken.
„Böse Absicht“ ist daher normalerweise sehr schwer zu belegen, nicht so in diesem Fall, denn…
1. Die StA hat selektiv nur jene Knochen aus der städtischen Grube zerstört, die als menschlich klassifiziert worden waren. Das
restliche, irrelevante Material, findet sich nach wie vor in den Asservaten.
2. Die StA muss sich der Illegalität der Herausgabe nach Statut 968.205(2) bewusst gewesen sein, da sie sie ja der Familie des Opfers
als Knochen des Opfers ausgehändigt hat.
3. Die StA hat durch die Übergabe selbst zum Ausdruck gebracht, dass sie ihre eigene Tattheorie für falsch hält.
4. Die StA hat zu mindestens einem der ausgehändigten Kochen, Item 8675 (der Beckenknochen) falsche Angaben gemacht; Item
8675 wurde intern als „ausschließlich menschlich“ und offiziell als „nicht menschlich“ (!) geführt – die interne Einstufung wurde 14
Jahre vor der Verteidigung geheim gehalten; die Übergabe von 8675 wurde selbst intern nie dokumentiert.
5. Die StA hat Steven Averys damalige Rechtsanwältin nicht über die Herausgabe in Kenntnis gesetzt, obschon es rechtlich
vorgeschrieben war, obwohl er sich damals in der Berufung befand, so dass sie ihre 90-tägige Einspruchsfrist gegen die Herausgabe
nicht wahrnehmen konnte.
6. Die StA hat Steven Averys damalige Rechtsanwältin mit einem gefälschten chain-of-custody Dokument getäuscht und die Übergabe
dadurch verschleiert.
Die Manipulation ging so weit, dass nicht nur die Übergabe nicht darin eingetragen war, sondern man führte die Nummerierung
auch mit einem fiktiven Eintrag weiter (der im authentischen Original, das Zellner später erhielt, gar nicht vorhanden ist, dort
findet sich unter der Nummer eine andere Eintragung) um die Vollständigkeit des Dokuments vorzutäuschen.
Aus der bewussten Verheimlichung lässt sich nicht nur offizieller Vorsatz ableiten, sondern auch, dass die StA sich der Illegalität der Übergabe der Knochen völlig bewusst war, und mittelbar auch, dass sie wusste dass das Material unter 968.205(2) fiel. „Böse Absicht“ liegt also unzweifelhaft vor.
Wir haben es hier also, Im Sinne des Youngblood Tests, mit Beweismaterial zu tun, dass MÖGLICHERWEISE (POTENTIELL) entlastend war UND in BÖSER ABSICHT vernichtet wurde.
Fazit: Die Staatsanwaltschaft hat gegen die Gesetze von Wisconsin, Statut 968.205(2) und 968.205 (3), verstoßen und damit Steven Averys ordnungsgemäße Verfahrensrechte gemäß Youngblood verletzt.
https://law.justia.com/codes/wisconsin/2012/chapter-968/section-968.205/
Dort heißt es unter Punkt b):
“(b) Except as provided in par. (c), if physical evidence that is in the possession of the laboratories includes any biological material that was collected in connection with a criminal investigation that resulted in a criminal conviction, a delinquency adjudication, or commitment under s. 971.17 or 980.06 and the biological material is from a victim of the offense that was the subject of the criminal investigation or may reasonably be used to incriminate or exculpate any person for the offense, the laboratories shall preserve the physical evidence until every person in custody as a result of the conviction, adjudication, or commitment has reached his or her discharge date.”
“(b) Vorbehaltlich der Bestimmungen in Par. (c) wenn physische Beweise, die sich im Besitz der Laboratorien befinden, biologisches Material umfassen, das im Zusammenhang mit strafrechtlichen Ermittlungen erhoben wurde und zu einer strafrechtlichen Verurteilung, einer Delinquenzentscheidung oder einer Festlegung nach s 971.17 oder 980.06 geführt hat, und das biologische Material von einem Opfer der Straftat stammt, die Gegenstand der strafrechtlichen Ermittlungen war, ODER vernünftigerweise dazu verwendet werden kann, eine Person für die Straftat zu belasten oder zu entlasten, müssen die Laboratorien die physischen Beweise aufbewahren, bis sich jede Person die sich als Folge der Verurteilung, Entscheidung oder Zumessung in Haft befindet, den Entlassungszeitpunkt erreicht hat.“
Heißt: Damit der Staat die Verpflichtung hat, das Beweismaterial aufzubewahren, muss eins von zwei Dingen gegeben sein. Das Material muss vom Opfer stammen ODER einen vernunftmäßig anzunehmenden Beweiswert (Be- oder Entlastung) haben. Letzteres ist hier gegeben, und von Ersterem ging die Staatsanwaltschaft offenbar selbst aus.
Hinzu kommt, dass aufgrund der besonderen Kriterien die Wisconsin für die Aufbewahrung von DNA beweisen aufgestellt hat (https://law.justia.com/codes/wisconsin/2012/chapter-968/section-968.205/), der Staat DNA Beweise grundsätzlich in ihrer Natur als möglicherweise be- oder entlastend definiert hat.
Die konkrete mögliche Entlastung ergibt sich in diesem Fall daraus, dass das Urteil gegen Avery in der massivsten Weise darauf fußt, dass die Leiche des Opfers auf Averys Grundstück gefunden wurde, nur dort und nirgendwo anders; ferner dass das Opfer zu Avery fuhr und niemals wieder weg. Kratz hat im Prozess vielfach explizit in Abrede gestellt, dass irgendwelche Teile des Verbrechens außerhalb des Schrottplatzes stattgefunden hätten oder hätten haben können, Leslie Eisenberg stellte dezidiert in Abrede, dass die Knochen jemals bewegt worden seien oder auch nur hätten bewegt worden sein können.
Kratz hat mehrfach darauf rekurriert, dass der Umstand, dass Leichenreste nur auf Averys Grundstück gefunden wurden, „den ganzen Fall“ darstelle. Dieser Umstand, so er stimmte, wiese nur auf einen, einen einzigen Täter: Avery. Dass sich die gesamte Tat nur auf Averys Grundstück abgespielt habe, war das Grundfundament der Anklage und des Urteils, mit dem Kratz z.B. die Jury auch dazu gebracht hat, darüber hinwegzusehen, dass die Garage und das Schlafzimmer als Tatorte forensisch ausscheiden.
Zudem: Die Knochen in der städtischen Grube waren zeitnah mit Halbachs Überresten gefunden worden, in relativer örtlicher Nähe und waren als menschlich, weiblich und mit Schnittspuren klassifiziert worden. Da bei den Funden auf Averys Grundstück 60% des Knochenmaterials fehlten, ist ein Zusammenhang logisch anzunehmen.
Wenn diese Knochen von Halbach stammen sollten (und wie wir sehen werden, reicht das rechtlich aus), dann ergibt sich nicht nur ein völlig anderer, noch weitgehend unbekannter Tatablauf, der auch die Täterschaft anderer Personen außer Avery eröffnet, sondern auch eine andere, vielsagende Reihenfolge (!) der Abläufe.
Gerne wird vergessen, dass die Knochen aus der städtischen Grube Schnittspuren aufweisen, laut Eisenberg konsistent mit der Klinge einer Handsäge, die kleineren Funde in Averys Grube jedoch NICHT. Das bedeutet, wenn die Kochen von ein und demselben Körper stammen sollten, muss dieser Körper in der städtischen Grube zerteilt worden sein und DANN verbrannt, nicht andersherum – und das verlagert die Ermordung aus Averys Schrottplatz heraus. Und das lässt nicht nur Raum für einen anderen Täter, sondern führt zum logischen Problem, weshalb, um alles in der Welt, Avery diese Knochen danach noch zurück auf den Schrottplatz hinter sein eigenes Haus hätte legen sollen, und somit letztlich zu einem Täter der nicht Avery ist und diese Leichenteile absichtlich dort hingebracht hat.
Mehr noch: Dadurch dass die Staatsanwaltschaft die Überreste nicht einfach so vernichtet hat, sondern Familie Halbach zum Beerdigen überließ, somit zum Ausdruck brachte, dass sie als sicher annahm (im Gegensatz zu dem was sie im Prozess behauptet hatte), dass die Knochen von Halbach stammen, räumte sie die Relevanz für den Fall selbst unmissverständlich ein.
Demnach nahm sie an, musste sie annehmen, dass sie Beweiswert hatten. Demnach hätte sie wissen müssen, dass sie die Knochen unter 968.205(2) niemals hätte herausgeben dürfen.
Ein weiterer Beleg hierfür ist, dass ein Stück aus diesen Funden aus der städtischen Grube, der Beckenknochen (Item 8675), von dem man jetzt weiß, dass er ebenfalls an die Halbachs übergeben worden war, 2017 mit Zustimmung (!) der StA und des Gerichts, einer weiteren Untersuchung durch Eisenberg und den Gutachter der Verteidigung unterzogen werden sollte – eben weil alle Parteien hinsichtlich eines Beweiswerts gleicher Ansicht waren. Zu dieser Untersuchung kam es, wie wir wissen, durch Sutkiewiczs ablehnendes Urteil nicht mehr.
Die Anforderungen für Beweisrelevanz unter 968.205(2) sind eindeutig erfüllt. Die StA wusste, dass das Knochenmaterial vernünftigerweise dazu hätte verwendet werden können, „eine Person für die Straftat zu belasten oder zu entlasten“
Weiter legt die entsprechende gesetzliche Regelung fest, unter welchen Umständen DNA Beweismittel die im Rahmen einer Ermittlung gesammelt wurden, überhaupt nur herausgegeben werden dürfen. ALLE müssen erfüllt sein, besonders diese:
(unter 968.205(3)(a))
„Das Department sendet eine Mitteilung über die Absicht, die Beweise zu vernichten, an alle Personen, die sich aufgrund von strafrechtlicher Verurteilung, Delinquenzbeschluss oder Festlegung in Haft befinden, und entweder an den für jede inhaftierte Person zuständigen Rechtsanwalt oder den staatlichen Pflichtverteidiger.“
Gegen diese Anforderung unter der die legale Herausgabe der Knochen möglich gewesen wäre, wurde ebenfalls verstoßen. Man kann daher nicht argumentieren, dass diese Herausgabe nicht gegen Statut 968.205 verstoßen hat, weil nicht nur a) das Knochenmaterial um das es geht, nach dem genannten Statut grundsätzlich nicht hätte herausgegeben werden dürfen, sondern auch b) gegen die Maßgaben unter denen Material, das nicht darunter fällt, hätte herausgegeben werden dürfen, ebenfalls verstoßen worden ist.
Ob dieser Gesetzesverstoß verfahrensrelevant ist, d.h. zu rechtlichen Folgen führt, untersuchen die Gerichte in Wisconsin anhand zweier Tests, die sich aus entsprechenden Supreme Court Urteilen herleiten – dem Trombotta Test und den Youngblood Test. Welcher Test jeweils zur Einschätzung genutzt wird, erklärte z.B. das Gericht in der Entscheidung United States v. Bohl:
„Wir müssen zunächst feststellen, ob Trombetta oder Youngblood unsere Analyse der Verfahrensanforderung [der Angeklagten] regelt. Diese Untersuchung dreht sich um die Bedeutung der zerstörten Materialien. Um Trombetta anführen zu können, muss ein Beklagter nachweisen, dass die Regierung Beweise vernichtet hat, die einen "ersichtlichen" entlastenden Wert besitzen. Um den Youngblood-Test auszulösen, muss jedoch lediglich gezeigt werden, dass die Regierung „möglicherweise nützliche Beweise“ vernichtet hat.
Das Gericht in Youngblood definierte „möglicherweise nützliche Beweise“ als Beweise, „über die nicht mehr gesagt werden kann als, dass wenn sie Tests unterzogen hätten werden können, deren Ergebnisse den Angeklagten hätten entlasten KÖNNEN“.
Da unsere Überprüfung der Unterlagen zu dem Schluss kommt, dass die [verlorenen Beweise] nur potenziell nützliche Beweise für die Verteidigung der [Angeklagten] enthielten, wenden wir die Regel von Youngblood anstelle von Trombetta an.“
In unserem Fall ist der Youngblood – Test zutreffend (Mehr dazu hier: https://openscholarship.wustl.edu/cgi/viewcontent.cgi?article=1118&context=law_lawreview), und auf ihn hat sich Zellner auch berufen. Es handelt sich ja bei den Knochen um „Beweise, „über die nicht mehr gesagt werden kann als, dass wenn sie Tests unterzogen hätten werden können, deren Ergebnisse den Angeklagten hätten entlasten können“.
Der Youngblood-Test (aus dem Verfahren Younblood vs. Arizona) ist zweistufig, wie wir z.B auch am Vorgehen des Berufungsgerichts in der Rechtssache State vs Parker feststellen können:
„Die ordnungsgemäßen Verfahrensrechte eines Beklagten werden durch die Vernichtung von Beweismitteln verletzt (1), wenn der vernichtete Beweis "ersichtlich entlastend" ist und der Beklagte auf andere vernünftige Weise keine vergleichbaren Beweise erhalten könnte; ODER (2) wenn die Beweise MÖGLICHERWEISE (POTENTIELL) entlastend waren UND in BÖSER ABSICHT vernichtet wurden.“
Dass die Knochen „möglicherweise (potentiell) entlastend“ waren, ist weiter oben bereits erschlossen. Die Frage ist somit nur noch ob die Beweise in „gutem Glauben“ oder „böser Absicht“ zerstört wurden.
„Böse Absicht“ (Bad Faith) wird dabei an zwei wesentlichen Kriterien festgemacht, die beide nachgewiesen sein müssen
a) Die Beamten waren sich bewusst, dass die Beweise, die sie nicht aufbewahrten, potentiell entlastend oder nützlich für die
Verteidigung gewesen wären
UND
b) die Beamten handelten mit offiziellem Vorsatz (official animus) oder unternahmen den bewussten Versuch die potentiell
entlastenden Beweise zu unterdrücken.
„Böse Absicht“ ist daher normalerweise sehr schwer zu belegen, nicht so in diesem Fall, denn…
1. Die StA hat selektiv nur jene Knochen aus der städtischen Grube zerstört, die als menschlich klassifiziert worden waren. Das
restliche, irrelevante Material, findet sich nach wie vor in den Asservaten.
2. Die StA muss sich der Illegalität der Herausgabe nach Statut 968.205(2) bewusst gewesen sein, da sie sie ja der Familie des Opfers
als Knochen des Opfers ausgehändigt hat.
3. Die StA hat durch die Übergabe selbst zum Ausdruck gebracht, dass sie ihre eigene Tattheorie für falsch hält.
4. Die StA hat zu mindestens einem der ausgehändigten Kochen, Item 8675 (der Beckenknochen) falsche Angaben gemacht; Item
8675 wurde intern als „ausschließlich menschlich“ und offiziell als „nicht menschlich“ (!) geführt – die interne Einstufung wurde 14
Jahre vor der Verteidigung geheim gehalten; die Übergabe von 8675 wurde selbst intern nie dokumentiert.
5. Die StA hat Steven Averys damalige Rechtsanwältin nicht über die Herausgabe in Kenntnis gesetzt, obschon es rechtlich
vorgeschrieben war, obwohl er sich damals in der Berufung befand, so dass sie ihre 90-tägige Einspruchsfrist gegen die Herausgabe
nicht wahrnehmen konnte.
6. Die StA hat Steven Averys damalige Rechtsanwältin mit einem gefälschten chain-of-custody Dokument getäuscht und die Übergabe
dadurch verschleiert.
Die Manipulation ging so weit, dass nicht nur die Übergabe nicht darin eingetragen war, sondern man führte die Nummerierung
auch mit einem fiktiven Eintrag weiter (der im authentischen Original, das Zellner später erhielt, gar nicht vorhanden ist, dort
findet sich unter der Nummer eine andere Eintragung) um die Vollständigkeit des Dokuments vorzutäuschen.
Aus der bewussten Verheimlichung lässt sich nicht nur offizieller Vorsatz ableiten, sondern auch, dass die StA sich der Illegalität der Übergabe der Knochen völlig bewusst war, und mittelbar auch, dass sie wusste dass das Material unter 968.205(2) fiel. „Böse Absicht“ liegt also unzweifelhaft vor.
Wir haben es hier also, Im Sinne des Youngblood Tests, mit Beweismaterial zu tun, dass MÖGLICHERWEISE (POTENTIELL) entlastend war UND in BÖSER ABSICHT vernichtet wurde.
Fazit: Die Staatsanwaltschaft hat gegen die Gesetze von Wisconsin, Statut 968.205(2) und 968.205 (3), verstoßen und damit Steven Averys ordnungsgemäße Verfahrensrechte gemäß Youngblood verletzt.