Making a Murderer - der Fall Steven Avery/Brendan Dassey
19.02.2019 um 04:33Millali schrieb:Making a Murderer - der Fall Steven Avery/Brendan DasseyDas ist ein guter Moment, einmal an das grundsätzliche Problem zu erinnern, bevor wir uns hier in Einzelheiten wissenschaftlicher Gutachten begeben, die wir vermutlich alle nicht verifizieren koennen.
gestern um 02:09
Rick_Blaine schrieb:
Ihr bleibt dabei am Ende nur eine Theorie, in welcher entweder böse Polizeibeamten oder einer ihrer übrigen Verdächtigen (sie wechselt diese ja während der Verfahrensdauer), aufwändig sich die Spuren angeeignet haben (Zahnbürste etc.) und an den entsprechenden Stellen angebracht haben.
Böse Polizeibeamte aus zwei unterschiedlichen Orten (Colborn & Lenk featuring Wiegert vom Nachbarort, eventuell auch noch mit Fassbender vom FBI) sowie Bobby als echtem Täter und perfektem Mörder, Tadych als willfährigem Gehilfen seines Stiefsohnes und dann auch noch der Exfreund des Opfers, der vermutlich niemanden von allen Beteiligten kennt, aber dem korrupten Colborn zuarbeitet. Das ist der Hauptpunkt, wo ich das Gefühl habe: Das kann man nicht glauben. Sechs bis sieben teilweise völlig unterschiedliche Akteure, die teils unabhängig voneinander zufällig auf ein Ziel hinarbeiten, während alle auf einen Mann hindeutenden Beweise einen vermeintlich Unschuldigen treffen sollen, welcher als einziger die Wahrheit sagt.
Es gibt zwei grosse Theorien in diesem Fall.
Die erste ist die Theorie der Anklage:
Avery verabredet sich mit Halbach auf seinem Grundstück, tagsüber. Er nimmt mehrfach Kontakt mit ihr auf, oft dabei mit unterdrückter Telefonnummer. Er gibt später durchaus zu, dass Halbach zur verabredeten Zeit auf seinem Grundstück gewesen ist, das braucht also nicht mehr hinterfragt werden. Im Verlauf des Nachmittags hat Avery Halbach angegriffen und getoetet. Er versucht die Spuren seiner Tat, vor allem die sterblichen Überreste des Opfers und ihr Fahrzeug, zu vernichten bzw. bis zur Vernichtung zu verbergen. Den Koerper des Opfers versucht er zu verbrennen. Das Fahrzeug des Opfers versteckt er zunächst auf seinem Grundstück, was nicht unbedingt dumm ist, denn es steht dort unter hunderten anderer Fahrzeuge. Ausserdem besitzt er eine Fahrzeugpresse und die notwendige Expertise, diese zu bedienen.
Weiterhin besitzt er eine Schusswaffe und hat diese eventuell für die Tat benutzt. Er hat allerdings Spuren hinterlassen.
Er hatte eindeutig die Gelegenheit, die Tat zu begehen, das Opfer kam zu ihm auf das Grundstück, er war zu der Zeit allein, er kann sich auf dem weitläufigen Grundstück relativ unbeobachtet bewegen, genauso wie in der näheren Umgebung, er kennt sich aus. Koerperlich ist er der jungen Frau sicherlich überlegen, zumal er noch das Überraschungsmoment auf seiner Seite hat. Er hatte Zeit und Gelegenheit die Tat vorzubereiten, denn er hat den Termin gemacht.
Ein Motiv ist juristisch nicht notwendig, aber die Anklage nimmt eine sexuelle Motivation an. Avery ist in der Vergangenheit schon negativ gegenüber Frauen aufgefallen, wenngleich er die Tat, für die er einmal verurteilt wurde, nicht begangen hat.
Zur Theorie der Anklage passen nun einige Indizien, deren Existenz kaum bestritten werden kann. Die Verteidigung interpretiert sie jedoch teilweise ganz anders:
1. Er hat den Termin mit Teresa Halbach gemacht
2. Er gibt zu, dass sie zum ausgehandelten Termin auf seinem Grundstück gewesen ist, und dass er zur fraglichen Zeit allein gewesen ist.
3. Halbachs Telefondaten zeigen, dass es mehrere Kontakte zwischen ihm und ihr gab und dass sie zur fraglichen Zeit am fraglichen Ort gewesen ist.
4. Halbachs Fahrzeug wird auf Averys Grundstück gefunden.
5. An Halbachs Fahrzeug werden mehrere Spuren gefunden, die eindeutig Avery zugeschrieben werden können:
a. Seine DNA am Motorhaubenverschluss
b. Sein Blut am Zündschloss
6. Es wird Blut des Opfers im rückwärtigen Bereich des Fahrzeugs gefunden.
7. Der Fahrzeugschlüssel wird in seinem Trailer gefunden
8. Sein Blut wird am Schlüssel gefunden
9. Eine Gewehrkugel mit DNA des Opfers wird in seiner Garage gefunden
10. Es werden Spuren einer intensiven Reinigung in der Garage gefunden
11. Im "burn pit" werden Knochen des Opfers gefunden.
So. Diese Spuren ergeben ein Tatbild, das ohne gedankliche Verrenkungen und vor allem ohne auf dritte Personen, die irgendwie beteiligt sein müssen, schlüssig ist: man kann daraus schlussfolgern, dass er
1. Teresa Halbach auf sein Grundstück gelockt hat
2. Sie ermordet hat - sie ist nachweislich tot -
3. Versucht hat, ihren Körper dort zu verbrennen
4. Ihr Fahrzeug dort bewegt hat.
5. Ihr Fahrzeug dort versteckt hat
Nicht zweifelsfrei erwiesen, aber naheliegend, und vor allem immer noch ohne logische Aporien ist weiterhin die Annahme, dass er zumindest einen Schuss auf sie abgefeuert hat und vor hatte, das Fahrzeug zu vernichten.
Aus weiterhin vorhandenen Spuren kann man schlussfolgern, dass er
6. Eventuell ihre Leiche in ihrem Fahrzeug noch zu einem anderen Ort verbracht hat, bevor er schliesslich das Fahrzeug auf seinem Grundstück versteckte
7. An einem anderen Ort versucht hat, den Grossteil der Leiche zu verbrennen
Weiterhin gibt es neutrale Augenzeugen, die bestätigen, dass am fraglichen Tattag ein relativ grosses Feuer auf seinem Grundstück zu sehen war.
So, all das ergibt ein relativ schlüssiges und eindimensionals Bild. Übrigens hier meine Theorie zu der Knochenproblematik, die inzwischen auch einmal von @jeffersonbridg geäussert wurde:
Wer sich mit dem Verbrennen von Leichen ein wenig auskennt wird wissen, dass dies nicht gerade einfach ist. Lustigerweise spricht Zellners Gutachter in der 10. Folge der 2. Staffel genau davon: es werden sehr hohe Temperaturen über einen relativ langen Zeitraum notwendig, die ausserhalb eines Krematoriums nur selten erreicht werden. Daher ist es sehr schwer, Knochen vollständig zu verbrennen.
Meine Theorie ist nun die, dass Avery zunächst versucht hat, die Leiche in den burn pits auf dem Familiengrundstück zu verbrennen. Dann hat er aber festgestellt, dass
1. Das Feuer so auffällig ist, dass es von unbeteiligten Zeugen gesehen werden kann, was ja auch tatsächlich passiert ist und
2. Die Leiche mitnichten dort spurlos verbrannt werden kann, so dass
Avery den Versuch dort abgebrochen hat und zumindest Leichenteile im Fahrzeug des Opfers in den weitaus abgelegeneren "Gravel Pit" verbracht hat, und dort erneut versucht hat sie zu verbrennen. Dabei kann es auch sein, dass er weitere Gegenstände aus dem Besitz des Opfers dabei hatte, u.a. ihr Mobiltelefon.
Zellner interpretiert die Knochenfunde im "Gravel pit" nämlich ohne jede Begründung ganz einseitig so, dass die Verbrennung erst im gravel pit probiert wurde, und dann durch sinistre Personen Teile der Leiche in den Avery burn pit verbracht wurden. Dafür gibt es aber ganz und gar keine zwingende Notwendigkeit. Genausogut kann die Reihenfolge umgekehrt gewesen sein und dabei noch weitaus logischer sein. Vor allem kommt die Theorie dann ohne die Beteiligung weiterer Personen aus.
Es ist daher irrelevant, ob die Knochenteile nun wirklich Teresa Halbachs Knochen sind oder nicht. Ich gehe davon aus. Selbst wenn man davon ausgeht, ergibt sich also keineswegs, dass das ein entlastender Fakt ist.
Zu der Interpretation der DNA Spuren ist hier von @Seps13 schon viel richtiges geschrieben worden. Unbestritten ist, dass sie existieren. Zellners Interpretation, wie sie entstanden sind, werde ich weiter unter ansprechen.
Es ergibt sich also ein Bild, in dem Opfer und Täter unbestritten zusammentreffen. Unbestritten ist, dass Avery nicht nur die Gelegenheit hatte, die Tat zu begehen, sondern auch das Vermögen.
Zwar hat Avery eine gewisse Bauernschläue an den Tag gelegt, aber hat nicht vermeiden koennen, Spuren zu hinterlassen, die ihn eindeutig mit der Tat in Verbindung bringen. Entgegen Zellners Behauptungen, ist bei keiner Spur bewiesen, dass Avery sie unmoeglich verursacht haben kann. Im Gegenteil: Wissenschaftlich ist es in allen Fällen moeglich.
Das hat die Jury so im Prozess verstanden und daraus den Schluss gezogen, dass Avery die Tat begangen hat. Man erinnere sich, dass Brendan Dasseys "Geständnis" dabei keine Rolle spielte.
Nun schauen wir uns Zellners Theorien an. Leider bringt sie nicht nur eine, sondern ein Konvolut aus mehreren Theorien. Beginnen wir mit der ersten:
Sie möchte uns glauben machen, dass Bobby Dassey Teresa Halbach ermordet hat und dann perfekt alle Spuren auf Steven Avery ausrichtet, ohne dabei auch nur eine einzige Spur zu hinterlassen, die eindeutig auf ihn weist.
Das ist extrem erstaunlich. Ausgerechnet Bobby Dassey, der m.E. nicht gerade den Eindruck eines extrem intelligenten und meuchelmörderisch erfahrenen Menschen macht. Den bräuchte es aber für so eine Theorie:
Ohne darauf vorbereitet zu sein stellt Dassey also auf einmal spontan fest, dass Halbach auf dem Grundstück ist. Spontan beschliesst er, ihr zu folgen, um sie in seine Gewalt zu bringen. Ebenfalls spontan zieht er noch einen Komplizen dazu, Scott T. Es gelingt, Halbach in ihre Gewalt zu bringen, ihr Gewalt anzutun, sie zu toeten. Dann wird die Leiche teilweise verbrannt und dann kommt den beiden Moerdern die glorreiche Idee, die Tat Steven Avery in die Schuhe zu schieben.
Da fangen die Probleme an: Kriminalisten werden bestätigen, dass gerade solche Gelegenheitstäter in der Regel versuchen, Spuren weg von ihnen zu legen, anstatt die Ermittler durch falsche Spuren in ihre Nähe zu bringen. Warum Scott und Bobby eigentlich die Spuren zu den Averys zurüklegen sollen, nachdem sie es ja offensichtlich geschafft haben, die Tat zu begehen, ohne auch nur eine einzige Spur zu hinterlassen, ist eigentlich ein Rätsel. Denn das muss man sich immer wieder vor Augen halten: Nicht eine einzige DNA Spur der beiden wurde irgendwo am Opfer, am Opferfahrzeug oder sonstwo gefunden. Nicht eine Waffe, kein Tatwerkzeug, nichts. Das Verbrechen geschah spurlos.
Lediglich eine zweifelhafte Sichtung des Autos in der Nähe von Scotts Grundstück stellt hier eine Verbindung her. Lediglich die merkwürdigen Gewaltpornos auf dem Familiencomputer der Dasseys stellen die Verbindung Bobbys zu der Tat her. Sonst: Nichts.
Sagenhaft gute Tatausführung kann man da nur sagen.
Und zu allem Überfluss soll nun der an sich nicht sonderlich überbegabte Bobby noch extrem aufwändige falsche Spuren gelegt haben. Er soll nicht nur realisiert haben, dass es notwendig ist, DNA aus der Zahnbürste Stevens zu extrahieren er soll dann auch noch diese mit Blut gemischt haben, das er ebenfalls nur unter extremem Aufwand und zufällig bei Steven fand, alles zusammen soll er dann auch noch am Fahrzeug angebracht haben.
Das aber keineswegs so, wie der allmyerfahrene Täter es gemacht hätte, zum Beispiel an Türgriff, Lenkrad usw des Fahrzeugs. Nein! Der gerissene Bobby kommt auf die Idee, das Ganze am Motorhaubenverschluss anzubringen! Daran denkt jeder Kriminalpolizist doch zu allererst, wenn er nach Spuren des Mörders such, oder???
Wow. Bobby ist ein Genie. Das zeigt sich auch bei der Gewehrkugel. An der befinden sich keine Knochensplitter, aber Opfer-DNA. Und laut Zellner kann ja anscheinend keine Gewehrkugel lediglich durch Weichteile eines Körpers gegangen sein, nein, ohne Knochensplitter kann die Kugel unmöglich getroffen haben und daher auch keine DNA legitim enthalten. Denn Zellner weiss auch, dass es nur diesen einzigen Schuss gegeben haben kann - woher, das fragt man sich. Und der super-intelligente Bobby hat nun auch hier manipuliert.
Hm. Oder auch nicht. Gegen Zellners anfängliche Beteuerung, dass sie der Polizei keine Verfälschung der Spuren unterstellen wolle, tut sie genau das nun das ganze Dokudrama lang. Ihr ist wohl selbst aufgegangen, dass Bobby und Scott das nicht allein können.
Also kommen nun die finsteren Polizisten ins Spiel. Warum diese den armen unschuldigen Avery nun so framen, obwohl sie selbst
1. nichts davon haben
2. ein immenses Risiko eingehen, ihren Job zu verlieren, schadenersatzpflichtig zu werden und eine Straftat begehen
3. den wahren Täter schützen wollen
das wird eigentlich nie klar.
Um es kurz zu machen: Am Ende ist auf einmal Bobby gar nicht mehr der Mörder Nr.1, denn nun kommt auch noch Teresas Ex-Freund Hillegas ins Spiel. Auch er braucht aber unbedingt die Hilfe der finsteren Polizisten, denn auch er allein kann gar nicht diese tollen Spuren legen.
Das alles sollen wir also glauben, wenn wir Zellner folgen, aber die viel logischere Variante der Staatsanwaltschaft, die können wir nicht glauben?
Das kann ich nicht nachvollziehen.