Seps13 schrieb:Aber vielleicht äußert sich @Rick_Blaine dazu nochmal.
Hm, eigentlich habe ich keine grosse Lust mich immer wieder zu wiederholen, denn hier wird soviel Unsinn geschrieben der keinerlei Kenntnisse in grundsätzlichem Verfahrensrecht aufzeigt.
Aber gut, schreibe ich es noch einmal. Mit den deutschen Begriffen muss man immer etwas vorsichtig umgehen, aber im Prinzip ist das Verfahrensrecht in den USA oder speziell hier in Wisconsin gar nicht so anders als in Deutschland.
Fangen wir mit dem Begriff Berufung an. Der Begriff passt hier gar nicht und sollte nicht verwendet werden. Eine Berufung ist ein Rechtsmittel das es in Deutschland gibt und das, wenn es erfolgreich ist, eine neue Tatsachenverhandlung ermöglicht.
Auf dem Level unseres Falles hier gibt es das nicht, übrigens genausowenig wie in Deutschland.
Es gibt grundsätzlich zwei verschiedene Dinge:
Es gibt die Revision, in welcher man ein übergeordnetes Gericht bittet, das vergangene Verfahren auf Rechtsfehler zu untersuchen. Diese können in verschiedener Form vorliegen, vom unzuständigen Gericht angefangen, über einen befangenen Richter, bis hin zu erheblicher fehlerhafter Interpretation der Beweisregeln usw. Das ist in beiden Ländern gleich.
Und es gibt das Wiederaufnahmeverfahren, dazu weiter unten mehr. Erst einmal zur Revision:
Es wäre hier für die Diskussion allerdings hilfreich, endlich einmal darauf zu verzichten, angebliche Verfahrensfehler, über die noch nicht entschieden wurde, als "erheblich" usw. zu bezeichnen und jedes Mal zu insinuieren, dass damit das Ergebnis der Revision schon feststeht.
Das ist kompletter Blödsinn und nervt nur.
Was anscheinend schrecklich schwer zu verstehen ist, ist nämlich die juristische Tatsache, dass nicht jede Abweichung von einer vorgegebenen Art und Weise ein Verfahren zu führen, sofort zu einer Aufhebung des Urteils führt.
Es mag im Prozess gegen Avery den einen oder anderen Fehler gegeben haben, aber die Frage, welche sich die Richter in der Revision stellen müssen ist: Wenn dieser Fehler nicht vorliegen würde, ist es wahrscheinlich, dass die Jury ein anderes Urteil gefällt hätte?
Nur wenn die Revisionsrichter diese Frage mit ja beantworten, ist der Verfahrensfehler substantiell und kann zu einer Wiederaufnahme des Verfahrens führen.
Ich versuche es noch einmal mit einem ganz einfachen Beispiel zu erklären:
Der Angeklagte Theodor konnte den Oskar nicht leiden und eines Tages, als Oskar etwas betrunken auf der Hauptstrasse durch das Dorf lief, nahm Theodor die Gelegenheit wahr, Oskar ins Jenseits zu befördern. Er beschleunigte seinen grünen Audi auf 100km/h und fuhr Oskar auf der schnurgeraden Hauptstrasse über den Haufen.
Der schwer arbeitende Staatsanwalt Dr. Mairhofer legt die Beweise vor, die Augenzeugen und so weiter. Im Schlussplädoyer fasst er noch einmal das Geschenen zusammen und sagt: "Und dann beschleunigte der Angeklagte seinen roten BMW und fuhr den armen Oskar über den Haufen." Der Schöffe Gmeinwisser, seinerseits erklärter Fahrradfahrer und Fussgänger nickt innerlich und denkt sich: Genau! Diese BMW Fahrer denken sowieso ihnen allein gehört die Strasse. Er freut sich, mit Theodor einen von ihnen aus dem Verkehr ziehen zu können.
Rechtsanwältin Dr. Aufgepasst liest nach dem Urteil noch einmal ihre Notizen durch und stellt fest, dass Kollege Dr. Mairhofer hier tatsächlich von einem ganz anderen Fahrzeug sprach.
Nehmen wir jetzt einmal an, das Ganze spielte sich in Wisconsin ab, in dem es freilich kein "korruptes" Gerichtswesen gibt (so ein Quatsch, so was zu behaupten). Sie legt Revision ein und fordert, das Verfahren zu wiederholen, denn so wie Dr. Mairhofer in seinem Schlussplädoyer das Geschehen zusammengefasst hat, kann es ja nicht gewesen sein.
Unter dem Vorsitz von Frau Dr. Weise stellt das Revisionsgericht fest: Der Fehler, der Dr. Mairhofer unterlaufen ist, war keineswegs fatal. Die Zeugen haben Theodor am Steuer des einzigen Autos gesehen, das zur fraglichen Zeit die Hauptstrasse entlang fuhr. Es ist erwiesen, dass dieses Auto der grüne Audi des Theodor gewesen ist.
Selbst wenn man davon ausgeht, dass Schöffe Gmeinwisser nichts gegen Audi-Fahrer hat sondern sich nur über BMW Fahrer ärgert, hätte er auf grund der Beweislage immer noch Theodor für schuldig befunden.
Ergo: Ja, es ist ein Fehler passiert, aber dieser war harmlos. Deshalb hat das Urteil Bestand.
Eine andere Sache wäre es, wenn zur Tatzeit zwei Fahrzeuge unterwegs gewesen wären, ein grüner Audi und ein roter BMW und wenn es tatsächlich darum ging, einen der beiden als das Unfallfahrzeug zu identifizieren. Da könnte der Versprecher des Dr. Mairhofer eventuell (!) grösseres Gewicht bekommen.
Alles, was Avery und seine verschiedenen Verteidiger vorbringen, muss immer unter diesem Gesichtspunkt geprüft werden.
Wie wir alle wissen, wurde seine erste Revision (appeal) verworfen.
Zurück zu den Begriffen. Eine Revision kann im Englischen sowohl als "appeal" bezeichnet werden als auch als "review," ein Antrag auf Revision kann dann z.B. als "Petition for review" bezeichnet werden. Das wird unterschiedlich gehandhabt, aber das Prinzip bleibt immer das Gleiche: Wie im Fremdwort "Revision" signalisiert auch das englische Wort "review" (das natürlich vom lateinischen Revision kommt) dass es sich um eine "Rück"(re)-Schau handelt. Man blickt zurück auf das vergangene Verfahren.
Dementsprechend geht es generell erst einmal nur darum.
Die Rechtsprechung hat dann unter sehr restriktiven Bestimmungen den Blickwinkel etwas erweitert: In einem Revisionsantrag kann unter bestimmten Umständen auch ein neues Beweismittel eingebracht werden.
Bleiben wir in unserem Beispielfall: Ein Zeuge meldet sich nach dem Verfahren, der gesehen haben will, dass ganz kurz vor dem Unfall Theodor auf den Beifahrersitz gerutscht ist und Zenzi das Steuer übernommen hat, und dass demnach Zenzi den Oskar totgefahren hat.
Das juristische Dilemma ist nun dies: Das Revisionsgericht ist eigentlich der falsche Ort für diesen neuen Beweis: denn es obliegt der Tatsacheninstanz, also in den USA der Jury, zu entscheiden ob z.B. dieser Zeuge glaubwürdig ist oder nicht. Die Revisionsrichter beschäftigen sich normalerweise nicht mit Zeugenvernehmungen usw.
Andererseits, wenn dem so wäre, wäre Theodor unschuldig!
So hat man ein ganz eigenes, besonderes Verfahren erfunden: Das Wiederaufnahmeverfahren. In den USA kann das wieder verschiedene Namen haben, zum Beispiel "motion for a new trial." Generell wird es unter einem Oberbegriff einsortiert, der alle Rechtsmittel nach einem Urteil umfasst, dem "Post Conviction Relief." Wenn Juristen jedoch von PCR sprechen, wir kürzen so was meistens ab, dann meinen sie selten eine normale Revision, sondern meistens ein anderes Rechtsmittel und da vorrangig ein Wiederaufnahmeverfahren. Oder auch ein Haftprüfungsverfahen. Usw. Man muss also genau hinschauen, was gemeint ist, wenn von PCR die Rede ist.
Also, was wird nun aus unserem neuen Zeugen und Zenzi? Die Thematik der Wiederaufnahme ist in beiden Ländern extrem kompliziert, aber beschränken wir uns hier mal auf ein paar generelle Dinge:
Das Gericht wird zunächst recht skeptische Fragen stellen: wieso kommt der Zeuge jetzt erst? Warum wurde das nicht im Verfahren bereits thematisiert? Was würde seine Aussage, wenn sie wahr wäre, ändern? Usw.
Wenn das Gericht nun feststellt, dass es sich hier tatsächlich um einen Zeugen handelt, dessen Aussage den Urteilsspruch substantiell in Frage stellt und es dem Verurteilten nicht angelastet werden kann, dass er den Zeugen nicht schon im ersten Verfahren bringen konnte, dann ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass das Gericht ein neues Verfahren ansetzt, also den alten Urteilsspruch aufhebt.
Auf dem Weg dahin befindet sich derzeit Averys Fall.
Der Weg ist nicht einfach. Zunächst einmal muss man die Gründe für ein solches Wiederaufnahmeverfahren darstellen. Das geschieht in einem Antrag, der wiederum verschiedene Namen haben kann, je nach Ort des Verfahrens, z.B. "motion for a new trial."
Das Gericht soll dann diese Gründe, die erst einmal schriftlich eingereicht werden, bewerten. Es kann dabei sein, dass das Gericht nicht in der Lage ist, dies nach Aktenlage zu bewerten. Zum Beispiel in unserem Fall hier: Staatsanwalt Dr. Mairhofer zweifelt sehr an dieser neuen Lage. Er beantragt eine Anhörung, denn er möchte ein paar Dinge klären: welches Verhältnis hat der neue Zeuge zu Zenzi? Zu Theodor? Wie steht es um seine Sehfähigkeit? Um seine Nüchternheit?
Bevor nun der ganze Prozess von vorne beginnt, muss sich das Gericht mit diesen Dingen beschäftigen, denn wenn sich ergibt, dass dieser Zeuge nicht glaubwürdig ist, kann man sich den riesigen Aufwand eines neuen Prozesses sparen!
Das Gericht setzt eine Anhörung an, auf Englisch "evidentiary hearing" genannt. In dieser stellt sich heraus, dass der neue Zeuge der ehemalige Liebhaber der Zenzi ist, der von ihr verlassen wurde, als sie mit Theodor zusammenkam. Es stellt sich auch heraus, dass er an dem fraglichen Abend stockbesoffen war und seine Brille, ohne die er so gut wie nichts sieht, im Wirtshaus liegen gelassen hatte.
Daraufhin erklärt das Gericht, dass dieser neue Zeuge so unglaubwürdig ist, dass es unwahrscheinlich ist, dass seine Aussage das alte Urteil verändern würde und lehnt den Antrag auf ein Wiederaufnahmeverfahren ab.
So. Nun könnte endlich Schluss sein. In den USA will man aber dem Verurteilten so viele Chancen wie möglich und praktisch sinnvoll geben, sein Recht zu bekommen: also kann er gegen diesen Beschluss des Gerichts wieder Revision einlegen.
Und genau in diesen Phasen sind wir im Avery Verfahren. Zellner hat leider nicht alles schön gebündelt in einem Antrag dargelegt, sondern verschiedene Anträge zu verschiedenen Zeitpunkten gestellt, so dass es meistens mehr als ein Antrag ist, der gerade entweder schwebt, oder in der Revision ist.
Zu den Ausführungen über die zuständige Richterin schreibe ich hier nichts, denn ich masse mir nicht an, ihre Qualifikationen zu beurteilen ohne sie zu kennen.
Die Ausführungen von
@Seps13 dazu sind hier allerdings in der Regel korrekt.
Soviel erst einmal, später mehr.