@Rick_Blaine @Seps13 Wären hier alle Juristen, oder hätten die Zeit sich in die Akten einzulesen, könnte ich die Kritik an der Argumentation mancher User verstehen.
Viele kommen auf das Thema aber nunmal durch die Serie, so wie auf andere Kriminalfälle durch Presseberichte (die oft noch sehr viel lückenhafter und einseitiger sind).
Nun wird nicht jeder Wald-und-Wiesen-Mordfall so heiß diskutiert, oder gar Stoff für eine Doku-Serie.
Nun, in der zweiten Staffel, ist es sogar ein Mordfall mit zwei Tätern.
Grundsätzlich arbeiten in den USA die Gerichte genauso gewissenhaft wie hier, nehmen wir an.
Auch die Polizei tut ihren Job so gut wie möglich, denn man möchte ja nicht die falschen einsperren und die wahren Mörder frei herumlaufen lassen.
Insofern habt ihr recht wenn ihr kritisiert, dass aus Detailfragen und einzelnen Indizien eine Verschwörungstheorie gesponnen wird, die die Polizei und den Justizapparat umfasst. Wen könnte denn so dringend interessieren, einen Schrotthändler und seinen minderbegabten Neffen einzusperren?
Andererseits...
Avery wurde zuvor schon wegen Vergewaltigung zu Lebenslänglich verurteilt, saß 18 Jahre im Gefängnis und musste wieder frei gelassen werden, ein anderer der Tat überführt.
Der Neffe wird zu einem Geständnis genötigt, das vom Gericht auch noch zugelassen wird (und bekommt einen Pflichtverteidiger der das "Geständnis" auch noch bestätigen lässt) und sitzt für mindestens 32 Jahre in Haft.
Das kann einem, auch ohne die Serie gesehen zu haben, schon ziemlich kafkaesk vorkommen.
Abgesehen von diesem Geständnis liegen für den Mord in beiden Verfahren nur Indizienbeweise vor.
Ihr meint, dass man die nicht so eindeutig für Avery/Dassey auslegen könne, wie es die Rechtsanwältin darstellt und die Serie wiedergibt.
Das ist wohl richtig, aber dass es überhaupt eine andere Interpretationsmöglichkeit gibt und scheinbar kein einiger eindeutiger Beweis vorliegt, ist der springende Punkt. Und natürlich bekommen da einzelne Indizien großes Gewicht, wenn sie jeweils eine andere Lesart zulassen.
Denn das bedeutet, dass man den ganzen Fall so oder anders lesen kann, also "berechtigte Zweifel" vorhanden sein sollten.
@stefanclimbr15 hat z.B. auf diese neue Eingabe hingewiesen, und man kann vielleicht den Stil kritisieren, in dem er darüber geschrieben hat.
Vermutlich menschliche Überreste aus der Städtischen Mülldeponie wurden der Familie Halbach als Überreste von Teresa zur Beerdigung überlassen.
Einerseits ungeschickt bis illegal, weil es sich um Beweismittel handelt, andererseits könnte man meinen: Die Knochen stammten ja nicht von Averys Grundstück und betreffen darum das Urteil gegen ihn gar nicht. Außerdem weiß man vielleicht gar nicht 100%ig, ob es überhaupt menschliche Knochen waren und ein DNA-Abgleich mit Teresa war schon gar nicht möglich.
Also kann auch sein, dass Familie Halbach die Überreste von einem Reh begraben hat.
Kann dann aber auch sein, dass die Knochen auf Averys Grundstück nicht von Teresa stammten.
Nun wird in der "Motion" sehr genau zitiert, warum das alles von Belang ist:
Mr. Kratz claimed that the proximity of Mr. Avery's burn pit to his
residence was particularly incriminating to him. (696:74-75). Mr. Kratz
specifically told the jury:
[T]his particular computer generated animation is important to
embrace or to -- for a jury to look at in the case because the burn
area is clearly visible. How close it is to Mr. Avery's garage; how
close it is to the trailer; how close it is to the other area, what's
called the curtilage, that is the area that surrounds Mr. Avery's
property, all becomes important.
4. In his closing argument, Mr. Kratz told the jury that the location of the
bones in Mr. Avery's burn pit was the most important evidence of Mr. Avery's
intentional murder of Ms. Halbach. Prosecutor Kratz told the jury the following:
(715:35)
We could start with the moment or with the visual or with the
image of that man, Steven Avery, standing outside of a big
bonfire, with flames over the roof, or at least over the garage
roof, and the silhouette of Steven Avery, with the bonfire in the
background and the observation made by some witnesses . .. .
And that moment by the way, although dramatic and although
important, should tell the whole story.
Auf Deutsch: Der Staatsanwalt Kratz hat in Eröffnungsrede und Schlussplädoyer eindringlich darauf hingewiesen, dass die Mulde, in der die Averys Müll verbrannten und Knochenreste gefunden wurden, direkt neben dem Haus und der Garage liegt, in der der Mord stattgefunden haben soll.
Am Nachmittag des Tat-Tages habe dort ein bis über das Dach hoch loderndes Feuer gebrannt, und das alleine würde die ganze Geschichte erzählen.
Den Knochen von der städtischen Müllkippe wollte er nur 20 Sekunden widmen, sie seien für den Fall irrelevant.
Dabei würden sie die
Möglichkeit belegen, dass Teresa eben nicht auf dem Avery-Grundstück verbrannt wurde. Kann das irrelevant sein?
Dann aber werden eben diese Knochen als Überreste Teresa Halbach´s der Familie übergeben... in einem noch zur Berufung ausstehenden Fall.
Muss man da eine Verschwörung nachweisen, oder genügt fortgesetzt schlampige, nicht dem Interesse der Justiz dienende Ermittlungsarbeit?
Für sich genommen stellt das vielleicht keinen Skandal dar. Betrachtet man aber den ganzen Verlauf der Geschichte, können einem auch mal berechtigte Zweifel am Justizsystem der USA und auch an der Gewissenhaftigkeit kommen, mit der da stellenweise gearbeitet wird. Es scheint so, als ginge es vor allem darum, irgend jemanden verantwortlich zu machen und zu bestrafen... und im Zweifelsfall lieber den falschen als niemanden.
"Aber das kommt nur selten vor" ist in diesen beiden Fällen leider kein Argument, denn der eine wurde bereits einmal fälschlicherweise zu lebenslänglich verurteilt, der andere für diesen Mord wegen eines zweifelhaften Geständnisses zu mindestens 32 Jahren.
Also auch wenn man glaubt, dass Avery diesen Mord begangen hat und diesmal zurecht verurteilt wurde, können die Zweifel an dem System bleiben, in dem sich so viele scheinbar nebensächliche Fehler zu solchen Fehlurteilen addieren können.