Generell gilt, dass in einer Revision, oder wie hier in einem habeas corpus Fall, das Gericht nur die Fragen behandelt, die auch vom Antragsteller gestellt werden. Es ist im
common law eine verbreitete Idee, dass das Gericht nicht dazu da ist, die Arbeit einer der Parteien leichter zu machen, ihre Fehler zu verbessern oder einzubringen, was sie vergessen haben. Insofern ist der Grundsatz
iura novit curia in
common law Systemen nur sehr eingeschränkt gültig.
Im vorliegenden Fall sieht man auch, warum das sinnvoll ist: Eine Verfahrensrüge unter
Sullivan einzubringen ist einfacher als unter
Strickland, weil unter dem letzten die Beweislast höher ist. Wenn man behauptet, der Anwalt hat einen Interessenkonflikt gehabt
(Sullivan) dann wird unterstellt, dass sich dieses negativ auf den gesamten Fall ausgewirkt hat.
Unter
Strickland aber gilt, dass man nicht nur nachweisen muss, dass der Anwalt den Standard vernünftiger Vertretung nicht erreicht hat, sondern dass dadurch auch der Angeklagte so benachteiligt wurde, dass das Urteil gegen ihn ausging. Man muss im Prinzip nachweisen, dass wenn der Anwalt den Regeln der Kunst nach den Angeklagten vertreten hätte, das Urteil wahrscheinlich anders ausgegangen wäre.
Dieser Nachweis ist nicht so einfach. Ich will das mal an einem Beispiel verdeutlichen:
Rechtsanwalt Trottel vertritt die Mandanten Ganove und Engel in zwei verschiedenen Verfahren. Im Fall Ganove erscheint er besoffen vor Gericht und stellt den Zeugen keinerlei Fragen. 5 verschiedene Augenzeugen treten auf, die Ganove bei der Tat gesehen haben. Ein Zeuge, der Kriminaltechniker, führt aus, dass am Opfer und an der Tatwaffe Ganoves DNA gesichert wurde. Ganove wird verurteilt.
Im Fall Engel ist RA Trottel ebenfalls so besoffen erschienen, dass er nicht in der Lage war, den einzigen Zeugen der Staatsanwaltschaft zu befragen. Dieser Zeuge ist 87 Jahre alt und betritt den Gerichtsaal mit einem Blindenhund. Er gibt an, in der Tatnacht die Tat beobachtet zu haben, die sich 500m von seinem Haus entfernt in weniger als 30 Sekunden abspielte. Er gibt an, Engel als den Täter erkannt zu haben. Engel ist der Nachbar des Zeugen.
Im habeas corpus wird nun unter
Stricklangbehauptet, weder Ganove noch Engel hätten verurteilt werden dürfen, weil RA Trottel unfähig war.
Es ist korrekt, dass von einem Rechtsanwalt normalerweise erwartet wird, dass er nüchtern im Gericht erscheint und Zeugen ins Kreuzverhör nimmt. Dennoch weist das Gericht den habeas corpus Antrag von Ganove ab. Dem von Engel gibt es statt.
Warum: weil das Gericht denkt, dass selbst wenn Trottel nüchtern gewesen wäre, die Beweislast im Fall Ganove so schwer wiegt, dass die Jury ihn auch mit nüchternem Anwalt verurteilt hätte: eine ganze Reihe Augenzeugen und die DNA sprechen dafür.
Im Fall Engel dagegen kann man berechtigt zweifeln, ob der offensichtlich sehbehinderte ältere Nachbar auf die Ferne in der Nacht erkennen konnte, wer der Täter war. Nachfragen des Anwalts im Prozess hätten der Jury die Sehbehinderung deutlich machen können und ebenso herausstellen können, dass der Zeuge seinen Nachbarn benannt hat, weil der ihm einfach am Bekanntesten war. Da er der einzige Zeuge war liegt hier nahe, dass die Jury auch einen Freispruch verkündet haben könnte.
So, nun zurück zu Dassey: Seine Anwälte haben also unter
Sullivan geklagt und brauchten daher nicht nachweisen, dass bei ordnungsgemässem Verhalten des Anwalts wahrscheinlich gewesen wäre, dass Dassey freigesprochen worden wäre.
Diese Tatsache ergibt sich aber nicht so einfach aus der Sicht des Verfahrens. Unter
Strickland hätten seine Anwälte das beweisen müssen. Da sie das nicht getan haben, kann das Gericht nun nicht einfach so tun, als ob. Daher musste es diesen Antrag abweisen, obwohl es sagt, auf den ersten Blick erscheint das Verhalten des Anwalts schon extrem unzureichend.
Insofern,
@abgelenkt, ja: ein Angeklagter ist auf gute Anwälte angewiesen.
Ironischerweise wäre dieser Fehler seiner Anwälte bei einer negativen Entscheidung von Duffin vielleicht eine eigene Revision unter
Strickland Wert gewesen.
@Tombow hat hier ganz richtig aufgeführt, dass es seit dem AEDPA sehr viel schwerer geworden ist, einen habeas corpus gegen ein bundesstaatliches Urteil zu gewinnen. Der Congress hatte dieses Gesetz aus zwei verschiedenen Gründen erlassen:
Einmal gibt es hier die Parallelität einer bundesrechtlichen und einer bundesstaatlichen Rechtsprechung. Bundesrechtlicher habeas corpus war aber mehr und mehr dazu verwendet worden, Urteile bundesstaatlicher Gerichte aufzuheben. Der Congress und auch der oberste Gerichtshof der USA meinen aber, dass das eigentlich nicht der Sinn der Sache ist. Wer vor einem bundesstaatlichen Gericht verurteilt wurde, soll normalerweise nur dort Rechtsmittel einlegen können. Habeas corpus soll auf die wenigen Fälle beschränkt werden, wo die bundesstaatlichen Gerichte ganz eklatant gegen die Auslegung der Bundesverfassung verstossen haben. Das Bundesgericht soll nicht einfach als eine weitere Instanz über dem obersten bundesstaatlichen Gericht verstanden werden.
Damit sollte also nicht nur die Souveränität der Bundesstaaten gestärkt werden, sondern zweitens auch viele unnötige Verfahren verhindert werden, die die Bundesgerichte überlasteten.
Kritiker sagen allerdings, Congress und Supreme Court sind zu weit gegangen und haben das Recht auf habeas corpus praktisch ausgehöhlt. Ich selbst gehöre zu diesen Kritikern.
Um das zum Schluss noch einmal für deutsche Leser verständlich zu machen: man muss sich das so vorstellen, dass es in den USA zwei komplett getrennte Gerichtsbarkeiten gibt. In Deutschland wäre das so, wenn es eine Gerichtsbarkeit in Bayern gäbe, ein bayerisches Strafgesetzbuch, und ebenso in Hessen, in Sachsen usw. und daneben noch eine bundesdeutsche Gerichtsbarkeit und ein bundesdeutsches Strafgesetzbuch, in dem allerdings nur wenige Straftaten von bundesdeutscher Bedeutung stehen. 80% der Straftaten würden nach den Gesetzen der Bundesländer vor Gerichten der Bundesländer verhandelt. Ein bayerischer Täter also vom Landgericht in München, er legt dann Revision beim Oberlandesgericht ein und kann dessen Entscheidung noch einmal vor einem Obersten Bayerischen Gericht anfechten.
Hat er da aber keinen Erfolg, kann er vor einem bundesdeutschen Gericht klagen und wieder die ganze Instanzenkette bis zum Bundesgerichtshof hochklettern.
So war es in den USA im Prinzip, man hatte im besten Fall am Ende 5-7 Instanzen. Es dauerte Jahrzehnte bis ein Fall abgeschlossen war.
Dann wurde die Sache geändert und nun gilt: ein bayerischer Täter kann normaleweise nur bis zum Obersten Bayerischen Gericht gehen. Nur in den Fällen, wo dieses eklatant das deutsche Grundgesetz missinterpretiert, kann er noch mal vor die deutschen Bundesgerichte ziehen. Entscheident ist hier das "eklatant."
Natürlich gibt es, wie wir wissen, in Deutschland keine zweigleisige Gerichtsbarkeit. Die Gerichte werden zwar von den Bundesländern verwaltet, aber wenden alle nur ein Bundesstrafgesetzbuch an und sind alle dem Bundesgerichtshof unterworfen.