FF schrieb:(Habe ich das richtig erfasst, @Rick_Blaine ?)
Das ist richtig. Der sogenannte "Perry Mason" effect ist nicht notwendig. Das war eine Fernsehserie in welcher der Anwalt, der mehr Detektiv war, am Ende immer kurz vor der Verurteilung seines Mandanten den wahren Täter präsentierte. In der Realität kommt das so gut wie nie vor, und ist auch nicht notwendig.
jada schrieb:Hier wäre interessant zu wissen, ob es im amerikanischen Rechtssystem die Möglichkeit einer zweiten Verhandlung vor neuen Geschworenen gibt, obwohl Geschworene schon ein Urteil gesprochen haben?
Es gibt die Möglichkeit eines neuen Verfahrens, allerdings dahin zu kommen kann schwierig sein. Dabei kommt es auf den Status an, den das Verfahren zur Zeit hat.
Bei einem Strafjustizfall in einem Bundesstaat sieht das schematisch dargestellt so aus: Ich verwende mal deutsche Begriffe, wobei die nicht deckungsgleich mit dem Verfahren in Deutschland verstanden werden sollten.
Ein Verfahren beginnt in Deutschland mit der Hauptverhandlung. In den USA spricht man von "trial" der in der Regel ein Prozess vor einer Jury aus Geschworenen ist. Wie in Deutschland auch steht zunächst die Beweisaufnahme an und die Staatsanwaltschaft hat die Pflicht, die Schuld des Angeklagten zweifelsfrei ("beyond a reasonable doubt - jenseits von vernünftigen Zweifeln") zu beweisen. Der Angeklagte hat das Recht zu Schweigen, kann aber Stellung nehmen und Zeugen und Beweismittel einbringen. Er hat das Recht auf einen Pflichtverteidiger.
Nach dem Ende der Beweisaufnahme stehen die Schlussplädoyers. Anschliessend ziehen sich die Geschworenen zur Beratung zurück. Anders als in Deutschland hat der Richter keine Funktion wenn es um die Feststellung der Schuld geht. Er ist mehr ein "Schiedsrichter" der während der Verhandlung dafür zu sorgen hat, dass alles fair zugeht und die Strafprozessordnung und die Gesetze befolgt werden.
Bevor die Jury zur Beratung geht kann die Verteidigung allerdings bereits zwei Dinge beantragen: eine direkte Entscheidung zugunsten des Angeklagten (directed verdict) wenn die Beweislage so klar ist, dass es gar keine Zweifel an der Schuld des Angeklagten geben kann. Oder den Prozess an dieser Stelle zu beenden, weil so viele Verfahrensfehler gemacht worden, dass man ihn ganz von vorne beginnen muss (mistrial). Über beide Anträge entscheidet der Richter. In der Praxis kommt es sehr selten zu einem directed verdict, und nicht sehr oft zu einem mistrial.
Die Jury kann nun für jeden einzelnen Anklagepunkt entscheiden: schuldig oder nicht schuldig. Die Entscheidung muss in jedem Fall einstimmig sein. Kann sich die Jury auch nach langer, oft mehrtägiger Beratung nicht einigen, gibt es allerdings einen mistrial. Das bedeutet, die Staatsanwaltschaft kann - muss aber nicht - den gesamten Prozess vor einer neuen Jury von vorne beginnen. Solange gilt die Unschuldsvermutung. Entscheidet sich die Staatsanwaltschaft gegen eine Neuauflage gilt der Angeklagte als unschuldig und kann nach Ablauf der Frist auch nicht mehr neu wegen der selben Tat angeklagt werden.
Hat sich die Jury einstimmig für "nicht schuldig," also einen Freispruch entschieden, ist das Verfahren hiermit ebenfalls beendet. Die Staatsanwaltschaft kann keine Revision gegen einen Freispruch einlegen. Der Angeklagte ist frei, gilt als unschuldig, und kann nicht noch einmal wegen derselben Tat angeklagt werden (double jeopardy attaches).
Hat die Jury einstimmig den Angeklagten schuldig gesprochen, beginnt jetzt die zweite Phase des Prozesses. Nach der Frage von Schuld und Unschuld steht jetzt das Strafmass im Mittelpunkt. Sowohl Anklage als auch Verteidigung können jetzt strafverschärfende oder strafmildernde Umstände hervorbringen, ausserdem wird jetzt ein sehr entscheidender "pre-sentencing report" erstellt, in dem z.B. psychologische, medizinische, psychiatrische usw. Gründe vorgebracht werden können, warum der Verurteilte eine höhere oder niedrigere Strafe bekommen sollte.
Die Strafe wird dann im Rahmen der Gesetze vom Richter festgesetzt, die Todesstrafe kann allerdings nur einstimmig von der Jury festgesetzt werden. Im Prinzip gibt es drei Strafmassmöglichkeiten je nach Verbrechen: zeitliche oder lebenlängliche Freiheitsstrafe mit der Möglichkeit einer Strafrestaussetzung zur Bewährung, eine solche Strafe ohne diese Möglichkeit, oder die Todesstrafe. Wie in Deutschland auch entscheidet das Gericht zu diesem Zeitpunkt noch nicht über eine Strafrestaussetzung.
Damit ist das Verfahren in Deutschland in der ersten Instanz beendet. In den USA allerdings kann die Verteidigung auch jetzt noch einmal einen Antrag stellen, das Ergebnis des Prozesses einzustampfen und noch einmal ganz von vorne zu beginnen: motion for new trial. Grund ist normalerweise wieder, dass die Verteidigung schwere Verfahrensmängel rügt. Theoretisch könnte sie auch neue Beweise präsentieren, wenn diese ganz neu sind. Da der Richter der ersten Instanz über diesen Antrag entscheidet, ist es extrem selten, dass ihm stattgegeben wird.
Nun hat der Verurteilte die Möglichkeit in Revision zu gehen (appeal). Die Revision wird vor einem Revisionsgericht eingelegt (2. Instanz) (court of appeals) und es gibt keine neue Verhandlung mit Beweisaufnahme. Das Revisionsgericht, in der Regel drei oder mehr Richter, schaut sich das Protokoll des Verfahrens an (das gesamte Verfahren der 1. Instanz wird wörtlich protokolliert, das ist anders als in Deutschland). Werden Rechts- oder Verfahrensfehler entdeckt muss beurteilt werden, ob diese so schwer sind, dass ein neues Verfahren geboten ist. Das ist wichtig zu begreifen: nicht jeder kleine Fehler führt zu einem neuen Prozess, das Berufungsgericht beurteilt ob die Vermeidung des Fehlers zu einem anderen Ausgang geführt hätte. Ist dem so, dann wird der Revision stattgegeben und es kann ein neues Verfahren geben (auch hier gilt: es muss kein neues Verfahren geben. Die Staatsanwaltschaft kann darauf verzichten und dann ist der Verurteilte freizulassen und gilt als unschuldig).
Nun wird die Sache ein wenig kompliziert, weil sie vom deutschen System abweicht. In Deutschland wäre bei einer Abweisung der Revision in einem solchen Fall wie hier diskutiert schon fast das Ende der Fahnenstange erreicht. Es blieben dem Verurteilten nur die Verfassungsbeschwerde vor dem BVerfG und ein Antrag auf die Wiederaufnahme des Verfahrens. Beide stellen sehr hohe Hürden dar und sind selten erfolgreich.
In den USA gibt es noch einige Schritte, welche der Verurteilte gehen kann: dazu muss man wissen, dass es historisch bedingt zwei getrennte und parallele Gerichtsbarkeiten in den USA gibt: die Gerichtsbarkeit der einzelnen Bundesstaaten und eine Bundesgerichtsbarkeit.
Auf Deutschland bezogen wäre das so, als ob der Freistaat Bayern eine eigene Gerichtsbarkeit hätte, mit einem obersten bayerischen Gericht (so was gab es ja mal
:) ) und daneben noch die Bundesrepublik Deutschland Bundesgerichte auch in Bayern unterhielte. Kann man als Verurteilter Verstösse gegen die Rechte darlegen, die einem in der Bundesverfassung zugestanden werden, kann man vor den Bundesgerichten klagen.
Da die wichtigsten Rechte der Strafjustiz in der amerikanischen Bundesverfassung festgelegt sind (und in der jeweiligen Verfassung der einzelnen Bundesstaaten) kann man in den meisten Fällen nun zweigleisig fahren: man kann neben der Revision im Einzelstaatsgericht auch eine Art Verfassungsbeschwerde vor dem Bundesgericht einlegen. In den USA heisst das "writ of habeas corpus" und wird in 1. Instanz vor dem "federal district court" eingelegt.
Noch einmal gesagt: Für die Kompetenz der Bundesgerichte ist es notwendig, eine Verletzung der Rechte aus der Bundesverfassung geltend zu machen. Für die Revision und alle weiteren Instanzen in den Einzelstaaten reicht eine Verletzung der Strafprozessordnung etc. geltend zu machen.
Nun kann ich also Revision beim court of appeals des Einzelstaates einlegen. Gleichzeitig kann ich mich direkt per Verfassungsbeschwerde an den obersten Gerichtshof der USA wenden, den Supreme Court. Allerdings ist zu diesem Zeitpunkt des Verfahrens der Erfolg vor dem Supreme Court genauso selten wie vor dem deutschen BVerfG.
Es geht aber noch weiter. Gegen eine Ablehnung der Revision durch das einzelstaatliche Revisionsgericht (court of appeals) kann ich - und das gibt es in Deutschland nicht - wieder Revision einlegen, diesmal beim obersten Gerichtshof des einzelnen Bundesstaates (supreme court of the state of...). Dieser schaut sich, falls Interesse besteht, noch einmal an, ob grundsätzlich ein faires Verfahren bestanden hat. Allerdings muss der supreme court nicht jeden Fall annehmen und wird meistens nur solche annehmen, in welchen grundsätzliche Probleme angeführt werden.
Nehmen wir an, dass auch das erfolglos war. Dann kann der Verurteilte nun wieder zweigleisig fahren: er kann einen Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens (writ of habeas corpus) sowohl beim staatlichen als auch beim Bundesgericht beantragen (bei letztem nur wenn Verletzung der Bundesrechte geltend gemacht wird). Wird dem Antrag stattgegeben kann das gesamte Verfahren neu aufgelegt werden (wie immer kann die Staatsanwaltschaft darauf verzichten). Dann käme es also auch nach Jahren noch einmal zu einem komplett neuen Prozess mit Beweisaufnahme.
Wird der Antrag auf Wiederaufnahme abgelehnt, kann der Verurteilte wieder dagegen Revision beantragen.
Theoretisch kann der Fall also wieder bis vor den obersten Gerichtshof gelangen. Und das kann Jahre dauern.
Ich selbst habe einen solchen Fall gehabt, und zeige an diesem Fall noch einmal zusammenfassend den Weg durch die Instanzen:
1. Instanz (Tatsacheninstanz) vor einzelstaatlichem Gericht
2. Antrag auf "new trial" nach verlorenem Prozess
3. Revision vor dem einzelstaatlichen "court of appeals"
4. Gleichzeitig: Verfassungsbeschwerde vor dem obersten Gericht der USA (writ of certiorari)
5. Revison der Ablehnung der Revision unter 3. vor dem obersten einzelstaatlichen Gericht
6. Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens vor dem einzelstaatlichen Gericht
7. Revision bei Ablehnung des Antrags vor dem "court of appeals" - bis zum "supreme court"
8. Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens wegen Verletzung der Rechte der Bundesverfassung vor dem Bundesgericht
9. Revision der Ablehnung dieses Antrags vor dem "United States Court of Appeals"
10. Verfassungsbeschwerde vor dem obersten Gericht der USA (writ of certiorari)
Theoretisch kann man also 10 verschiedene Instanzen durchwandern. In meinem letzten Fall dauerte es bis zum obersten Gericht des Einzelstaates, also bis Nummer 7. Und das dauerte 9 Jahre. Wir waren auch auf die Nummern 8-10 vorbereitet, was noch mal einige Jahre gekostet hätte.
Tut mir leid, wenn das nun ein wenig lang war, aber ich denke die Antwort auf die Frage ist nun deutlich geworden: Ja, ein neuer Prozess mit Beweisaufnahme ist theoretisch möglich, praktisch aber je länger es dauert, desto unwahrscheinlicher.