http://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/kriminalitaet/prozess-im-fall-jenisa-beginnt-in-hannover-13817746.htmlMordprozess in Hannover Das Schlimmste für eine Familie
Vor acht Jahren verschwand die acht Jahre alte Jenisa. Ihr mutmaßlicher Mörder, der in der Zwischenzeit für den Mord an einem anderen Kind verurteilt wurde, steht nun vor Gericht. Der Prozess dürfte kompliziert werden.
22.09.2015, von Mona Jaeger, Hannover
Auftakt Jenisa-Prozess
© dpa
Der Angeklagte Ibrahim B. im Landgericht Hannover
Der Angeklagte ist schmächtig, schweigsam und ein Rätsel. Als er am Dienstag den Gerichtssaal betritt, hält er eine blaue Aktenmappe vor sein Gesicht. Erst als die Fernsehteams und Fotografen aus dem Raum sind, zeigt sich Ibrahim B., dem vorgeworfen wird, die acht Jahre alte Jenisa umgebracht zu haben. Er nennt dem Richter seinen Namen, sein Geburtsdatum und seinen aktuellen Aufenthaltsort: die Justizvollzugsanstalt Bielefeld. Mehr wird Ibrahim B. die nächsten Stunden nicht mehr sagen, nur noch starr zum Boden blicken, und – so scheint es – dem Verlauf des ersten Verhandlungstags am Landgericht Hannover nicht weiter folgen.
Das war nicht immer so – und das ist das rätselhafte daran. Denn Ibrahim B. sitzt nur auf der Anklagebank, weil er selbst über die Tat gesprochen hatte. Vor etwa einem Jahr, als er wegen des Verdachts, einen fünf Jahre alten Jungen getötet zu haben, in Untersuchungshaft saß. Damals schilderte er zwei Mitgefangenen, warum und wie er das Mädchen umgebracht und wo er ihre Leiche hingebracht habe. Ibrahim B., so schildert es der Staatsanwalt, fiel offenbar auf einen Bluff der beiden Männer herein. Sie hatten ihm gesagt, Leute zu kennen, die ihm dabei helfen könnten, die Leiche verschwinden zu lassen. Dazu müsse er ihnen aber ganz genau schildern, was passiert sei und wo das Mädchen liege. Ibrahim B. schrieb ein mehrere Seiten langes Geständnis nieder.
In ihm soll genau festgehalten sein, was vor sieben Jahren in Hannover passierte. Am 7. September 2007, einem Donnerstag, wollte Jenisa mittags ihre Tante besuchen. In der Wohnung sei sie aber nur auf deren Partner, Ibrahim B., gestoßen. Der habe sie unter dem Vorwand, sie nach Hause zu fahren, in sein Auto gelockt und sei mit ihr zu einem Waldstück in der Nähe gefahren. Dort habe er von ihr verlangt, sich auszuziehen. Als sie sich weigerte, habe er sie geschlagen und sie dann selbst ausgezogen. Er habe sie am Hals gewürgt und sexuell missbraucht. Kurz soll Jenisa bewusstlos gewesen sein. Als sie wieder zu sich kam, soll der Angeklagte sie aus dem Auto gezogen und so lange mit einem Ast auf ihren Kopf geschlagen haben, bis sie tot war.
Ein Geständnis in Haft
Ibrahim B., heute 44 Jahre alt, geriet damals sofort ins Visier der Ermittler. Er saß lange in Untersuchungshaft, seine Aussage war widersprüchlich, aber ihm konnte nichts nachgewiesen werden. Jenisa wurde nicht gefunden. Ihre Eltern hofften all die Jahre, dass sie noch lebte. Dann, sieben Jahre später, machte Ibrahim B. sein seltsames Geständnis im Gefängnis, samt Ortsbeschreibung. Die Polizei fand daraufhin tatsächlich Jenisas Überreste am Rande eines Maisfeldes. Ibrahim B. war inzwischen zu lebenslanger Haft verurteilt worden, weil er den fünf Jahre alten Jungen umgebracht hatte.
Die Eltern von Jenisa, die Nebenkläger in dem Verfahren sind, litten sieben Jahre unter der Ungewissheit und seit einem Jahr unter der Gewissheit, dass ihre Tochter tot ist. Viele Angehörige der aus Albanien stammenden Familie sind zum ersten Verhandlungstag gekommen. Als die Sitzung kurz unterbrochen wird und der Richter schon den Saal verlassen hat, rufen sie Ibrahim B. „Schwein“ und „Sau“ hinterher. Der reagiert auch darauf nicht erkennbar, lässt sich die Handschellen anlegen und verlässt den Raum. Die Mutter von Jenisa bricht zusammen und muss mit dem Krankenwagen in eine Klinik gebracht werden.
Antrag auf Einstellung des Verfahrens
Der Prozess dürfte kompliziert werden, solange der Angeklagte schweigt und sein schriftliches Geständnis nicht wiederholt. In den ersten Minuten der Verhandlung droht der Prozess sogar zu platzen. Noch bevor die Anklage verlesen ist, stellt Ibrahim B.s Anwältin einen Antrag, das Verfahren einzustellen. Schließlich sei gegen ihren Mandaten in der Sache schon einmal ermittelt worden – ohne Erfolg. Deswegen dürfe ihm jetzt nicht noch einmal der Prozess gemacht werden. Das Gericht lehnt den Antrag zunächst einmal ab: 2007 sei es um Kindesentziehung gegangen, jetzt um Mord. Auch seien die neuen Beweise, nämlich das Geständnis, durchaus vor Gericht verwertbar. Auch dass den Mithäftlingen Erleichterungen in Aussicht gestellt wurden, sei nicht rechtswidrig. Aber der Antrag der Verteidigerin schwebt auch danach über dem Verfahren – der Richter will ihn „im Hinterkopf“ behalten.
Eine Stunde lang wird Jenisas Vater als Zeuge vernommen. Er schildert, dass Ibrahim B., türkischer Staatsbürger, von Anfang an etwas gegen seine Familie, die Roma sei, gehabt habe. Von Rache und Hass ist die Rede. Das soll Ibrahim B. auch in seinem Geständnis als Grund genannt haben, die Roma hätten ihn immer wieder gedemütigt. Und man könne einer Familie nichts Schlimmeres antun, als ihr Kind zu töten. In der Tat: Die Familie sei „kaputt“ seit jenem Tag, sagt Jenisas Vater. Er kann nicht mehr arbeiten, die Mutter ist in psychologischer Behandlung, Jenisas ältere Schwester kümmert sich um sie und ist selbst krank.
Das Gericht muss nun in sieben weiteren Verhandlungstagen beurteilen, ob die Indizien für eine Verurteilung von Ibrahim B. reichen. Das Strafmaß bei einem zweiten Mord liegt in der Summe zwar weiterhin bei lebenslanger Haft. In dem Prozess könnte aber die besondere Schwere der Schuld festgestellt werden. Das würde eine Entlassung nach 15 Jahren verhindern. Der Prozess wird an diesem Mittwoch fortgesetzt.