Neben der in meinem obigen Beitrag erwähnten Aktennotiz gibt es eine weitere, mindestens ebenso fragwürdige Quelle für die Story vom "Tesla Pierce-Arrow". Angeblich hat der auch in der Aktennotiz erwähnte angebliche Neffe von Tesla 1967 in einem Interview von einer Fahrt mit Tesla in dessen mythischen Pierce-Arrow berichtet, die 1931 stattgefunden haben soll. Die Unglaubwürdigkeit beginnt schon damit, dass gesichert ist, dass Tesla überhaupt keinen Neffen mit dem entsprechenden (oder einem ähnlichen) Namen hatte. Ich möchte aber in diesem Beitrag auf einen technischen Aspekt eingehen. In den verschiedenen Berichten über dieses Interview (siehe z.B.
hier) werden einheitlich u.a. folgende Daten genannt: "speeds of up to 90 mph" und "80 hp electric motor". Herr Schneider stellt mit diesen Werten in dem in meinem obigen Beitrag verlinkten Vortrag verschiedene Berechnungen an:
(
BINNOTEC Konferenz 2017 Vortrag Adolf Schneider Teil 2 @15:12)
Der von Herrn Schneider berechnete c
w-Wert von 0,43 ist sehr fragwürdig. Insbesondere aufgrund der oft weitgehend senkrechten Stirnflächen waren bei Autos aus der Zeit bis Anfang der 1930er erheblich schlechtere c
w-Werte eher in der Gegend von 0,7 üblich. Erst später wurden die Formen aerodynamischer. Das folgende Bild zeigt ein Beispiel für einen "normalen" Pierce-Arrow von 1931:
( Quelle:
wikimedia.org, CCA 2.0)
Der Vergleich einer Reihe von Quellen (s. z.B.
https://www.pierce-arrow.org/history/history5.php und
hier) ergab, dass die übliche Motorisierung eines Pierce-Arrow zu dieser Zeit ein 125..132 hp V8-Motor war, mit dem eine Höchstgeschwindigkeit von 85 mph erreicht wurde.
Die Höchstgeschwindigkeit eines Autos mit einer bestimmten Motorleistung auf ebener Strecke wird i.d.R. weitgehend durch den Luftwiderstand bestimmt, weil die notwendige Leistung, um den Luftwiderstand zu überwinden, mit der dritten Potenz der Geschwindigkeit zunimmt, was meist die anderen Einflussfaktoren überdeckt. Die Luftwiderstandskraft berechnet sich grob nach folgender Formel (A = Stirnfläche, rho
luft = Dichte der Luft):
F = c
w * A * 1/2 * rho
luft * v
2Die Motorleistung lässt sich in folgende Kraft umrechnen:
F = P / v
Aus der Gleichsetzung der Formeln ergibt sich (CBRT = Cube Root = Dritte Wurzel):
P / v = c
w * A * 1/2 * rho
luft * v
2 -> v = CBRT(P / (c
w * A * 1/2 * rho
luft))
Mit dieser Formel kann man selbst mit groben Annahmen für den c
w-Wert und die Stirnfläche in vielen Fällen recht brauchbar die erreichbare Höchstgeschwindigkeit eines Autos berechnen, siehe z.B. folgendes
Paper (pdf) (Archiv-Version vom 04.03.2016).
Für die folgenden Berechnungen zunächst die Umrechnung der o.g. Werte auf metrische Masseinheiten (hp entspricht übrigens zwar ungefähr, aber nicht genau PS):
80 hp ≈ 60 kW
90 mph ≈ 40 m/s ≈ 145 km/h
125 hp ≈ 93 kW
85 mph ≈ 38 m/s ≈ 137 km/h
Leider war in den 1930ern noch keine Angabe des c
w-Werts in den technischen Daten üblich, und auch zur Stirnfläche habe ich keine eindeutigen Angaben gefunden. Der c
w-Wert sei daher (wie oben erwähnt) auf 0,7 und die Stirnfläche grob auf 3 m
2 geschätzt. Für die Höchstgeschwindigkeit ergibt sich daraus bei der Standard-Motorisierung mit 125 hp ≈ 93 kW:
v = CBRT(93000 W / (0,7 * 3 m
2 * 1/2 * 1,3 kg/m
3)) ≈ 41 m/s ≈ 148 km/h
Der Wert ist ca. 8% höher als die tatsächlich angegebene Höchstgeschwindigkeit von 85 mph ≈ 38 m/s ≈ 137 km/h, d.h. vermutlich ist entweder der c
w-Wert oder die Stirnfläche noch zu niedrig geschätzt. Bei dem von Herrn Schneider angenommenen c
w-Wert von 0,43 ergäbe sich eine Höchstgeschwindigkeit von ≈ 48 m/s ≈ 173 km/h, was unrealistisch ist.
Interessanterweise gibt es die Möglichkeit, aus einem gegebenen Wertepaar für Motorleistung und Höchstgeschwindigkeit eines bestimmten Autos die näherungsweise Höchstgeschwindigkeit für eine andere Motorleistung zu berechnen (oder umgekehrt),
ohne den c
w-Wert und die Stirnfläche zu wissen oder auch nur zu schätzen. Dazu löst man die obige Formel zunächst nach dem Produkt aus c
w-Wert und Stirnfläche auf:
P / v = c
w * A * 1/2 * rho
luft * v
2 -> c
w * A = P / (1/2 * rho
luft * v
3)
Nun kann man den linken Teil der erhaltenen Formel für zwei Wertepaare aus Motorleistung und Höchstgeschwindigkeit gleichsetzen:
P
1 / (1/2 * rho
luft * v
13) = P
2 / (1/2 * rho
luft * v
23) -> P
1 / v
13 = P
2 / v
23Daraus ergibt sich:
v
2 = v
1 * CBRT(P
2 / P
1)
Setzt man in diese Formel das Standard-Wertepaar für Motorleistung und Höchstgeschwindigkeit, und die angebliche Motorleistung in der "Tesla-Version" (= 80 hp ≈ 60 kW) ein, ergibt sich:
v
2 = 38 m/s * CBRT(60000 W / 93000 W) ≈ 33 m/s ≈ 119 km/h ≈ 74 mph
Der in der "Tesla Pierce-Arrow"-Story angegebene Wert von 90 mph liegt ca. 22% über diesem Wert. Diese Berechnung ist relativ zuverlässig, weil sie ohne den c
w-Wert und den Wert für die Stirnfläche auskommt. Es ist daher unrealistisch, dass sich mit einem Pierce-Arrow aus dieser Zeit mit einem 80-hp-Motor eine Höchstgeschwindigkeit von 90 mph in der Ebene erreichen lässt.
Die "Tesla Pierce-Arrow"-Story ist nichts weiter als eine Fantasiegeschichte.