Richtet die Ethik die Menschheit zugrunde?
15.06.2006 um 20:24
Fast alle von uns wachsen heutzutage im Kraftfeld von Glaubenssätzen, Vorurteilen undÜberzeugungen heran, die unserer direkten Erfahrung und der Warhnehmung unseres Herzensgenau entgegengesetzt sind. Wie das Kind im Märchen "Des Kaisers neue Kleider" kommen wirzur Welt mit einem klaren, unverstellten Blick auf die Wirklichkeit, -mit dem allesdurchschauenden Blick, der aus den Augen jedes Neugeborenen leuchtet. Wir wussten allesüber uns selbst und wir wussten alles über jeden anderen Menschen. Wir wussten, welcheNahrung uns zum leuchten bringt, die Nahrung, die uns noch ein Jahr vor unserer Geburt amLeben erhielt und die einen Namen trägt: bedingungsloses Annehmen, bedingungslose Liebe.Doch schon nach wenigen Wochen des Besuchs in dieser Welt legten sich die ersten Schleierüber dieses kraftvolle Licht. Für viele von uns ist der Lauf des Heranwachsens undErwachsenwerdens ein langsames Eintauchen und Versinken in der Lüge - anfangswiderstrebend und zögernd, ungläubig, jede Falschheit und Heuchelei der Erwachsenenmühelos durchschauend. Wie ein gewaltiger Schraubstock wirkte die Lüge, senkte sichunmerklich langsam auf uns herab und quetschte uns in die Pressform des Zeitgeistes, jeneModellsammlung von Ideologien, Moralvorstellungen und Denkweisen, die uns vom Blick aufdie Wahrheit fernhalten soll, die uns der Liebe entwöhnt, der einzigen echten Nahrung fürunsere Seele.
Widerstand ist sinnlos und wir leisten ihn nicht lange. DieSchmerzen der Isolation und der Einsamkeit als kleines, schwaches Kind im Kampf umWahrheit und die LIebe, die wir wie einen SChatz in uns tragen, überwiegen nach und nachdie Schmerzen der Gewöhnung an die Lüge und lassen Heuchelei und Anpassung an denWahnsinn als das kleinere Übel erscheinen. Anfangs erkennen wir noch, dass Zuckerbrot undBelohnungen, die uns die Schmerzen des Lügenlernens betäuben helfen sollen, reines Giftsin, dass es nur die Bestechungsgelder der "normalen Welt" der Lüge sind, die Ersatzdrogefür die Liebe. Anfangs versuchen wir sie noch zurückzuweisen, weil unsere Sinne und unserHerz das Gift erkennen, doch dann lassen unsere Kräfte nach. Strafen geben uns denletzten Anstoss, das Falsche als das "normale" zu akzeptieren, und uns mit denBrotkrümeln im Keller des Hauses der Wahrheit abzufinden.
Verwundet, zögernd und nochunbewusst hungernd nach dem Wesentlichen, später dann sogar um jeden Preis wollen wir insdas falsche Leben hineinwachsen, wollen mitmachen und dabei sein - einfach, weil dieEinsamkeit des Erkennens der Wahrheit unerträglich ist, weil scheinbar niemand da ist,der die eigene Warhnehmung teilt, weil fast alle Älteren die eigene Vergangenheit imLicht schon vergessen haben. Bis wir schliesslich ganz aufgeben und uns in brave, vollangepasste Mitglieder der Gesellschaft verwandeln, die jedes falsche Spiel mitspielen.
Schwachen Trost für manche, machtvolle Selbsttäuschung für viel spenden dieGedanken: "Wenn ALLE so handeln, kann es so falsch nicht sein. Wenn ALLE so fühlen, musses richtig sein. Ich bin derjenige, der verrückt ist, wenn ich sehe, was ich sehe, wennich spüre, was ich spüre." - So schwindet allmählich die Erinnerung an die Zeit desAnfangs, an die Zeit der Wahrheit und Liebe.
Die falsche Welt lehrt uns, das Leidenan ihr und die Schmerzen des ausgehungerten Herzens mit gedanklichen Winkelzügen zuverschleiern und zu betäuben: Blanke Habgier und gelber Neid verwandeln sich inlobensweren "Ehrgeiz" und verdienstvolles "Erfolgsdenken". Angst nennen wir"Zurückhaltung", "Takt" und "weise Vorsicht". Lähmende Trägheit wird zu "Lebenskunst,Gelassenheit, Muße". Gereizte Ungeduld heisst "frohe Erwartung, schöpferische Unrast,Euphorie". Man spendet Applaus für konfuse Gefühlsausbrüche und banale Hobbys und nenntsie "Kreativität" und "Kunst". Körperliche Lustgefühle und benebelte, angenehmeGefühlsverwirrungen, die so schnell gehen wie sie kamen, verwechselt man auf Geheiss derExperten mit "Liebe". Rachedurst und Unversöhnlichkeit lassen Psychotherapeutenentschuldigend von "Kindheitsschock", Pfarrer vom "Zorn des Gerechten" und Politiker von"Geradlinigkeit" sprechen. Schliesslich wird der Schleier so dicht, dass er wie eineMauer wirkt, die ein Gefängnis umschliesst, und die Freiheit vor ihren Toren vergessenmacht. Alle altgedienten Insassen helfen uns, die eigene Zelle wohnlich einzurichten, undbringen uns die Sprache des Gefängnisses bei: Das Gefängnis nennen wir zuletzt "die Welt,so wie sie ist".
Jeder Blick nach draussen, jede Botschaft, die auf Freiheitausserhalb der Mauern hinweiss, wird schliesslich zur Bedrohung unseres eingebildetenFriedens. Früher töteten wir die Botschafter von draussen, die Freiheitshelden, die unsunsere Wirklichkeit vor Augen führten, heute ignorieren wir sie oder bekämpfen sie mitder fürchterlichsten Waffe, die es gibt: mit unseren Gedanken. Und dennoch, für Sekundendringt manchmal ein Lichtstrahl durch die Mauern, durch die kleinen Lücken, die unserGespür freilässt. Um ihn abzuwehren, haben wir den Zwang zur Rechtfertigung und Erklärungerfunden. Pausenlos rechtfertigen wir uns, vierundzwanzig Stunden am Tag, um unsereninneren Kern, den Ort, an dem unser unfehlbares Gespür sitzt und wacht, betäubt zu haltenund dem Licht, das es aussstrahlt, nicht zu gestatten, die Wirklichkeit zu beleuchten -die Tatsache nämlich, dass wir jederzeit dem Gefängnis entkommen können.
Wirrechtfertigen oder bekämpfen Gewalttätigkeit und erklären sie nur "Natur" des Menschen,statt zu erkennen, was sie ist: Immer der SChmerzruf einer Seele, die endlich einmalbedingungslos geliebt werden will, weil es ihre einzige Nahrung ist. Wir rechtfertigenBequemlichkeit und erklären sie zu "angeborenen" Trägheit es Menschen, statt zu erkennen,was sie ist: Immer das Signal einer Seele, die sich gegen den absurden "Lebenssinn", denihr die Welt aufgeschwatzt hat, wehren will, aber ohne Gefühl für Richtung und ohnemutige Entschlossenheit angstvoll und hilflos bleibt. Wir rechtfertigen Habgier underklären sie zum "gesunden Ehrgeiz", statt zu erkennen, was sie ist: immer der Versucheines ausgetrockneten Herzens, in seiner Angst vor dem Tod die Gefängniszelle zuvergolden. Wir rechtfertigen Atomkraft und Gentechnologie und erklären sie zum Ausdruckdes "angeborenen Forscherdrangs" des Menschen, statt zu erkennen, was sie bedeuten: immerder Ausdruck eines angstvollen Geistes, der alles unter Kontrolle haben will, und nichterkennt, dass der Mensch schon vollkommen ist, wie er ist, dass die Natur alles schenkt,was er braucht, dass er den Schlüssel zur Gefängniszelle in der eigenen Tasche trägt.Ausdruck eines Geistes, der nicht erkennen will, dass alles, was unvollkommen ist, seinemeigenen Denken und Fühlen entspricht, von Anfang an.
Endlos rechtfertigen wir, undvielen von uns gelingt es sogar, die Erinnerung an die Wahrheit, Freiheit und Liebe sosehr zu vergessen, dass sie sich den Rest ihres Lebens mit einem Schatten des wahrenGlücks zufriedengeben und ihre Tage damit verbringen, die Gitterstäbe der Gefängniszellezu vergolden oder rastlos von einer Zelle zur anderen wandern, in der Selbsttäuschung,dass sich damit etwas ändert oder verbessert.