Wieviel Kraft haben unsere Gedanken?
18.05.2006 um 20:28
Ja da stimme ich Dir zu Geraldo, diese Betrachtungsweise rührt aus einernaturwissenschaftlichen Betrachtung heraus und gerade deshalb finde ich diese umsofaszinierend und möchte bei diesen Betrachtungen diesen Aspekt nicht unbedingt missen,schon gar nicht, wenn man den Dingen auf den Grund gehen möchte. Ich muss Dir ehrlichgestehen, dass diese Betrachtungen für mich durchaus eine neue Dimension eröffnet, da wieDu, ebenso korrekt schlussfolgerst, dass es der Emotion dadurch eineneigenständigen Realitätserschaffenden Charakter verleiht. Dies wird ja eigentlichauch so erkannt, bei all diesen Untersuchungen, ist die Emotion das Ergebnis einerSituationseinschätzung durch den Organismus und es dabei keine Rolle spielt,dass die Bewertung dem Selbst nicht richtig bewusst wird.
Richtigoffensichtlich wurde dies, als ich von einer Behandlung an einer aufgetretenenneurologischen Beeinträchtigung eines Patienten hörte, welcher von einem Team am[b]Krankenhaus Salpêtrière in Paris behandelt wurde. Sie war 65 Jahre alt und wieseine lange Krankengeschichte mit Parkinson- Symptomen auf, die nicht mehr auf Levodopa(nicht proteinogene Aminosäure) ansprachen. Sie hatte vor und nach Ausbruch der Krankheitnie Anzeichen von Depressionen erkennen lassen. Noch nicht mal unterStimmungsschwankungen hatte sie gelitten, einer häufigen Nebenwirkung von Levodopa.Psychiatrische Störungen waren weder bei ihr noch in ihrer Familie jemals aufgetreten.
Sobald die Elektroden angebracht waren, verlief die Prozedur zunächst genauso,wie sie sich bei neunzehn anderen Patienten dieser Gruppe dargestellt hatte. Die Ärtztestellten fest, dass ein Elektrodenkontakt die Symptome der Frau erheblich milderte. Dochdas Unerwartete trat ein, als der elektrische Strom durch eine der vier Kontaktstellenauf der linken Seite der Patientin floss, genau zwei Millimeter unter der Kontaktstelle,an der ihr Zustand so verbessert werden konnte. Die Patientin unterbrach das Gespräch,das sie gerade führte, richtete die Augen nach rechts unten, lehnte sich dann ein wenignach rechts und zeigte den [b]emotionalen Ausdruck von Traurigkeit. Nach einigenSekunden begann sie plötzlich zu weinen. Tränen liefen ihr über das Gesicht, und ihrganzes Verhalten brachte Kummer zum Ausdruck. Sie begann zu schluchzen, und währenddieser Ausbruch anhielt, begann sie zu erklären, wie unendlich traurig sie sich fühle,dass sie keine Kraft mehr habe, dieses Leben fortzusetzen, wie hoffnungslos und erschöpftsie sei. Auf die Frage, was denn passiert sei, antwortete sie sehr aufschlussreich:
Ich stürze in meinen Kopf ab, ich möchte nicht mehr leben, niemanden sehen, nichtshören, nichts fühlen…
Ich habe das Leben satt, ich habe genug…
Ich möchte nichtmehr leben, das Leben ekelt mich an…
Alles ist sinnlos… Ich fühle mich wertlos
Ich habe Angst in dieser Welt.
Ich möchte mich in einer Ecke verstecken…
Ichweine natürlich um mich selbst. Es ist alles so hoffnungslos, warum belästige ich Siedamit?
Der für die Behandlung verantwortliche Artzt erkannte, dass derelektrische Strom für dieses ungewöhnliche Ereignis verantwortlich war, und brach dieBehandlung ab. Ungefähr 90 Sekunden nach Abschalten des Stromes normalisierte sich dasVerhalten der Patientin wieder. Das Schluchzen hörte [b]genauso unvermittelt auf, wiees begonnen hatte. Die Traurigkeit verflüchtigte sich aus dem Gesicht der Patientin. Auchdie sprachlichen Bekundungen ihrer Traurigkeit verstummten. Schon nach kürzester Zeitlächelte sie wieder, wirkte entspannt und war während der nächsten fünf Minutenausgelassen, sogar fröhlich. Was es damit auf sich habe, wollte sie wissen. Sie habe sichschrecklich gefühlt, aber nicht gewusst, warum. Wodurch sei diese entsetzlicheVerzweiflung hervorgerufen worden? Sie war genauso verblüfft wie die Beobachter.
Dabei war die Antwort auf ihre Fragen vollkommen klar. Der elektrische Strom warnicht, wie beabsichtigt, in die allgemeinen motorischen Zentren geflossen, sondernstattdessen in einen der Hirnstammkerne, die bestimmte Verhaltensweisen kontrollieren.Die Gesamtheit dieser Handlungen ruft die Emotion der Traurigkeit hervor. Zu diesemRepertoire gehören Bewegungen der Gesichtsmuskulatur, Bewegungen von Mund, Rachen,Kehlkopf und Zwerchfell, das am Weinen und Schluchzen beteiligt ist, und dieverschiedenen Handlungen, die zur Produktion und Beseitigung von Tränen notwendig sind.
Es hatte den Anschein, als sei in Reaktion auf den Schalter, der ausserhalb desGehirnes betätigt worden war, auch einer im Gehirn umgelegt worden. Das [b]gesamteHandlungsrepetoire wurde abgerufen wie bei einem gut vorbereitetenInstrumentalkonzert, jeder Schritt zur rechten Zeit am rechten Ort, sodass der[b]Eindruck entstehen musste, [b]das Resultat bezeuge die Existenz von Gedanken,die Traurigkeit hervorrufen – die Existenz von emotional besetzten Reizen, nur dassnatürlich [b]keine derartige Gedanken vor dem unvermuteten Zwischenfall vorhandenwaren und dass die Patientin nicht zu solchen Gedanken neigte. Die auf diese Emotionenbezogenen Gedanken stellten sich [b]erst nach der Emotion ein.
Denkst Dunicht auch Geraldo, dass wir solche Vorkommnisse und Beobachtungen in die Betrachtungenmitberücksichtigen sollten. Die Abfolge von Ereignissen bei dieser Patientin zeigt, dass[b]zuerst die Emotion Traurigkeit da war. Dann folgte das [b]Gefühl derTraurigkeit, zusammen mit [b]Gedanken jener Art, die gewöhnlich die EmotionTraurigkeit hervorrufen und begleiten können, Gedanken, die charakteristisch sind für dieGemütsverfassung, von der es umgangssprachlich heisst, „ich bin traurig“. Sobald dieStimulation aufhörte, liessen die Manifestationen nach und verschwanden. Emotion undGefühl waren nicht mehr zu beobachten. Und auch die bedrückenden Gedanken waren wiederfort.
Die Bedeutung dieses aussergewöhnlichen neurologischen Zwischenfalls liegtdoch auf der Hand. Unter normalen Bedingungen lässt sich nicht erkennen, in welcherReihenfolge sich Emotionen, Gefühle und entsprechende Gedanken einstellen, dazu gehtalles zu schnell. Wenn normalerweise Gedanken, die für Emotionen verantwortlich sind, imBewusstsein auftauchen, verursachen sie Emotionen, die Gefühle hervorrufen; diesebeschwören andere thematisch verwandte Gedanken herauf und tragen meist zu einerVerstärkung des emotionalen Zustands bei. Die heraufbeschworenen Gedanken können sogarals [b]unabhängige auslösende Reize für weitere Emotionen fungieren und auf dieseWeise den [b]vorhandenen affektiven Zustand potenzieren. Mehr Emotion ruft mehrGefühl hervor, und dieser [b]Kreislauf setzt sich fort, bis Ablenkung oder Vernunftdem Ganzen ein Ende setzt.
Wenn all diese verschiedenen Phänomene in vollemGange sind – die Gedanken, die Emotionen hervorrufen können, die Verhaltensweisen derEmotion, die mentalen Erscheinungen, die wir Gefühle nennen, und die Gedanken, die eineKonsequenz dieser Gefühle sind-, lässt sich mittels Selbstbeobachtung kaum nochentscheiden, was zuerst da war. Der Fall der Patientin hilft uns, die unübersichtlicheSachlage zu klären. Bevor sich bei ihr eine Emotion namens Traurigkeit einstellte, hattesie keine Gedanken, die geeignet gewesen wären, Traurigkeit hervorzurufen, und empfandauch kein Gefühl der Traurigkeit. Nichts dergleichen. Zuerst kam die Emotion, dann dasGefühl. Die Ereignisse lass zweierlei erkennen: die [b]relative Autonomie der neuronalenAuslösemechanismen von Emotionen und die Abhängigkeit des Gefühls von der Emotion.
Klar stellt sich an diesem Punkt die Frage, warum das Gehirn der Patientin[b]überhaupt Gedanken von der Art hervorrief, die normalerweise Traurigkeit auslösen,obwohl doch die Emotion und das Gefühl nicht durch die entsprechenden reizen motiviertworden waren? Die Antwort hat nun zu tun mit der Abhängigkeit des Gefühls von der Emotionund mit den faszinierenden Wegen, die unser Gedächtnis geht. Wenn sich die EmotionTraurigkeit ausbildet, folgen ihr augenblicklich Gefühle der Traurigkeit nach. Kurzdarauf bringt das Gehirn jene Art der Gedanken hervor, die normalerweise die EmotionTraurigkeit und Gefühle von Traurigkeit bewirken. Der Grund dafür ist, dass wir durchassoziatives Lernen Emotionen und Gedanken zu einem komplexen wechselseitigen Netzmiteinander verknüpft haben. Bestimmte Gedanken rufen bestimmte Emotionen hervor undumgekehrt. Auf diese Weise stehen die Ebenen der kognitiven und der emotionalenVerarbeitung in ständiger Verbindung miteinander. Dieser Effekt lässt sich ja bereitsexperimentell nachweisen.
Also ich würde daher Geraldo, Deine Vermutung, einerirrigen Schlussfolgerung einer analogen Autarkie der Emotionen vom Wesen her noch einmalüberdenken, weil ich denke nicht, dass wir bei all diesen Betrachtungen die obengenannten Vorkommnisse einfach ausblenden können und wenn, dann müssten wir denn dochauch plausible Gründe dafür ausfindig machen können. Also für mich zumindest oderbetreffend Deiner gemachten Annahme, dass es sich gerade umgekehrt verhalten solle.[/b1][/b0][/b9][/b8][/b7][/b6][/b5][/b4][/b3][/b2][/b1][/b0][/b][/b][/b][/b]