1. Ich gehe davon aus, Menschen ertragen das evolutionär vollkommen unbekannte Gefühl von realem Glück und realer Sorgenfreiheit nicht, das die heutigen (westlichen) Rechts- und Sozialstaaten ihnen bieten.
Sie sind evolutionär auf Sorgen und Grübeleien programmiert.
Wenn man aus technischen und historischen Gründen keine echten Sorgen hat und es nichts wirklich Existenzielles zu durchgrübeln gibt, macht sich wahrscheinlich irgendein Hirnareal selbständig und fängt an, Sorgen und Beunruhigungen zu konstruieren, die es realiter nicht gibt.
SpoilerSo ähnlich also, wie das Gehirn uns überall Gesichter/Figuren vorspiegelt, in Wolken zum Beispiel.2. Menschen sind phantasiebegabt. Es bereitet ihnen Freude, sich etwas auszudenken, etwas auszuschmücken, Details zu beobachten und kausale Zusammenhänge herzustellen. Je jünger, desto ausgeprägter ist diese Eigenschaft (in einem richtigen Berufsleben hat man überhaupt keine Zeit für so etwas). Menschen mit dem gleichen Spleen finden sich im Internet zu Gruppen zusammen und diskutieren ihre Fiktionen. Das verselbständigt sich und nimmt "Wahrheitscharakter" an.
3. Der häufig genannte Dorftrottel-Effekt. Der Lokalspinner darf davon ausgehen, unter 8 oder 9 Milliarden Artgenossen auf andere zu stoßen, die ihm endlich mal zuhören und ihn nicht nur auslachen. Und man kann damit Kasse machen, wenn man sich geschickt anstellt. Supi.
4. Das Streben nach Wissen ist ein menschliches Grundbedürfnis. Dieses Streben ist rein formal. Mit welchen Inhalten man dieses Bedürfnis füttert, ist höchst individuell. Es gibt Leute, die interessieren sich für Royals oder Promis, für Ligatabellen oder Waffengattungen. Manche interessieren sich für "Geheimwissen".
:D Es ist doch ein tolles Gefühl, etwas zu wissen, worüber Andere sich noch nie einen Gedanken gemacht haben. Man erntet Aufmerksamkeit, Staunen, erweckt Irritation, fühlt sich wichtig und kompetent (was einem bislang weder Schullehrer, Ausbilder, Ehepartner noch sonstwer bestätigt haben).
5. Ja, Oberflächlichkeit (a.k.a. "Dummheit") grassiert. Wenn man nichts wirklich weiß, weiß man halt nicht, was man überhaupt wissen kann. Nicht jeder schlägt erst mal in der
Kritik der reinen Vernunft oder in der
Kritik der Urteilskraft nach um zu kapieren, dass Gedanken zwar frei sind, aber in ihrer Freiheit auch komplett irre sein können.
6. Menschen akzeptieren keinen Zufall. Menschen können nicht anders denken als in bestimmten Verstandeskategorien, wozu auch die zwanghafte Ableitung von Kausalitäten gehört. Sie können es nicht.
:D Eine dem Verstand übergeordnete ordnende Instanz, die Vernunft, muss zusätzlich eingeschaltet werden.
Ich bin aus biographischen Gründen erst spät auf das Internet-Phänomen VT gestoßen. Als Wissenschaftler hielt ich es irgendwie für meine Pflicht, "Aufklärungsarbeit" zu leisten. Ich habe sinnlos Lebenszeit vergeudet, ehe ich kapierte, dass der Sinn der VT die VT selbst ist. Ganz derb selbstreferenziell. So eine Art Hobby von den Leuten (= Tätigkeit, an der man Freude hat und für die man sich frei entscheidet). Auch Hobbies können bei ungünstigen psychologischen Voraussetzungen zum persönlichkeitsbeherrschenden Wahn werden.
Noch immer stehe ich vor dem Dilemma: "Wie umgehen damit". Sich einen grinsen? Versuchen zu argumentieren? Laufen lassen?
Ich bin glücklicherweise in der Position, ganz einfach den Kontakt mit Spinnern vermeiden zu können. Ob diese Spinnereien gesellschaftszersetzende Folgen haben werden, hoffe ich nicht mehr mitzubekommen. Die Gnade der frühen Geburt, gewissermaßen. ;-)