newbee schrieb:Aber ist es nicht so dass der Neanderthaler nie wirklich ausgestorben ist?
Die Art Homo neandertalensis ist verschwunden, sie ist in diesem Sinne ausgestorben. Es gab Hybridisierungen, sodaß ein Teil der Neandertaler-DNA in den Genpool des Homo sapiens gelangte. Aber auch hier gilt, die Hybridisierung führte nicht dazu, daß nun eine gemeinsame Hybrid-Spezies entstanden wäre. Der Genpool des Homo sapiens besteht noch immer, er ist nur um Genvariationen reicher geworden.
Zwar besitzen die meisten Menschen in ihrem individuellen Genom einen kleinen Neandertaler-Anteil, doch ist dies nicht bei allen Betreffenden stets der selbe Genabschnitt. Bei jedem Menschen mit Neandertaler-Passagen können je andere Genabschnitte betroffen sein als bei anderen. Mit anderen Worten, für jeden einzelnen Genabschnitt unseres Genoms gibt es zahlreiche Sapiens-Varianten, sodaß das Sapiens-Genom in der heutigen Menschheit vollständig vertreten ist. Die verschiedenen Genpassagen des Neandertalers, die in den diversen Menschen vorkommen, ergeben aber kein vollständiges Neandertaler-Genom, hab mal was von 2/3 gelesen. Insofern stellen die Neandertaler-Gene in unserem Genpool wirklich nur ein erhöhtes Variationsspektrum an Variationen dar, aber "der Neandertaler steckt" nicht mehr gänzlich "in uns drin".
Es sind Hybridisationsspuren, keine "Vereinigung zweier Arten zu was Neuem".
Immerhin wäre es denkbar, daß die Neandertaler dennoch komplett als Art in uns aufgegangen wären, sie also nicht "als Population ausgestorben" sind. Also wenn über längere Zeit hinweg immer wieder einige Neandertaler sich mit Sapiensen eingelassen hätten und die Nachkommen dann bei den Sapiens-Leuten lebten, in jeder Generation wie der und wieder, bis auch die letzten Neandertaler sich mit Sapienspartnern verbanden. Da es weniger Neandertaler als Sapiense gegeben zu haben scheint, wäre das vollständige Aufgehen des Neandertalerpools im Sapienspool für letzteres nur eine partielle Anreicherung gewesen. Insofern wären die Neandertaler nicht in dem Sinne ausgestorben, daß es irgendwann keine Nachkommen mehr gegeben hätte. Als Art aber wären sie dennoch ausgestorben = verschwunden.
Aber wir wissen es schlicht nicht. Es ist genauso möglich, daß von den Neandertalern nur ein kleinerer Teil sich mit Sapiens-Menschen vermischte, die Mehrheit aber nicht, und die wäre dann durchaus nachkommenlos verschwunden. Also "richtig ausgestorben". Das ist nicht vom Tisch, nur weil einige sich vermischt haben.
newbee schrieb:Und es gibt Mutmaßungen warum der letztlich von der Bildfläche verschwand.
Zu wenig Sex!
So simpel dann doch nicht. Die Neandertaler bzw. ihre Vorgänger können ja nicht als Hunderttausend-Population vom Himmel gefallen sein und sich ab da dank zu geringer Nachkommenproduktion dann bis hin zum Aussterben minimiert haben. Irgendwann muß die Spezies entstanden sein und sich zu besagtem Hunderttausend-Leute-Völkchen vermehrt haben.
Nein, die europäische Nichtsapiens-Menschenpopulation lebte über mehrere hunderttausend Jahre hinweg hier, sicher mit Schwankungen in der Populationsgröße, aber über lange Sicht hinweg durchaus stabil. Immerhin aber erlebten diese frühen Europäer über die Jahrhunderttausende mehrere Wechsel von Kalt- und Warmzeiten, incl. großer Kaltzeitschwankungen und Zwischenwarmzeiten. Dies führte regelmäßig zu verringerten Populationsgrößen. In stabileren bzw. wärmeren Phasen konnte die Population zwar wieder vergrößert werden, aber der Genpool verarmte durch diese "Flaschenhälse" dennoch mehr und mehr. Dies immerhin könnte dazu geführt haben, daß mit fortschreitender Zeit immer häufiger Inzestprobleme auftraten, die Sterblichkeitsrate sich erhöhte usw.
Es gab auch in weit früheren Zeiten immer mal "Neuzugänge", welche den verarmenden Genpool der "frühen Europäer" auffüllte. Obwohl Europa schon seit mehr als 700.000 Jahren von Menschenformen bewohnt ist, haben sich die Vorfahren von Neandertaler und Sapiens erst vor ca. 500.000 Jahren getrennt. Bis dahin müssen die europäischen und die afrikanischen Vorfahrengruppen (oft Heidelbergensis genannt) sich also noch oft genug vermischt haben. Doch auch später gelangte noch einiges an Genfluß unserer afrikanischen Vorfahren nach Europa. So sind Neandertaler und Denisovaner enger miteinander verwandt, müssen sich irgendwann vor rund oder knapp 400.000 Jahren voneinander getrennt haben. Der genetische Abstand des Sapiens zu Neandertaler und Denisovaner ist größer, und zwar zu beiden Arten etwa gleich groß. - Nicht aber im männlichen Y-Chromosom. Hier stehen Neandertaler und Sapiens einander deutlich näher als Neandertaler und Denisovaner. Gerade beim Erbgut, welches nur von einem Elternteil vererbt wird, machen sich "Flaschenhälse" schneller negativ bemerkbar, und hier können "Neuzugänge" sich schneller und auch stärker ausbreiten und sogar durchsetzen, wenn sie einen Vorteil erbringen. Offenbar ist genau dies beim Neandertaler-Y-Chromosom passiert, es wurde stark "sapiensisiert".
Solange die Alteuropäer mit ihren regelmäßigen Genpool-Verarmungen dennoch "frisches Blut von außen" bekamen, konnten sie also weiterhin eine stabile, gesunde Population ausbilden, sein und bleiben. Sollte aber diese "externe Frischzellenkur" mal für längere Zeit ausgefallen sein, könnten die Neandertaler einen "kranken" Genpool entwickelt haben, der schließlich zu ihrem Rückgang und Aussterben geführt hat. Am Ende gab es dann ja wieder Hybridisationen, aber womöglich war es da schon zu spät. Und womöglich erfolgten Hybridisationen nur in die Richtung, daß die, die sich vermischten, zu den Sapiensen gingen und deren Genpool bereicherten. Der Neandertaler-Genpool wäre auf diese Weise höchstens noch stärker verarmt.
Die Faktenlage genetischer Auswertungen (ganz zu schweigen vom Fossilbefund) ergibt noch kein deutliches, aussagekräftiges Bild, wir wissen noch immer viel zu wenig, um das näher beschreiben zu können, woran es nun lag. Nur eines zeichnet sich ab: der Neandertaler scheint kulturell und mental nicht unterlegen gewesen zu sein, auch was das Erschließen der Nahrungsressourcen betrifft, stand er nicht schlechter da als die hinzukommenden Sapiense.