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11.04.2022 um 20:47Essi Sutinen HShttps://www.hs.fi/ulkomaat/art-2000008728595.html
19:43
Ausland|HS-Interview
Merkels Ex-Berater: Der isolierte Putin wurde zum Außenseiter, der anfing, an seine eigenen Hirngespinste zu glauben, und dem man nie wieder trauen kann
Christoph Heusgen, ein Experte für deutsche Außenpolitik, sagt, dass Putin während der Pandemie begann an seine eigenen Fantasien zu glauben. Jetzt ist Putin zu einem "internationalen Außenseiter" geworden.
Präsident Wladimir Putins Russland kann man nie wieder trauen. Deutschland scheiterte, als es versuchte, durch eine Intensivierung der gemeinsamen Energiepolitik eine gemeinsame Basis mit Russland zu finden.
Das sagt Christoph Heusgen, 67, ein angesehener deutscher Diplomat, der als außenpolitischer Berater der ehemaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel und als deutscher Botschafter bei der UNO tätig war. Er war auch Vorsitzender der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar.
Heusgen sagte, der Beitritt Finnlands zur NATO sei ein großer Vorteil. Finnland würde die Natomitgliedschaft auch ohne jeglichen Widerstand innerhalb des Bündnisses erhalten", vermutet er.
Heusgen wurde während eines Finnlandbesuchs von HS zu Merkels Russlandpolitik, der europäischen Energiepolitik und Finnlands NATO-Mitgliedschaft befragt.
Bis zum Beginn der russischen Invasion glaubten viele, dass für Putin zu viel auf dem Spiel steht und er die Ukraine nicht angreifen würde.
"Wenn man sich die Reden ansieht, die er gehalten hat, war er bei vielen Gelegenheiten sehr aggressiv. Gleichzeitig hätte ich nicht gedacht, dass er die gesamte Ukraine angreifen würde. Am Ende der Münchner Sicherheitskonferenz vier Tage vor dem Anschlag konnte man spüren, dass [der Westen] sehr stark bereit war, auf einen russischen Angriff zu reagieren."
"Ich glaube, wir haben unterschätzt, wie stark sich das Coronavirus auf Putin ausgewirkt hat. In den letzten zwei Jahren hat er sich von ausländischen Besuchern regelrecht abgeschottet. Bundeskanzlerin Merkel hatte zwei Jahre lang keine Gelegenheit, sich mit ihm zusammenzusetzen. Ich glaube, so hat Putin angefangen, an seine eigenen Fantasien zu glauben.“
Hat Merkel Putin unterschätzt?
"Ich kann nicht für die Bundeskanzlerin sprechen, aber ich kann Euch als ehemaliger Berater von ihr und ehemaliger UN-Botschafter sagen, dass ich mir keine Illusionen über Putin gemacht habe. Ich wusste, dass er kein Demokrat war und sich nicht um das Völkerrecht scherte. Aber ich dachte, er sei ein Realist".
"Dennoch ist er in die Ukraine eingefallen. Mir war nicht bewusst, dass er eine so irrationale Seite hat. Das ist nicht das, was ich persönlich erwartet habe.
Wenn Merkel am Tag des Kriegsausbruchs noch an der Macht gewesen wäre, was hättest Du ihr dann geraten? Wäre die Reaktion Deutschlands die gleiche gewesen wie die von Olaf Scholz?
"Wie die Amerikaner zu sagen pflegten, konnte nur Richard Nixon nach China gehen. Nur ein sozialdemokratischer Kanzler würde die sozialdemokratische Politik um 180 Grad drehen. Ich weiß nicht, ob sich die SPD so viel verändert hätte, wenn sie in der Opposition gewesen wäre."
Der polnische Premierminister Mateusz Morawiecki hat erklärt, dass man mit Kriegsverbrechern nicht verhandeln sollte. Sollte Europa noch mit Putin verhandeln?
"Wenn man sich all die internationalen Abkommen ansieht, die Putin verletzt hat, kann man ihm nicht mehr trauen. Er ist zu einem internationalen Aussenseiter geworden. Er hat die Zivilisation gebrochen. Putin ist verantwortlich für die begangenen Kriegsverbrechen, es sind Verbrechen gegen die Menschlichkeit".
Können die Beziehungen zwischen Deutschland und Russland eines Tages wiederhergestellt werden?
"Russland unter Putin kann nicht mehr dasselbe sein. Nach Putin ist Russland immer noch ein Nachbar von Europa und Finnland. Es gibt Bereiche, in denen Russland seine Rolle hat. Wenn man über den Klimawandel, die biologische Vielfalt, sogar über Gesundheit oder globale Themen spricht, muss Russland vertreten sein und man muss mit Russland zusammenarbeiten".
"Wir dürfen uns heute keine Illusionen darüber machen, wie viele Menschen Putins Politik unterstützen. Ich denke, Russland braucht auch eine Art Aufklärung. So wie wir in Deutschland eine Art 'Entnazifizierung' hatten, brauchen wie wohl eine 'Deputinisierung' in Russland.“
Die westliche Militärhilfe für die Ukraine besteht hauptsächlich aus Verteidigungsgütern. Warum schickt Deutschland keine Kampfflugzeuge oder Angriffswaffen in die Ukraine? Warum ist das so schwierig?
"Vor eineinhalb Monaten war die deutsche Regierung nicht bereit, Waffen zu schicken. Wir haben jetzt grünes Licht für die Entsendung von Panzern in die Ukraine gegeben. Es gibt also einen allmählichen Wandel".
"Wenn man sieht, wie die Ukrainer leiden und wie russische Streitkräfte unschuldige Menschen angreifen und töten, denke ich, dass wir die Pflicht haben, so viel wie möglich zu tun, ohne die NATO als Organisation einzubeziehen".
Warum ohne Beteiligung der NATO?
"Eine von der NATO aufrechterhaltene Flugverbotszone [über der Ukraine] würde meiner Meinung nach eine direkte Konfrontation zwischen der NATO und den russischen Streitkräften riskieren, und das würde eine mögliche neue Eskalation bedeuten, die über die Ukraine hinausgehen würde."
"Ich halte die Entscheidung der NATO [nicht einzugreifen] für richtig. Aber vieles kann auch ohne die direkte Beteiligung der NATO getan werden, und ich glaube, dass die ukrainischen Streitkräfte in der gegenwärtigen Situation vergleichsweise nicht so stark wären ohne die Unterstützung vieler NATO-Staaten.“
Es wird immer noch viel über ein vollständiges Verbot der Einfuhr fossiler Energieträger aus Russland diskutiert. Was ist Deine Meinung dazu?
"Dies ist kein Schwarz-Weiß-Frage. Ich denke, wir müssen Schritt für Schritt vorgehen, und es war eine gute Entscheidung, die Einfuhr von Kohle einzustellen. Ich denke, als nächstes sollte man zu den Ölimporten gelangen. Was das Gas anbetrifft, bin ich nicht für ein direktes, sofortiges Verbot.
"Die Russen haben keine großen Gasreserven, also haben wir ein Druckmittel, das stärker genutzt werden sollte. Vor einigen Wochen forderte Putin, dass die Gaslieferungen in Rubel bezahlt werden sollten. Der deutsche Bundeskanzler hat einen Anruf getätigt, und Putin hat seine Meinung sofort geändert."
"Mit der Zeit werden wir kein russisches Gas mehr importieren, aber schon jetzt können wir strenger sein.
War es ein Fehler, über Jahre hinweg eine Energieabhängigkeit zwischen Europa und Russland aufzubauen?
"Im Nachhinein ist es sehr einfach zu sagen, dass wir etwas anders hätten machen sollen. Die Geschichte Deutschlands ist voller Konflikte und Kriege. Deutschland war für den Tod von 20 Millionen Sowjetbürgern im Zweiten Weltkrieg verantwortlich. Ohne die Sowjetunion hätte es keine Wiedervereinigung [der Deutschen] gegeben. Für uns ist die Zusammenarbeit mit Russland gewissermaßen ein Teil unserer DNA".
"Wir haben aus eine furchtbare Art versagt, aber ich glaube nicht, dass es ein Fehler war, zu versuchen, sich mit Russland politisch, wirtschaftlich und auf der Ebene der Zivilgesellschaft zu verbinden.
Sollte Deutschland seine Entscheidung zur Abschaltung seiner Kernkraftwerke rückgängig machen?
"Ich habe die erste grüne Bewegung in Deutschland miterlebt und wir hatten eine starke Opposition gegen die Atomkraft. Meine älteste Tochter wurde am 25. April 1986 geboren, in derselben Woche wie die Explosion in Tschernobyl. Wir haben bis heute nicht herausgefunden, was wir mit dem Atommüll machen sollen, und deshalb verstehe ich, dass viele Deutsche seit Jahrzehnten Nein zur Atomkraft sagen."
Viele NATO-Staaten, darunter auch Deutschland, haben den Beitritt Finnlands zur NATO begrüßt. Könnte Finnlands NATO-Antrag auf Widerstand stoßen?
"Meine Einschätzung entspricht dem, was NATO-Generalsekretär [Jens Stoltenberg] gesagt hat. Wenn Finnland die NATO-Mitgliedschaft beantragen würde, bin ich mir sicher, dass es sie bekommen würde. Ich sehe keine Opposition innerhalb der NATO, aber natürlich hat Russland bereits gesagt, dass die Geste nicht willkommen sein wird. Natürlich werder ihr keine Glückwünsche aus Moskau erhalten."
Was ist mit "Putin-freundlichen" Ländern in Europa, wie Ungarn?
"Nicht Ungarn, aber Ministerpräsident Viktor Orbán ist eher pro-russisch. Aber ich glaube nicht, dass er die NATO-Mitgliedschaft [Finnlands] blockieren würde, weil er weiß, dass er mit allen anderen NATO-Ländern Schwierigkeiten bekommen würde. Er ist klug genug, sich nicht auf diesen Kampf einzulassen."
Wie würde ein NATO-Beitritt Finnlands das Bündnis beeinflussen?
"Ich möchte Euch keine Empfehlungen geben, aber ich persönlich würde es befürworten. Finnland bringt so viel Erfahrung mit, und ihr habt eine gemeinsame, wenn auch komplexe Geschichte mit Russland. Ihr habt eine allgemeine Wehrpflicht und vielleicht eine der am besten ausgebildeten Streitkräfte in Europa. Es wäre ein großer Vorteil für uns, wenn wir Euch in die NATO aufnehmen könnten".
Der Krieg wird eines Tages enden. Was machen wir danach mit Russland?
"Putin hat gegen die UN-Charta, das Budapester Abkommen über Sicherheitsgarantien und die Minsker Vereinbarungen verstoßen. Eine Beziehung zu Russland, die Putin vertraut, kann es nicht mehr geben. Man kann nicht zu einer Beziehung zurückkehren, in der man nur rumsitzt und Champagner trinkt. Wir sollten Putin nicht länger eine internationale Bühne bieten“.
"Die Massaker, die wir gesehen haben, sind entsetzlich. Wir können dies nicht als neue Normalität akzeptieren und wie bisher mit Putin zusammenarbeiten. Wir müssen deutlich machen, dass dies durch nichts zu rechtfertigen ist.
