ich frage euch ob es gott wirklich giebt
06.09.2006 um 09:44
Der Ort, an dem wir stehen, ist ein Ort des Gedächtnisses, ist der Ort der Schoah. DasVergangene ist nie bloß vergangen. Es geht uns an und zeigt uns, welche Wege wir nichtgehen dürfen und welche wir suchen müssen. Wie Johannes Paul II. bin ich die Steineentlanggegangen, die in den verschiedenen Sprachen an die Opfer dieses Ortes erinnern: inweißrussisch, tschechisch, deutsch, französisch, griechisch, hebräisch, kroatisch,italienisch, jiddisch, ungarisch, niederländisch, norwegisch, polnisch, russisch, roma,rumänisch, slowakisch, serbisch, ukrainisch, jüdisch-spanisch und englisch. All dieseGedenksteine künden von menschlichem Leid, lassen uns den Zynismus der Macht ahnen, dieMenschen als Material behandelte und sie nicht als Personen anerkannte, in denen GottesEbenbild aufleuchtet. Einige Steine laden zu einem besonderen Gedenken ein. Da ist derGedenkstein in hebräischer Sprache. Die Machthaber des Dritten Reiches wollten dasjüdische Volk als ganzes zertreten, es von der Landkarte der Menschheit tilgen; auffurchtbare Weise haben sich da die Psalmworte bestätigt: „Wie Schafe werden wirbehandelt, die zum Schlachten bestimmt sind.“ Im tiefsten wollten jene Gewalttäter mitdem Austilgen dieses Volkes den Gott töten, der Abraham berufen, der am Sinai gesprochenund dort die bleibend gültigen Maße des Menschseins aufgerichtet hat. Wenn dieses Volkeinfach durch sein Dasein Zeugnis von dem Gott ist, der zum Menschen gesprochen hat undihn in Verantwortung nimmt, so sollte dieser Gott endlich tot sein und die Herrschaft nurnoch dem Menschen gehören – ihnen selber, die sich für die Starken hielten, die esverstanden hatten, die Welt an sich zu reißen. Mit dem Zerstören Israels, mit der Schoah,sollte im letzten auch die Wurzel ausgerissen werden, auf der der christliche Glaubeberuht und endgültig durch den neuen, selbstgemachten Glauben an die Herrschaft desMenschen, des Starken, ersetzt werden. Da ist dann der Stein in polnischer Sprache: Manwollte zunächst und zuerst die geistige Führung Polens auslöschen und damit das Volk alseigenes geschichtliches Subjekt austilgen, um es, soweit es weiter bestand, zu einem Volkvon Sklaven zu erniedrigen. Dann lädt besonders der Stein zum Nachdenken ein, der in derSprache der Sinti und Roma geschrieben ist. Auch hier sollte ein ganzes Volkverschwinden, das quer durch die einzelnen Völker wandert und lebt. Es wurde zu denunnützen Elementen der Weltgeschichte gerechnet, in einer Weltanschauung, in der nur nochder meßbare Nutzen zählen sollte; alles andere wurde nach deren Vorstellungen alslebensunwertes Leben eingestuft. Da ist dann der Gedenkstein in russisch, der uns an dieungeheuren Blutopfer der russischen Soldaten im Kampf gegen das nationalsozialistischeTerror-Regime erinnert und freilich zugleich an die tragische Doppelbedeutung ihresEinsatzes denken läßt: Während sie Völker von der einen Diktatur befreiten, haben siedoch auch dieselben Völker einer neuen Diktatur, derjenigen Stalins und derkommunistischen Ideologie, unterworfen. Auch alle anderen Steine in den vielen SprachenEuropas sprechen uns von dem Leiden der Menschen aus diesem ganzen Kontinent; sie würdenerst vollends zu unserem Herzen sprechen, wenn wir nicht mehr nur der Opfer im großen undganzen gedächten, sondern die einzelnen Gesichter von Menschen sehen würden, die hier imDunkel des Terrors endeten. Es war mir eine innere Pflicht, auch vor dem Gedenkstein indeutscher Sprache besonders innezuhalten. Von dort tritt das Gesicht von Edith Stein,Theresia Benedicta vom heiligen Kreuz, auf uns zu – Jüdin und Deutsche, die zusammen mitihrer Schwester im Grauen der Nacht des nazideutschen Konzentrationslagers verschwundenist, die als Christin und als Jüdin mit ihrem Volk und für ihr Volk sterben wollte. DieDeutschen, die damals nach Auschwitz-Birkenau verbracht wurden und hier gestorben sind,wurden als Abschaum der Nation hingestellt. Aber nun erkennen wir sie dankbar als dieZeugen der Wahrheit und des Guten, das auch in unserem Volk nicht untergegangen war. Wirdanken diesen Menschen, daß sie sich der Macht des Bösen nicht gebeugt haben und so alsLichter in einer dunklen Nacht vor uns stehen. Wir beugen uns in Ehrfurcht undDankbarkeit vor all denen, die wie die drei Jünglinge angesichts der Drohung desbabylonischen Feuerofens geantwortet haben: „Wenn überhaupt jemand, so kann nur unserGott… uns retten. Tut er es aber nicht, so sollst du, König, wissen: Auch dann verehrenwir deine Götter nicht und beten das goldene Standbild nicht an, das du errichtet hast“(Dan 3,17f).
Ja, hinter diesen Gedenksteinen verbirgt sich das Geschick vonunzähligen Menschen. Sie rütteln unser Gedächtnis auf, sie rütteln unser Herz auf. Nichtzum Haß wollen sie uns bringen: Sie zeigen uns, wie furchtbar das Werk des Hasses ist.Sie wollen uns zur Einsicht bringen, die das Böse als Böses erkennt und verneint; siewollen den Mut zum Guten, zum Widerstand gegen das Böse in uns wecken. Sie wollen uns zujener Gesinnung bringen, die sich in den Worten ausdrückt, die Sophokles der Antigoneangesichts des Grauens um sie herum in den Mund gelegt hat: „Nicht mitzuhassen,mitzulieben bin ich da.“
Gottlob wachsen im Umkreis dieser Stätte des Grauensmit der Reinigung des Gedächtnisses, zu der sie uns drängt, vielfältige Initiativen, diedem Bösen eine Grenze setzen, dem Guten Kraft geben wollen. Eben durfte ich das Zentrumfür Dialog und Gebet segnen. Ganz nah dabei vollzieht sich das verborgene Leben derKarmelitinnen, die sich besonders dem Geheimnis des Kreuzes Christi verbunden wissen unduns an den Glauben der Christen erinnern, daß Gott selbst in die Hölle der Leidenabgestiegen ist und mit uns leidet. In Oświęcim besteht das Zentrum desheiligen Maximilian und das Internationale Zentrum für die Erziehung über Auschwitz undden Holocaust. Es gibt das Internationale Haus für Jugendbegegnungen. Bei einem der altenGebetshäuser besteht das Jüdische Zentrum. Schließlich ist die Akademie für dieMenschenrechte im Aufbau begriffen. So dürfen wir hoffen, daß aus dem Ort des GrauensBesinnung wächst und daß das Erinnern hilft, dem Bösen zu widerstehen und der Liebe zumSieg zu verhelfen.
Die Menschheit hat in Auschwitz-Birkenau eine „finstereSchlucht“ durchschritten. So möchte ich gerade an dieser Stelle mit einem Gebet desVertrauens schließen – einem Psalm Israels, der zugleich ein Gebet der Christenheit ist:„Der Herr ist mein Hirte, nichts wird mir fehlen. Er läßt mich lagern auf grünen Auen undführt mich zum Ruheplatz am Wasser. Er stillt mein Verlangen; er leitet mich auf rechtenPfaden, treu seinem Namen. Muß ich auch wandern in finsterer Schlucht, ich fürchte keinUnheil; denn du bist bei mir, dein Stock und dein Stab geben mir Zuversicht… Im Haus desHerrn darf ich wohnen für lange Zeit“ (Ps 23,1-4.6).
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