Entfesselte IS-Truppen rücken vor, Exodus aus Syrien Das Blatt hat sich gewendet: Die islamistischen Kämpfer sind im Norden Syriens kaum aufzuhalten. Mit erbeuteten US-Waffen rücken sie auf die türkische Grenze vor. 70.000 Menschen sind auf der Flucht.
Die große Offensive läuft: Sie haben zusätzliche Kämpfer akquiriert und greifen mit ihren neuen Panzern und Humvees an, mit modernen Raketen und schwerer Artillerie. Die Dschihadisten wollen mit aller Gewalt Ain el-Arab oder Kobane, wie die syrische Grenzstadt zur Türkei auf kurdisch heißt, endlich erobern.
Denn seit einem Jahr versucht der Islamische Staat (IS, früher ISIS) schon vergeblich diesen strategisch wichtigen Ort im kurdischen Teil Syriens einzunehmen. Die Extremistenmiliz hatte eine Blockade der Stadt errichtet, den Bewohnern Wasser und Strom abgedreht und Selbstmordattentäter geschickt. Aber im Kampf gegen die disziplinierten und hoch motivierten kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) hatten sie nie eine Chance. Nun hat sich das Blatt gewendet.
Der IS setzt die neuen, schweren Waffen ein, die er bei seinem Feldzug im Irak erbeutete. Das Militärgerät stammt überwiegend aus den US-Lieferungen an die irakische Armee. Damit hat sich das Kräfteverhältnis gravierend verschoben. Die Kurdenmilizen mit ihren selbst gebastelten gepanzerten Fahrzeugen, uralten Gewehren und Mörsern sind den Dschihadisten weit unterlegen.
70.000 Menschen über die Grenze geflohen
Rund 70.000 Menschen haben sich nach UN-Angaben vor den Kämpfen zwischen Islamischem Staat und kurdischen Einheiten aus Syrien in die Türkei gerettet. Es kämen vor allem kurdische Frauen, Kinder und ältere Menschen, sagte eine Sprecherin des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR. Der Zustrom halte an. Sie rief die internationale Gemeinschaft zur Hilfe für die Flüchtlinge in der Türkei auf.
Die syrisch-türkische Grenze wurde am Sonntag zeitweise geschlossen. Türkische Sicherheitskräfte gingen mit Tränengas und Wasserwerfern gegen einige Dutzend kurdischer Flüchtlinge vor. Auf der syrischen Seite stauten sich die Menschen.
Wie es dazu kam, ist noch nicht klar. Die staatliche türkische Agentur Anadolu meldete, kurdische Demonstranten hätten Steine auf Sicherheitskräfte geworfen, die Kurden von der Grenze ferngehalten hätten. Der Privatsender NTV berichtete, die türkischen Kräfte hätten Kurden aufgehalten, die Hilfsgüter nach Syrien hineinbringen wollten. In der Türkei harren inzwischen 1,5 Millionen Menschen aus, die sich vor dem Bürgerkrieg in Syrien in Sicherheit gebracht haben.
Bis auf 15 Kilometer auf Grenzstadt vorgerückt
Erst am vergangenen Mittwoch hatte der IS seinen neuerlichen Angriff gestartet. Inzwischen konnten die Extremistenmiliz über 60 Dörfer in der Region um Ain al-Arab einnehmen. Die IS-Kämpfer sind bis auf 15 Kilometer auf die Grenzstadt vorgedrungen, wie Esmat al-Sheikh, der Führer der YPG in Kobane bestätigte. Es soll schwere Gefechte geben, bei denen angeblich 68 Islamisten getötet wurden.
Nur bisher konnte der IS nicht aufgehalten werden. Laut der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte in London (SOHR) dringen die Islamisten mit ihren Panzern und bewaffneten Fahrzeugen noch immer auf die Stadt vor und haben weitere Ortschaften eingenommen.
Dutzende von Dörfern hat man vorsorglich evakuiert. Frauen und Kinder wurden von ländlichen Regionen in das Stadtzentrum von Kobane gebracht. Man will sie vor dem Beschuss von IS, aber auch vor Entführungen schützen. Im Irak hatten die Dschihadisten, denen al-Qaida zu lasch ist, über 1000 christliche und jesidische Frauen verschleppt und sie als Sklaven auf dem Markt von Mosul für 10 oder 20 Dollar verkauft.
Sie flüchten mit nur wenigen Habseligkeiten
In Ain al-Arab löste der Raketenbeschuss und die heranrückenden IS-Truppen Panik unter der Bevölkerung aus. "Der Flüchtlingsstrom von Kobane in die Türkei reißt nicht ab, berichtete Selahattin Demirtaş von der pro-kurdischen Demokratischen Partei der Völker (HDP) aus dem Grenzgebiet. Es würden immer mehr, die mit ihren wenigen Habseligkeiten auf dem Rücken flüchteten. "Nur etwa tausend Meter von der Grenze entfernt, sind heftigste Gefechte zu beobachten", sagte der stellvertretende HDP-Vorsitzende. "Zu sehen ist, wie mehrere Dörfer bombardiert werden. Die Lage um Kobane ist äußerst kritisch." Bei Fortdauer der Angriffe des IS, sei davon auszugehen, dass sich mehr als 100.000 Flüchtlinge über die Grenze begeben werden.
Die Einwohner der Stadt Ain al-Arab haben Angst vor den Gräueltaten der Dschihadisten. Die Kurden kennen ihre Brutalität aus eigener Erfahrung und nicht erst durch die Bilder von Massenexekutionen und Enthauptungen im Irak. Die Kurden im Norden Syriens setzen sich seit zwei Jahren gegen radikale Islamisten zur Wehr. "Heute ist es der IS, vorher waren es Dschabhat al-Nusra, Ahrar al-Scham und auch Brigaden der angeblich so moderaten Freien Syrischen Armee (FSA), die unser Land erobern wollten", erklärte Redur Xelil, der Sprecher der YPG. "Wir hatten es mit vielen Gruppen zu tun", resümierte der Offizier, dessen Büro einige Kilometer außerhalb der Provinzhauptstadt Kamischli liegt.
"Wir machen keine großen Unterscheidungen mehr. Wer uns angreift, ist unser Feind und Basta. Wir verteidigen uns nur." Die YPG seien die ersten gewesen, fügte Xelil an, die die Terroristen bekämpften und das letztendlich im Namen der ganzen Welt. "Aber niemand zeigt sich dafür dankbar." Nach den Waffenlieferungen der USA, Deutschlands, Großbritanniens und Frankreichs an die Kurden im Irak, forderten die syrischen Kurden ebenfalls neue Waffen. Aber bisher blieb ihr Ruf ungehört.
Die Unterstützung der PKK reicht nicht mehr aus
Seit 2012 konnten die YPG ihr Territorium gegen radikale Islamisten behaupten. Nun scheinen sie gegen den hoch aufgerüsteten Feind erstmals einzuknicken. Die YPG schickte vor zwei Monaten ihre Soldaten zur Verstärkung der Peschmerga in die autonome Region Kurdistans (KRG). Eine Hilfe, die dort im Kampf gegen IS dringend nötig war. Jetzt aber muss die YPG selbst um Hilfe bitten. Die Unterstützung der befreundeten PKK, das die Miliz der türkischen Kurdischen Arbeiterpartei ist, reicht alleine nicht aus. Gemeinsam richteten YPG und PKK einen Appell an die Kurden in der Türkei: "Die jungen Leute müssen nach Kobane kommen, um sich den historischen und ehrenhaften Widerstand anzuschließen." Es ist eine pathetische Wortwahl, die zu den Überresten einer altmodischen, sozialistischen Ideologie gehört.
Wie ernst die Lage ist, zeigen die Statements von Masoud Barsani, dem Präsidenten der KRG. Ausgerechnet er ergriff öffentlich Partei für die YPG. Vor einem halben Jahr hatte er sie noch als "Terroristenvereinigung" denunziert. Jetzt forderte er alle kurdischen Fraktionen zur Einigkeit auf, um "Nation und Land" gegen IS zu verteidigen. Gleichzeitig appellierte Barsani an die internationale Staatengemeinschaft. Sie müsse "dringende und notwendige Maßnahmen treffen, um die Menschen in Kobane und im gesamten Westkurdistan vor den grausamen IS-Terroristen zu beschützen."
Der Präsident kann damit nichts anderes als Bombenangriffe von US-Kampfflugzeugen meinen. Im Irak zwangen 176 Einsätze von Maschinen des Typs F-18 und bewaffnete Dronen die Extremistenmiliz in die Defensive. Die kurdischen Peschmergatruppen konnten unter Mithilfe der PKK große Gebiete zurückerobern. Das Gleiche könnte im kurdischen Teil Syriens geschehen. Schließlich hat sich Präsident Barak Obama entschlossen, den IS ebenfalls in seinem Rückzugsland Syrien zu anzugreifen.
Bombardements französischer Kampfflieger
Frankreich hätte damit sicherlich keine Probleme. Es ist stets einer der Ersten, die ihre Kampfjets gegen Islamisten losschickt. So auch diesmal. Nach den USA bombardierte Frankreich am Samstag als erstes Land der internationalen Staatenkoalition im Kampf gegen IS die Extremisten im Irak. Zu den Zielen der französischen Kampfflieger vom Type Rafael gehörte ein "logistisches Depot" des IS im Norden des Landes.
"Die insgesamt vier Luftangriffe haben dutzende von IS-Kämpfern in der Nähe von Zumar getötet", sagte Qassim al-Moussawi, der Sprecher des irakischen Militärs. Weitere Operation sollen in den nächsten Tagen folgen, wie der französische Präsident Francois Holland versprach. "Wir wollen die Terrororganisation schwächen und den irakischen Behörden helfen", lautete seine Rechtfertigung. Bei den Einsätzen gäbe es immer ein nicht abzuschätzendes Restrisiko. Aber das müsse einfach auf ein absolutes Minimum reduziert werden. Die letzten Luftangriffe der USA richteten sich auf ein IS-Trainingscamp südöstlich von Mosul, ein Waffenlager südöstlich der Hauptstadt Bagdad sowie einige nicht näher definierte Ziele in der Nähe des Haditha-Damms in der Provinz von Anbar.
"Solange auf syrischen Boden nicht die ersten Bomben gefallen sind, glaube ich gar nichts ", sagte Gabriel Hanno aus Kamischli, das IS in den letzten Tagen mit Raketen beschossen hatte und dabei drei Menschen tötete. Hanno ist Christ und arbeitet in der neuen, autonomen Regierung im kurdischen Teil Syriens. Es ist ein demokratisches Projekt, an dem alle ethnischen und religiösen Gruppen, selbst als Minoritäten, gleichberechtigt beteiligt sind.
Mit "schrecklichen Islamisten" allein gelassen
"Kaum kommt der IS in die Nähe der kurdischen Hauptstadt Erbil im Irak, schon spielen die USA verrückt und bombardieren", meint der Computerspezialist Hanno. "Und uns hat die gesamte Welt jahrelang mit diesen schrecklichen Islamisten alleine gelassen. Zum Glück gab es die YPG, denn sonst hätte es ein Blutbad unvorstellbaren Ausmaß an uns allen gegeben." Der Westen habe nichts getan, um die Region und ihre Menschen vor einem derartige schrecklichen Schicksal zu schützen. "Warum soll ich nun glauben, dass der Westen uns jetzt zu Hilfe eilt."
Eine nicht minder unerwartete Unterstützung bekommen die Kurden jetzt von der Führung der FSA. Es sind Truppen der ehemaligen Feinde der YPG, die unterwegs in die Kurdengebiete sein sollen. "Eine große Zahl von Kämpfern ist aus Aleppo abgefahren, um die Menschen von Kobane im Kampf gegen IS zu unterstützen", versicherte Mustafa Farhat, ein Sprecher der FSA. "Die Machtverhältnisse werden sich sehr bald ändern."
Die Dschihadisten haben etwas zustande gebracht, was sonst kaum einer für möglich gehalten hätte. Sie sind eine integrative Kraft, die diejenigen zusammenschweißt, die sich bisher nicht Grün gewesen waren. Und selbst, wenn das nur über den kleinsten gemeinsamen Nenner läuft – der Feind meines Feindes, ist mein Freund – ist das ein wichtiger Schritt. Denn nur so ist den Islamisten aus dem Mittelalter ein empfindlicher Schlag beizubringen. Sie sind nicht komplett von der Landkarte zu löschen. Aber man kann sie zu einer kleinen Splittergruppe marginalisieren.
http://www.welt.de/politik/ausland/article132460193/Entfesselte-IS-Truppen-ruecken-vor-Exodus-aus-Syrien.html