WDR-Sondersendung: Deutschland ist ein Niedriglohnland geworden
Autor: Uwe Felgenhauer| 18.03.2010.Deutschland ist ein Niedriglohnland geworden
QUELLE:
http://www.welt.de/fernsehen/article6825950/Deutschland-ist-ein-Niedriglohnland-geworden.html23 Prozent der Deutschen arbeiten mittlerweile im Niedriglohnsektor. Wie es dort zugeht, erkundete der WDR in seiner Sondersendung "Ist mein Lohn gerecht? Was Arbeit noch wert ist". Die eingeladenen Experten gingen mit der Lohn-Trickserei der Arbeitgeber scharf ins Gericht.
Lohn und Gerechtigkeit, das sind zwei Begriffe, die immer weniger zusammenpassen. Absolute Lohngerechtigkeit kann es zwar gar nicht geben, doch relative Lohngerechtigkeit wurde früher viel stärker als heute durch verschiedene Ersatzgerechtigkeiten wie etwa Leistungs- oder Sozialgerechtigkeit sowie durch Rechtsgrundlagen wie beispielsweise Tarifverträge hergestellt.
Im politisch gewollten Niedriglohnsektor, der seit Mitte der 90-er-Jahre in Deutschland als Rezept gegen die grassierende Dauerarbeitslosigkeit galt und als Sprungbrett in besser bezahlte Jobs fungieren sollte, spielen die verschiedenen Ersatzgerechtigkeiten aber kaum noch eine Rolle.
Annähernd gerechte Löhne kommen hier folglich immer seltener vor. Taxifahrer, die für 2,50 Euro in der Stunde durch die Nacht fahren, oder Friseure mit 3,50 Euro Stundenlohn sind da keine Seltenheit mehr.
Nur etwa jeder achte Beschäftigte im Niedriglohnsektor schafft tatsächlich den Sprung aus ihm heraus nach oben. So konstatierte Anna Planken, die gemeinsam mit Jörg Schönenborn durch die WDR-Sondersendung ”Ist mein Lohn gerecht? Was Arbeit noch wert ist“ führte, gleich zu Beginn: ”Deutschland ist ein Niedriglohnland geworden.“
90 Minuten diskutierten die Moderatorin des ARD-Morgenmagazins, mittlerweile mit beträchtlichem Babybauch, und der WDR-Chefredakteur Fernsehen mit Arbeitsmarktexperten.
...Dazu gab es zur Auflockerung gedachte, aber eher überflüssige Einspielfilme, in denen sich Prominente wie der Kabarettist Jürgen Becker und die Schauspielerin Hildegard Krekel kurz selbst in den Niedriglohnsektor begaben. Und es wurden diverse Beschäftigte aus dem unteren Einkommensbereich vorgestellt, die hart arbeiten und dennoch auf keinen grünen Zweig kommen.
Etwa der Dozent, der Seminare für Arbeitslose gibt, dafür im Monat 1300 Euro netto erhält und mit seiner Familie zweimal die Woche bei der Tafel in seinem Wohnort Lebensmittel abholt.
Mitunter trifft er dort Teilnehmer seiner Kurse. Er gehört zu den 400.000 Vollzeitbeschäftigten, die ihren Verdienst mit Arbeitslosengeld II aufstocken. 500.000 Vollzeitbeschäftigte, die ebenfalls Anspruch darauf hätten, tun das nicht. Ein Grund für ihren Verzicht sieht der Arbeitsrechtler Wolfgang Büser darin, dass sie ihre Finanzen vollständig offenlegen müssen, also „dasselbe Prozedere über sich ergehen lassen müssen wie Arbeitslose.“
Ebenfalls in den Niedriglohnbereich fallen viele Leiharbeiter. Immer mehr Unternehmen gründen ihre eigene Zeitarbeitsfirma und benutzen sie „zum Unterlaufen der eigenen Tariflöhne“, so Arbeitsmarktexperte Stefan Sell von der Fachhochschule Koblenz.
Mit anderen üblen Tricks tut sich besonders der Einzelhandel hervor, wie die Arbeitsmarktforscherin Dorothea Voss-Dahm zu berichten wusste. Da werden Filialen mit Tarifbindung geschlossen, während an der nächsten Ecke eine neue Filiale ohne Tarifbindung eröffnet. Oder die Mitarbeiter werden in falsche Gehaltsklassen eingruppiert.
Dass es auch anders geht, bestätigte Dirk Müller, Geschäftsführer eines Gebäudereinigungsunternehmens. Die Branche zahlt im Gegensatz zu vielen anderen Mindestlöhne. „Wir wollen Wettbewerb über Qualität“, so Müller, der nicht bestätigen kann, dass durch die Einführung des Mindestlohns Arbeitsplätze verloren gegangen sind.
Als Experte der etwas anderen Art war Martin Wehrle zu Gast. Von dem Gehaltscoach und Karriereberater heißt es, er kenne sämtliche Abwehrstrategien aus Chefetagen bei Lohnverhandlungen, aber auch alle Gegenargumente, mit denen den Chefs beizukommen ist. Sein Tipp: „Gehaltsgespräche gut vorbereiten“, am besten im Rollenspiel mit einem Freund.
Als weiteres Element der Sendung hatten sich Schönenborn und Planken ein kleines Gehalts-Quiz ausgedacht, bei dem die Zuschauer raten sollten, in welchem von zwei vorgestellten Berufen man mehr verdient.
Doch leider war ein Vergleich schlecht gewählt. Dass die vorgestellte 24-jährige Erzieherin mit monatlich 2219 Euro brutto sehr viel weniger verdient als der 33-jähriger Fliesenleger mit 3512 Euro, liegt auch daran, dass sie erst dreieinhalb Jahre Berufserfahrung vorweisen kann und er bereits 13.
Überhaupt keine Berufserfahrung hatte ein heute Prominenter in jungen Jahren, dessen Bekanntschaft mit dem Niedriglohnsektor auch noch zum Besten gegeben wurde. Schlagersänger Jürgen Drews wollte sich damals unbedingt ein Banjo kaufen und fing „aufm Acker an“, wie Jörg Schönenborn es formulierte. Für zehn Mark am Tag stellte Drews aber nicht etwa Betten auf einem Kornfeld auf, sondern – „der härteste Job in meinem Leben“ – er sammelte Kartoffeln.