@Sinclair Bootvcamps gab es in Deutschland schon, als hier noch niemand den Begriffr kannte.
Da firmierten sie von 1933 bis 1945 unter Jugend-Konzentrationslager, im Osten danach als Jugendwerkhof und im Westen als geschlossenes Heim.
Jugend-KZ:
Zur Entstehung der Jugend-KZ
Reinhard Heydrich - der „Chef der Sicherheitspolizei und des SD“ - hatte im September 1939 erstmals spezielle Lager zur Internierung sog. „verwahrloster“ und unangepaßter Jugendlicher gefordert - die Ideen dazu waren im Reichskriminalpolizeiamt (RKPA) unter maßgeblicher Federführung des dortigen stellvertretenden Leiters Paul Werner entwickelt worden. In der Sitzung des Reichsverteidigungsrates vom 01.02.1940 - unter Görings Vorsitz und dem vorgegebenen Thema „Besprechung über Jugendbetreuung“ - in der die Situation der Jugend unter dem Einfluß des Krieges diskutiert, eine zunehmende „Verwilderung“ und ein Ansteigen der Jugendkriminalität für wahrscheinlich erachtet wurden - unterstützte und bekräftigte Heinrich Himmler - der „Reichsführer-SS“ - Heydrichs Forderung ausdrücklich. In der Folge dieser Sitzung beauftragte der Reichsverteidigungsrat das RKPA in Berlin, die sog. „Jugendschutzlager“ zu errichten. In einem monatelangen Kompetenzgerangel mit der Justiz, die zunächst eine schärfere Abgrenzung der für die Haft in Frage kommenden Jugendlichen anmahnte und zudem für ein eindeutiges Mitspracherecht bei ihrer Inhaftierung in diesen Lagern plädierte, setzte sich letztlich der Polizeiapparat durch. Ohne richterliche Anordnung, sondern durch bloße Verwaltungsanweisungen - die Runderlasse verschiedenster NS-Behörden - bzw. durch Schutzhaftbefehle der Gestapo wurden in der Folgezeit, d.h. bis zum Kriegsende, knapp 1400 Jungen im Lager Moringen und ca. 1200 Mädchen und junge Frauen im Lager Uckermark inhaftiert.
Die Motivation Himmlers, die Einrichtung der Jugend-KZ zu fordern und zu forcieren, resultierte offensichtlich aus seiner Meinung, daß „...die Einrichtungen der Fürsorgeerziehung nicht zum Ziele führen.“ Mit dieser Aussage leitete Himmler das vorläufige Ende einer langjährigen Debatte über die Erziehbarkeit oder vermeintliche „Unerziehbarkeit“ von Zöglingen innerhalb der staatlichen Ersatzerziehung ein. Mit dem Reichsjugendwohlfahrtsgesetz (RJWG) vom 05.07.1922 war erstmals eine reichseinheitliche Regelung dieser öffentlichen Erziehung getroffen worden. Der § 73 dieses Gesetzes sah die Schaffung einer sog. „Bewahrung“ für diejenigen Jugendlichen vor, die in den Erziehungsheimen auffällig wurden, Schwierigkeiten bereiteten und als „unerziehbar“ eingestuft wurden. Ein entsprechendes „Bewahrungsgesetz“ wurde aber weder in der Weimarer Republik noch im nationalsozialistischen Deutschland realisiert, obwohl es in den Kreisen der Fürsorgeverbände lebhaft diskutiert wurde. Die Forderungen nach der Aussonderung von sog. schwer- oder „unerziehbaren“ Jugendlichen aus der Fürsorgeerziehung und ihrer Überführung in „Bewahranstalten“, die keine erzieherische Einflußnahme, sondern die bloße Verwertung der Arbeitskraft sicherstellen sollten, scheiterten in der Weimarer Republik letztlich an einer fehlenden, eindeutigen Definition des Begriffes der „Verwahrlosung“ und des betroffenen Personenkreises sowie am ungeklärten Einweisungsverfahren und der ungesicherten Finanzierung. In den Diskussionen um dieses Gesetz waren zunehmend Worthülsen wie „Nörgler“, „geistig stark Unterwertige“ oder „Stimmungsgestörte“ bei der Beurteilung des Klientels in den Vordergrund getreten, zumal solche Fragestellungen in Wohlfahrtspflege und Jugendhilfe seit Jahrzehnten von Biologen, Fürsorgern und Medizinern entscheidend beeinflußt worden waren: Hin zur Idealisierung des „gesunden, edlen, leistungsfähigen“ Menschen, dem im sozialdarwinistischen Prinzip der „unedle, belastete und nicht leistungsfähige“ Mensch gegenüberstand. Vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Rezession und dem Abbröckeln des sozialen Sicherungsnetzes bei knappen staatlichen Kassen klafften zudem erhebliche Lücken zwischen den an sozialer Anpassung orientierten pädagogischen Maximen und den tatsächlichen Lebensumständen in den Erziehungsheimen. Vor diesem Hintergrund hatten die sozialdarwinistischen Einflüsse in den 20er und 30er Jahren innerhalb der Fürsorge zunehmend an Bedeutung gewonnen:
"Mit allem Nachdruck muß die baldige Verabschiedung eines Reichsbewahrungsgesetzes für asoziale Personen als Korrelat der Fürsorgeerziehung gefordert werden. Erst dann können die für die Fürsorgeerziehung als unerziehbar in Betracht kommenden Fälle asozialen Verhaltens einer in ihrem eigenen Interesse und im Interesse der Allgemeinheit notwendigen Bewahrung überwiesen werden. (...) Ohne das Bewahrungsgesetz treiben wir mit der ganzen Fürsorgeerziehung eine gefährliche Gegenauslese in rassenhygienischer Beziehung. Wir schädigen bewußt das kommende Geschlecht, wenn wir diese geistig minderwertigen, dem Verbrechertum, dem Betteln, der Landstreicherei oder Gewerbsunzucht mit absoluter Sicherheit anheimfallenden Elemente bis zum 21. Lebensjahr unter Aufwendung großer Mittel in glänzend eingerichteten Anstalten bewahren und behüten, um sie dann am Tage der Großjährigkeit ihrem Schicksal zu überlassen und ihnen die Möglichkeit geben, ihr grausam verzerrtes Erbbild in immer weiteren Individuen und Generationen wiederaufleben zu lassen." (Vossen, Die FE der über Achtzehnjährigen, Berlin 1925, S. 104)
Durch Notverordnungen zur Kostenersparnis der öffentlichen Haushalte kam es in den Wintermonaten der Jahre 1932/33 zu unzähligen Heimentlassungen Jugendlicher, die das 19. Lebensjahr vollendet hatten, ohne dass der Gesetzgeber alternative Unterstützungsmöglichkeiten in seine Überlegungen einbezogen hatte. Zahllose Mädchen und Jungen sahen sich ohne weitere Betreuung einer ungewissen Zukunft ausgeliefert. In Fürsorgekreisen verschärften sich zudem die Tendenzen, erzieherische Schwierigkeiten im Heimalltag den Betroffenen selbst anzulasten und dabei mit den Termini „Unerziehbarkeit“ und „minderwertige Erbanlagen“ zu operieren.
Im nationalsozialistischen Deutschland wurde das Bewahrungsgesetz v.a. auch in Fürsorgekreisen weiterhin gefordert. Auf Länderebene kam es zur Teilrealisierung durch eigene „Bewahranstalten“, so in Hamburg, Berlin, Baden und der Rheinprovinz. Die rechtlichen Bestimmungen zur Regelung der Fürsorgeerziehung blieben im Nationalsozialismus formal bestehen, erfuhren aber durch die Neuausrichtung nach dem Führerprinzip und dem nazistischen Staatsrassismus eine erhebliche Aushöhlung und Deformation. Die Ausgrenzung und Aussonderung von sog. „erblich Minderwertigen“ wurde vorangetrieben. Erbbiologische Praktiken traten immer mehr in den Mittelpunkt bei der Beurteilung jugendlicher Heiminsassen. Auf der Grundlage des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ vom 14.07.1933 kam es im Erziehungsalltag der Heime zu zahllosen Sterilisierungen Jugendlicher. Pädagogen und Erziehungswissenschaftler forderten verstärkt sog. Sonderbehandlungen für vermeintlich „erbgeschädigte“ und „rassefremde“ Heimbewohner oder diejenigen, die in der „Anstaltsgemeinschaft“ auffällig geworden waren. Nahezu zeitgleich mit der Einrichtung der Jugend-KZ kam es zu den Vorarbeiten zum „Gemeinschaftsfremdengesetz“, mit dem die KZ-Haft gesellschaftlicher Außenseiter - in Anlehnung an die Bewahrungsdebatten der 20er und 30er Jahre legitimiert werden sollte. Dieses Gesetz wurde zwar kriegsbedingt nicht mehr verwirklicht, doch bildeten gerade die Jugend-KZ für Polizei und SS willkommene Experimentierfelder im Rahmen dieser Vorarbeiten. Die in weiten Teilen widerstandslose Übernahme sozialrassistischer Programmatiken und die Aufspaltung des Klientels in „gemeinschaftsfähige“ und „gemeinschaftsfremde“ Personen führte zur zunehmenden Radikalisierung in weiten Teilen der deutschen Fürsorge, wobei zahlreiche ihrer Vertreter die Einrichtung der Jugendlager in Moringen und Uckermark als zweckmäßigen Ersatz für das seit langem geforderte Bewahrungsgesetz ansahen. Vollkommen eindeutig drückten sich dabei zum Beispiel die örtlichen Vertreter der NS-Volkswohlfahrt in Hamburg anläßlich einer Sitzung zu Jugendfragen vom 02.02.1940 aus, indem sie „...die Einrichtung der vom Reich vorgesehenen ... Konzentrationslager für Jugendliche...“ ausdrücklich empfahlen. Zur rechtlichen Scheinlegitimierung des Lagers gaben die unterschiedlichsten Ministerien zunächst allgemeine Runderlasse heraus, die die Haft der Jugendlichen formal regelten. Es waren zunächst die Jugend- und Landesjugendämter sowie die Kriminalpolizei, die vom Reichskriminalpolizeiamt ein Vorschlagsrecht zur Inhaftierung auffälliger Jugendlicher in den sog. „Jugendschutzlagern“ erhielten. In akribischen Anweisungen wurden die Jugendämter aufgefordert, sog. „asoziale“ und „kriminelle“ Mädchen und Jungen für eine entsprechende Haft vorzuschlagen und der Kreis der einweisungsberechtigten Behörden in den folgenden Jahren erheblich erweitert. Runderlasse mit äußerst unklaren und vielseitig interpretierbaren Formulierungen und Richtlinien liessen breiten Spielraum, mißliebiges Verhalten Jugendlicher zu ahnden, so daß bald neben Kriminalpolizei und Jugendämtern auch die Vormundschaftsrichter, die Gefängnisse, Justizstellen oder die jeweilige HJ-Gebietsführung die Haft im Jugend-KZ formal beantragen konnten. Vor allem Erziehungsheime und Jugendämter machten in der Folge - wenn auch regional sehr unterschiedlich - recht regen Gebrauch von den Haftanträgen, um sich auffälliger und mißliebiger Jugendlicher entledigen zu können. Nach einem Bericht des stellvertretenden Leiters des RKPA, Paul Werner, aus dem Jahr 1944 lebten von den ersten 1.000 Häftlingen über 50 % vor ihrer Haft in Moringen in Fürsorgeerziehungsanstalten, 716 Jungen waren wegen einfacher Eigentumsdelikte vorbestraft. Für das Lager Uckermark wurden von der Lagerleiterin Toberentz im Jahr 1945 ähnliche Zahlen genannt.
In den vorliegenden Anträgen auf Unterbringung in den Jugendlagern fällt besonders die Reduzierung der darin getroffenen Aussagen auf negativ besetzte Verhaltensweisen oder Eigenschaften der Betroffenen auf. Dabei wurde häufig die Auflistung von Verfehlungen und vermeintlichen Charakterschwächen für die Argumentationskette geschickt benutzt, um über diesen Weg der Stigmatisierung und Kriminalisierung die jeweils „notwendige“ Unterbringung im Jugend-KZ dringlich und revisionssicher zu untermauern. Kennzeichnend sind die Verwendung von dehnbaren Worthülsen bei der Verhaltensbeschreibung und die kategorische Abstempelung der Jugendlichen zu „Arbeitsscheuen“, „geborenen Verbrechern“ und „Volksschädlingen“. Die Einweisungsgründe verweisen eher auf erzieherische Bankrotterklärungen bei der Beurteilung der sog. „Zöglinge“. So regte ein Mitarbeiter des Landesjugendamtes Kattowitz in seinem Antrag vom 18.07.1944 zum Beispiel an, die „pubertätskritische Trotzhaltung“ des betreffenden Jungen mit den Mitteln der Jugend-KZ-Haft „zu brechen“.
Zwangsläufig waren von der Haft im Jugend-KZ vor allem solche Jugendliche betroffen, die sich unter dem Einfluß des Krieges der zunehmenden Reglementierung sämtlicher Lebensbereiche zu entziehen versuchten und mit den Norm- und Wertvorstellungen des NS-Staates in Konflikt gerieten. Vor allem die Fälle der zunehmenden „Arbeitsverweigerung“ („Blaumachen“), des „Umherstreunens“, der Diebstähle und eines freizügigeren Sexuallebens gelangten als „volksschädigendes Verhalten“ in das Blickfeld von Polizei und SS. Dabei ist festzuhalten, dass unter dem Einfluß der Kriegsgeschehnisse und der damit einhergehenden Militarisierung des gesamten Lebens- und Arbeitsumfeldes die normative Bestimmung der Begriffe „Asozialität“ und „Kriminalität“ erheblich ausgedehnt wurde, je mehr die staatliche Autorität auch durch sogenannte „innere Feinde“ angreifbar erschien. Beklagte die deutsche Justiz zunächst noch den rein polizeilichen Charakter der Haft und die fehlende Einbindung ihrer Instanzen, so reagierten SS und Polizei mit taktischen Zugeständnissen, wie z.B. mit einem Anhörungsrecht für die Vormundschaftsrichter. Letztlich hatten Polizei und SS mit der Einrichtung der Jugend-KZ einen weiteren partiellen Erfolg im Macht- und Kompetenzgerangel der verschiedenen NS-Instanzen erzielt.
Jugendwerkhof:
Ein Jugendwerkhof war eine Jugendstrafanstalt der DDR, in denen Jugendliche in der Regel im Alter von 14 bis 18 Jahren nach den Geboten der Erziehung zur sozialistischen Persönlichkeit (um)erzogen werden sollten. Inhaftiert wurden meist Jugendliche, die aus Sicht verschiedener staatliche Organe, nicht in das Gesellschaftsbild der DDR passten oder auch sogenannte schwererziehbare Jugendliche. Es reichten teilweise schon kleinere Vergehen aus, die staatlichen Organen, in der Schule oder auch den Nachbarn auffielen, wie z. B. Schulverweigerung. In der Regel hatten die Inhaftierten keine Straftat begangen, sondern meist konnten oder wollten sie sich nicht den Maßstäben sozialistischer Persönlichkeitsentwicklung unterwerfen.
Die Erziehung geschah in erster Linie politisch und nur marginal allgemeinbildend. Neben dieser Erziehung erhielten die Jugendlichen eine Ausbildung zum gering qualifizierten Teilfacharbeiter. Dies war in der Regel ein Lehrabschluss mit geringen Anforderungen für Personen, die den Abschluss der 8. Klasse einer Zehnklassigen allgemeinbildenden polytechnischen Oberschule nicht geschafft hätten.
Jugendliche, mit denen andere Jugendwerkhöfe Disziplinschwierigkeiten hatten oder die von dort mehrmals entwichen waren, konnten in den geschlossenen Jugendwerkhof Torgau eingewiesen werden, eine Strafanstalt, in dem sie mittels Gewalt, Schikanen und Demütigungen gebrochen werden sollten.
Das Gegenstück zum Jugendwerkhof, für Kinder und Jugendliche unter 14 Jahren, waren die Spezialkinderheime für schwererziehbare Kinder, wie zum Beispiel der in den 1960er Jahren umgewandelte Jugendwerkhof Oberschöna.
Literatur Web-Tipp:
http://www.jugendwerkhof-torgau.de/index2.html (Archiv-Version vom 24.10.2010)Geschlossene Heime in der BRD:
Ein Beispiel von vielen:
Ehemaliges Jugendheim Glückstadt
Schläge, Zwangsarbeit und Nazi-Uniformen
Es war eines der berüchtigsten Jugendheime der Nachkriegszeit. Anhand neuer Akten wird nun der Skandal um das Heim Glückstadt in Schleswig-Holstein neu aufgerollt.
"Ich war ein Hippie, damit konnten sie nichts anfangen": Otto Behnck, ehemaliger Insasse der Landesfürsorgeanstalt Glückstadt, zeigt in Kiel seine Anstaltskleidung. Foto: dpa
Otto Behnck schüttelt immer wieder seinen Kopf mit dem kurzen grauen Haar. "Falscher Film", "Das ist irre", "Kann sich heute keiner mehr vorstellen" - so lauten Satzfetzen, die aus ihm raussprudeln. Der heute 56-Jährige war 1970 als Jugendlicher Insasse der Landesfürsorgeanstalt in Glückstadt an der Elbe, einem der berüchtigtsten westdeutschen Jugendheime der Nachkriegszeit.
Verbrochen hatte Behnck nichts, er trug nur das Haar etwas zu lang und hatte Stress mit seinen Eltern. "Ich war Hippie, damit kamen sie nicht klar." Drei Monate lang knüpfte er im Heim in Glückstadt Fischernetze. Für 1000 Maschen gab es eine "Aktive", eine Zigarette. Ein anderer erhielt nach vier Jahren Arbeit in der Ziegelei 164 Mark. "Das war Zwangsarbeit", sagt Behnck. "Und die muss noch bezahlt werden."
Bis 1945 war das Gebäude Konzentrationslager für Arbeitshäftlinge. Fünf Jahre später wurden hier aufmüpfige Jugendliche und Straftäter staatlicher Obhut anvertraut - bis 1974. Später wurde der historisch belastete Komplex abgerissen. Schläge, unbezahlte Zwangsarbeit und Drillich-Anzüge im Stil von KZ-Uniformen - Glückstadt war nach den Berichten früherer Insassen kein Hort der Nächstenliebe.
Die schleswig-holsteinische Sozialministerin Gitta Trauernicht (SPD) ist mittlerweile unter Druck geraten, das Thema aufarbeiten zu lassen. Medienberichte, Entschädigungsforderungen und 7000 im Staatsarchiv in Schleswig aufgetauchte Akten verleihen diesem bisher tabuisierten Justizskandal neue Brisanz.
Offensichtlich seien die Betroffenen erst jetzt in der Lage, über ihre Erfahrungen zu reden. "In Gesprächen mit sechs Betroffenen ist deutlich geworden, wie wichtig es ihnen ist, mit dem notwendigen zeitlichen Abstand über ihre traumatischen Erlebnisse zu sprechen“, sagte Trauernicht der Deutschen Presse-Agentur dpa.
Junge Menschen aus ganz Deutschland kamen kurz nach Ende des Zweiten Weltkrieges nicht nur wegen Straftaten nach Glückstadt. In vielen Fällen beantragten überforderte Eltern im Einvernehmen mit dem Jugendamt staatliche Fürsorge. Ehemalige Insassen berichten von brutalen Übergriffen der Erzieher und von Selbstmorden. Sie fordern eine Bezahlung der dort geleisteten Arbeit. "Die Frage möglicher Entschädigungen wird vom Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages geprüft", sagte Trauernicht.
Die Ministerin will eine Aufarbeitung der Akten ermöglichen, dies wird 200.000 Euro kosten. Das Kieler Ministerium hat den Heimerziehungsforscher Prof. Christian Schrapper von der Universität Koblenz nun mit einer Analyse der Causa Glückstadt beauftragt. Er schätzt, dass in den fünfziger bis siebziger Jahren bis zu 70.000 Jugendliche pro Jahr in staatliche Fürsorge kamen.
Davon deutlich zu unterscheiden sind Hunderttausende Kinder und Jugendliche, die auf Grundlage des Jugendwohlfahrtsgesetzes zum Beispiel als Waisenkinder in Heimen lebten. "Glückstadt gehörte unter den Fürsorgeeinrichtungen sowohl vom Zustand als auch vom Personal her zu den am wenigsten guten Heimen", sagt Schrapper diplomatisch. Er hält die Berichte von Menschen wie Otto Behnck für authentisch.
Behnck erzählt von Dingen wie diesen: Nach einem gescheiterten Fluchtversuch kam ein Erzieher nachts in sein Zimmer, zog die Decke weg und schrie "Du Hund! Du Hund!" Dabei schlug er mit einem Totschläger immer wieder zwischen die Beine des 19-Jährigen. Behnck war nach Glückstadt gebracht worden, weil sich seine Eltern nach einer Tramper-Reise nach Dänemark guten Glaubens an das Jugendamt gewandt hatten. Das Amtsgericht Ahrensburg ordnete "staatliche Fürsorge" an.
Die Polizei verhaftete Behnck in der elterlichen Wohnung, im Streifenwagen ging es nach Glückstadt 30 Kilometer westlich von Hamburg. "Es war alles so irreal, ich konnte es nicht glauben, ich war 19." Diese Maßnahme war möglich, weil in Westdeutschland ein junger Mensch bis in die siebziger Jahre erst mit 21 Jahren volljährig wurde. Weihnachten 1970 besuchten ihn plötzlich die Eltern. "Meine Mutter wurde kreidebleich wegen der Zustände." Die Eltern setzten vor Gericht durch, dass sie wieder die Fürsorge übertragen bekamen.
Im damaligen Verhalten der Erzieher und den Methoden sieht Behnck eine vielfältige Kontinuität zur Nazi-Zeit. Behnk verweist auf die Karteikarten der Häftlinge, die noch aus der NS-Zeit stammten. "Arbeitserziehungslager" wurde auf diesen Karten mit Bleistift durchgestrichen und mit "Landesfürsorgeheim" überschrieben. Als Grund der Einlieferung stand auf der Karte des mit 15 Jahren nach Glückstadt gekommenen Frank Leesemann: "Asozial, kriminell, kann sich der Gesellschaft nicht anpassen." Er hatte ein Mofa gestohlen.
"Die Ideologie lebte weiter. Ducken und Ja sagen, als solche Menschen sollten wir Glückstadt verlassen", sagt Behnck, der heute auf Märkten Wollpullover aus Peru verkauft "oder was gerade gut läuft". Er spricht von Selbstmorden, die sich ereignet haben. Auch das mit dem Brechen und Kaputtmachen habe geklappt.
Er zählt Namen von Heimkumpels auf und beschreibt den Werdegang nach der Entlassung: "9 Jahre Knast, 17 Jahre Knast, 20 Jahre Knast". Der Boock war auch in Glückstadt, sagt Behnk. Er meint Peter-Jürgen Boock, den Terroristen
der Roten-Armee-Fraktion. "Da ist mächtig was schiefgelaufen."
"Wir müssen den ehemaligen Heimkindern nach der wissenschaftlichen Auswertung auch die Möglichkeit geben, ihre eigenen Akten zu lesen", sagte
Trauernicht. Anfang der siebziger Jahre hatte sich die 56-Jährige SPD-Politikerin auch selbst mit der Überwindung der autoritären Strukturen im staatlichen Erziehungswesen und mit den Heimrevolten befasst.
1969 ereignete sich auch in Glückstadt ein solcher Aufstand, als Insassen Matratzen und Betten aus Protest gegen die Zustände in Brand steckten. Trauernicht promovierte über diese Themen und schrieb als Mitautorin das Buch "Ausreißer und Trebegänger".
War da ein Kind verhaltensauffällig, landete es recht schnell hinter Gittern, ggf. sogar lebenslänglich in der Psychiatrie. Darüber gibt es erschütternde Zeugnisse von Betroffenen, die beispielsweise in der Debatte um Zwangsarbeit und Gewalt in "christlichen Heimen" in den vergangenen Jahren ans Tageslicht kamen. Vom jetzt aktuell diskutieren sexuellen Missbrauch in solchen Einrichtungen ganz zu schweigen.