@kiki1962 Es sind ja nicht immer nur die Migranten:
Neumünster. Stell’ Dir vor, es ist Wahl, und keiner geht hin. So oder so ähnlich könnte eine Geschichte anfangen, die im Vicelinviertel in Neumünster spielt - der Nichtwähler-Hochburg schlechthin in Schleswig-Holstein. 36,2 Prozent der Wahlberechtigten gaben dort bei der jüngsten Landtagswahl 2009 den Stimmzettel ab, landesweit waren es im Durchschnitt doppelt so viele.
Die Geschichte würde von einem Bezirk handeln, in dem die Arbeitslosigkeit genauso zu Hause ist wie Drogen und Alkohol, wie Gewalt und Kriminalität. Sie würde von heruntergekommenen, leer stehenden Häusern erzählen, von jugendlichen, potenziellen Erstwählern, die, während sie jemandem in merkwürdig zusammengesetzten Sätzen vergeblich den Weg erklären wollen, dreimal auf die Straße spucken - und das nicht mal unhöflich meinen. Von Menschen deutscher Herkunft, die Sätze sagen wie: "Wahl, Alter? Was ist das, Mann?"
"Wer nicht will, sucht nur Erklärungen"
So wäre die Geschichte ohne Hans Iblher. Wer mit ihm durch das Viertel im Zentrum Neumünsters geht, kommt aus dem Grüßen nicht mehr heraus. Fast jeder scheint den ehemaligen Schulleiter der Vicelin-Grundschule zu kennen - auch weil Iblher sich in den vergangenen Jahren um diesen Problemstadtteil verdient gemacht hat. Den Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland hat er dafür bekommen, und den Respekt der Menschen. "Wer will, sucht Wege", sagt Iblher: "Wer nicht will, sucht nur Erklärungen."
Iblher sucht die Wege, auch nachdem er vor einigen Jahren in Rente gegangen ist. Er redet mit Menschen seines Viertels, die die Integration geschafft haben. Menschen wie Veli Özal. Der 42-Jährige ist im Vicelinviertel aufgewachsen, besuchte die Grundschule, die Iblher jahrelang leitete. Vor 20 Jahren hat Özal einen türkischen Supermarkt aufgemacht. Hier wird nur wenig deutsch gesprochen, schon gar nicht über deutsche Politik, sagt Özal. "Ich weiß auch nicht, warum viele nicht wählen, die wohnen doch auch hier und wollen, dass sich was ändert ", sagt er. "Aber ich gehe zur Wahl."
Der soziale Kitt ging verloren
Menschen wie Özal machen das Viertel aus, das, wie durch eine Grenze markiert, durch die Hauptstraße Kuhberg von den besseren Vierteln Neumünsters getrennt ist. Viele Vicelin-Bewohner wollen einfach nur die Seite wechseln. "Weg von den Asis", wie das manche hinter vorgehaltener Hand sagen. Denn das Problem des Viertels ist nicht in erster Linie der hohe Anteil von Migranten. "Es sind auch die Deutschen, die das Viertel herunterziehen", meint Hans Iblher. Menschen, die über viel Tagesfreizeit verfügen, die in anderen Stadtteilen keine Wohnung mehr finden, die an eine geregelte Arbeit nicht mal mehr denken können. Dass sie sich nicht an der Landtagswahl beteiligen, scheint da noch das geringste Problem zu sein. Vor allem ist es ihre fehlende gesellschaftliche Inklusion, die ihnen und anderen Probleme macht. Parteien und Kirchen binden keine Mitglieder, Sportvereine finden keinen Nachwuchs. Und so spielt sich das Leben auf der Straße ab.
Viele Wohnungen und Häuser verfallen, an manchen Altbauten sitzen nicht mal mehr die Klingelschilder richtig. "Die Bausubstanz war mal nicht schlecht", sagt Hans Iblher, als er die Fassaden hinaufblickt. Aber Ende der 1970er Jahre habe die Veränderung im Viertel langsam begonnen. Alte Bewohner zogen aus dem bürgerlichen Viertel weg, die Mieten waren billig, es kamen viele Migranten, vor allem aus der Türkei. Später folgten Menschen aus dem ehemaligen Jugoslawien, dann kamen die Osteuropäer. Was verloren ging, war der gesellschaftliche Kitt. "Hier denkt jeder nur an sich selbst", brummelt ein Mann, der auf einer Treppe vor einem verfallenen Haus sitzt und Bier trinkt. Von der Landtagswahl will er gar nichts wissen. Ihm bleibe nur das Bier, "und dass ich bald abkratze hier", sagt er und zeigt auf das Haus.
"Das ist total nett hier"
Der Verfall ist allgegenwärtig. Das sieht auch Hans Iblher. Viele Häuser seien in privater Hand, von "Menschen, die hier nicht wohnen". Da verkomme eben vieles. "Man muss das Viertel wieder attraktiver machen", meint Iblher. So konnten Bewohner mit Hilfe des Quartiermanagements und Fördergeldern auf einer brach liegenden städtischen Fläche gratis Gärten anlegen. "Das schafft Verbindung", sagt Iblher. Doch neben den Gärten stehen schon wieder Geschäfte und Wohnungen leer.
Eines der wenigen Traditionsgeschäfte, das noch nicht verschwunden ist, ist das von Petra Klee in der Christianstraße. Seit 25 Jahren arbeitet sie in ihrem Elektrogeschäft. "Ich mag das Viertel, im Sommer kann ich endlich wieder herziehen", sagt die Unternehmerin. Nie habe sie gedacht, den Laden woanders anzusiedeln. Klar sei das Vicelinviertel nicht einfach, aber sie sieht die positiven Seiten. "Man kann abends auch mal auf der Straße zusammensitzen - das ist total nett hier." Angst vor Gewalt hat sie nicht.
Wählen? Was soll das bringen?
"Ich schon", sagt eine Mutter, die Hans Iblher vor seiner alten Schule trifft. Zwei Kinder hat sie, einen neuen Partner und keine Arbeit. "Wählen gehe ich nicht, was soll das bringen?", fragt die junge Frau. Auch sie lebt gern im Vicelinviertel, schon wegen der guten Schule, sagt sie. Aber wenn sie es sich leisten könnte, würde sie woanders wohnen.
Fälle, die Hans Iblher zur Genüge kennt: "Ich war nicht nur Lehrer, ich habe in meinem Büro Wohnungsvermittlung, Ehe-, Erziehungs- und Konfliktberatung gemacht." Details will er lieber nicht erzählen. Und auch er, der so positiv ist, und an die Zukunft des Vicelinviertels glaubt, sagt: "An manche Menschen kommt man einfach nicht ran."
Viele seien noch gar nicht angekommen in der Gesellschaft, sagt Dönerbuden-Manager Alkis. Aber er spüre die Veränderung. "Früher wollten die Eltern hier nicht, dass man aufs Gymnasium geht, weil die Kinder früh Geld verdienen sollten. Jetzt wollen alle eine Gymnasial-Empfehlung." Der 50-Jährige glaubt, dass es die dritte oder vierte Generation der Einwanderer schaffen kann. "Meine Kinder zum Beispiel." Und dann klappe das mit dem Wählengehen bestimmt auch.
Auch Hans Iblher baut auf die Kinder. Wenn er vor seiner alten Schule steht, kommen sie in Scharen und umarmen ihren alten Rektor. "Die Kinder müssen die Hoffnung auf Teilhabe behalten", sagt er dann.
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