Die EU braucht die Türkei
5. Oktober 2007, 04:00 Uhr
Die Republik am Bosporus hat sich zu einem fortschrittlichen Vorbild für die islamische Welt entwickelt. Das sollte Europa nutzen / Von Wulf Schönbohm
Der Hassprediger Mohammed al-Fazazi, dessen "Predigten" aus dem Jahr 2000 in Hamburg nun als "Hamburger Lektionen" in die Kinos kommen, veranschaulicht, wie unbehelligt bisher in deutschen Moscheen Muslime zu Gewalt und Terror aufrufen konnten. Wollen wir hoffen, dass inzwischen so etwas nicht mehr möglich ist, weil die Landesinnenminister die Moscheen besser überwachen und früher eingreifen. Nach einer neuesten Umfrage des German Marshall Fund sind 74 Prozent der Deutschen der Meinung, die Bedrohung durch islamische Fundamentalisten sei gestiegen. Erstaunlich, dass trotzdem noch 42 Prozent aller Deutschen eine türkische EU-Mitgliedschaft positiv sehen, denn erfahrungsgemäß werden alle Muslime in einen Topf geworfen.
Google Anzeige
SunExpress in die Türkei
Flüge in die Türkei schon ab 49 €. Jetzt bequem buchen und sparen!
www.SunExpress.com/de
Dabei wäre es vor diesem Hintergrund besonders interessant, sich mit der politischen Entwicklung der Türkei zu beschäftigen, denn sie ist das einzige Land mit muslimischer Bevölkerung, in dem parlamentarische Demokratie und Rechtsstaat, Laizismus und Marktwirtschaft Realität sind, in welchem Hassprediger keine Chance haben, in dem der Islam keinen Einfluss auf die Politik nimmt und in dem an den theologischen Fakultäten ein Islam gelehrt wird, der der freiheitlichen, modernen Gesellschaft nicht entgegensteht.
Ähnliche Artikel
* EU erwartet von der Türkei demokratische Fortschritte
* In der Türkei wackelt das politische System. Der Wirtschaft aber dürfte das kaum schaden. Das Land hat ein System gefunden, das sich sogar mit Islamisten gut verträgt: Tigerstaat am Bosporus
* Erdogans Sieg: Die Türkei soll der Welt als Vorbild dienen
* Nach Präsidentenwahl: EU erwartet Fortschritte in der Türkei
* Türkei: Der Kulturkampf am Bosporus
Seitdem im Jahr 2002 die AKP (Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung) unter Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan die Regierungsgeschäfte übernahm, sind in diesem Land unglaublich viele grundlegende Reformen realisiert worden zur Stärkung der Menschen- und Bürgerrechte und des Rechtsstaates. Die Inflation wurde radikal gesenkt, die ausländischen Direktinvestitionen steigen, die Wirtschaft brummt. Folgerichtig hat deshalb die EU auch die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei begonnen.
Das alles hat die AKP geschafft, trotz der Widerstände, Hürden und Blockaden von kemalistischer Seite, vertreten durch die früher einmal sozialdemokratische, jetzt nationalistische Oppositionspartei CHP und den bisherigen Staatspräsidenten Sezer, die unterstützt wurden durch das Militär und wichtige Teile der Bürokratie und der Justiz. Die Wahl des moderaten und als Außenminister anerkannten Abdullah Gül zum Staatspräsidenten konnte zunächst mithilfe eines juristisch fragwürdigen Urteils des Verfassungsgerichts, das von Kemalisten beherrscht ist und das durch Drohungen des Militärs unter Druck gesetzt wurde, verhindert werden, weshalb es im Juli dieses Jahres zu vorgezogenen Parlamentswahlen kam.
Mit ihrem triumphalen Wahlergebnis von 46,4 Prozent (plus 12 Prozent) hat die AKP einen politisch entscheidenden Sieg über die Kemalisten im Allgemeinen und das Militär im Besonderen errungen. Jetzt ist Gül Staatspräsident, und die AKP kann unangefochten alleine weiter regieren. Sein Vorgänger im Amt, der dogmatische Kemalist und frühere Verfassungsrichter Sezer, hatte seine Kompetenzen dazu benutzt, um zum Beispiel die Dezentralisierung der omnipotenten Verwaltung zu blockieren, weil er dadurch die Einheit des Staates gefährdet sah. In Wahrheit aber wollte er das Durchgriffsrecht der kemalistischen Verwaltung erhalten. Er hat auch die Berufung von Ministern und hohen Beamten verhindert, weil sie ihm nicht genügend kemalistisch erschienen. So etwas wird es mit Gül nicht mehr geben.
Erdogan hat angekündigt, dass seine Regierung ihren europafreundlichen Reformkurs fortsetzen werde. Zentrales Reformprojekt für die Regierung ist die Verabschiedung einer liberaleren Verfassung, die die bisherige autoritäre Verfassung von 1982, die vom Militär nach dem letzten Putsch initiiert wurde, ablösen wird.
Schon jetzt hat über die neue Verfassung eine öffentliche Diskussion begonnen, die sich auf die umstrittene Kopftuchfrage konzentriert, denn darin ist die Formulierung vorgesehen, dass an den Universitäten das Tragen der Kleidung frei ist, solange sie nicht gegen Gesetze verstößt. Damit könnte künftig eine Studentin ihre Universität mit einem Kopftuch betreten, was nach dem Gesetz auch schon früher möglich, aber durch kemalistische Gerichtsurteile und Verwaltungsvorschriften untersagt war. Diese Reform ist überfällig, denn ich habe es noch erlebt, wie an einer Istanbuler Universität Studentinnen mit Polizeigewalt aus der Prüfung entfernt wurden, weil sie ein Kopftuch trugen. Das seit Atatürk bestehende Kopftuchverbot für Beamtinnen in Amtsräumen ist berechtigt, das gegen Kopftücher an Universitäten nicht, weil dadurch die Zulassung zur Hochschulausbildung von einer bestimmten Gesinnung abhängig gemacht wird.
Natürlich wird es um die neue Verfassung noch weitere heftige Auseinandersetzungen geben, und der Machtkampf um dieses Projekt wird der letzte zwischen der AKP und den Kemalisten sein, die allerdings an Ansehen, Macht und Unterstützung verloren haben. Die Kemalisten, das Militär eingeschlossen, haben sich in der Vergangenheit große Verdienste um die Republik erworben, aber sie sehen Individualismus und Pluralismus, Religiosität und Minderheitenrechte als Gefahren für den Staat an, den sie absolut setzen und als dessen Hüter und Bewahrer sie sich verstehen. Sie sind Reformgegner und zu dogmatischen Verteidigern ihrer überholten Machtprivilegien geworden, für die sie auch mit fragwürdigen Methoden kämpfen. Insbesondere das Militär, das immer noch großes Ansehen genießt und in der türkischen Geschichte seinen politischen Einfluss ohne jede demokratische Legitimation wahrgenommen hat, musste in den vergangenen fünf Jahren durch die von der EU geforderten und von der AKP realisierten Reformen Schritt für Schritt politische Macht abgeben. Dieser Prozess muss so lange weitergehen, bis das Primat der Politik gegenüber dem Militär Gültigkeit hat.
Mit den Kemalisten würde die bisherige antireligiöse, urbane Elite, die seit Gründung der türkischen Republik die politischen Rahmenbedingungen des Landes festgelegt hat, abtreten zugunsten der religiösen, gut ausgebildeten, modernen Elite aus der Provinz. Sie wird von der AKP vertreten, die sich zur einzigen Volkspartei der Türkei entwickelte, indem sie konservativ-islamische, liberale, soziale und reformerische Strömungen integriert hat.
Es wäre schön, wenn die Gegner der türkischen EU-Mitgliedschaft anerkennen würden, welche Reformdynamik die Türkei im Gegensatz zu Mitgliedsländern wie zum Beispiel Bulgarien oder Rumänien seit Jahren zeigt. Die AKP hätte die wohlwollende Unterstützung der EU auf ihrem Weg nach Europa verdient, denn alle Unterstellungen, diese Partei habe eine geheime islamistische Agenda, erwiesen sich als Hirngespinste.
Erdogan hat früh erkannt, dass in einer laizistischen Demokratie islamische Gebote wie zum Beispiel das Alkoholverbot den Bürgern nicht vom Staat aufgezwungen werden dürfen, und hat sich deshalb von der islamistischen Erbakan-Partei abgespalten und die AKP gegründet. Er ist ein überzeugter Demokrat und engagierter Reformer, während aus den hundertprozentigen Kemalisten hundertfünfzigprozentige Kemalisten geworden sind, die ihr eigenes Land nicht mehr verstehen. Die türkische Gesellschaft ist bereits viel zu modern und westlich geworden, als dass die Bevölkerung die Scharia wollte und das Militär noch als Schutzmacht gegen Islamisten benötigte. Diese Zeiten sind endgültig vorbei.
Für die Politiker von CDU und CSU wird es immer schwieriger werden, ihre Ablehnung der türkischen EU-Mitgliedschaft plausibel zu begründen. Sie halten jedoch daran fest, weil dies eine ihrer letzten scheinbar konservativen Positionen ist und weil sie Angst vor ihren eigenen Wählern haben, deren Vorurteile sie pflegen, anstatt sie abzubauen. Das ist nicht konservativ, sondern reaktionär. Dass die eventuelle EU-Aufnahme einer reformierten Türkei das Verhältnis zwischen dem Westen und dem Islam auf eine neue Basis stellen und der islamischen Welt eine fortschrittliche, zukunftsorientierte Perspektive, ja ein Vorbild bieten würde, übersehen sie leider.
Der Autor, Reserveoffizier und Politologe, leitete die Grundsatzabteilung der baden-württembergischen Staatskanzlei und von 1997 bis 2004 das Türkei-Büro der Konrad-Adenauer-Stiftung
quelle:
http://www.welt.de/welt_print/article1236231/Die_EU_braucht_die_Tuerkei.html