Kapitalismus - Die Ausgeburt der Hölle
20.03.2023 um 12:37@Edengefühle
Deine Gegenüberstellung von Wirtschaftswissenschaften (meist pauschal mit der ‚Neoklassik‘ identifiziert) auf der einen und Soziologie auf der anderen Seite ist sehr schwarzweißmalerisch. In deinen Ausführungen klingt es so, als sei ‚die Soziologie‘ noch bei Marx oder anderweitig materialistisch orientiert. Die von euch Gesellschaftskritikern bevorzugten Gegenstände wie ‚soziale Ungleichheit‘ werden doch in der (heutigen) Soziologie weitaus differenzierter betrachtet. Nach meinem Eindruck werden in der zeitgenössischen Soziologie ökonomische Phänomene sehr häufig institutionalistisch erklärt. Wenn ihr Gesellschaftskritiker euch pauschal auf ‚die Soziologie‘ beruft (hier im Forum z.B. auch @paranomal ), höre ich bezeichnenderweise nie etwas von Max Weber, Niklas Luhmann, Robert K. Merton, Mark Granovetter, Hartmut Esser, Richard Scott oder den aktuellen Wirtschaftssoziologen. Warum? Weil diese die Komplexität und – daraus folgend – die weitgehende Nicht-Steuerbarkeit moderner Gesellschaften erkannt und damit den Grundpfeiler der Utopisten angesägt haben. Ich würde sagen, die meisten Wirtschaftssoziologen haben sich von Marx abgewandt – wenn die Soziologie überhaupt jemals übergreifend an ihm orientiert war. Marx hat sicherlich einen Kerngedanken gehabt, der retrospektiv als soziologisch anzuerkennen ist, nämlich dass soziale Prozesse sich verselbstständigen und sich abseits des Bewusstseins konkreter Einzelakteure vollziehen können. Aber er hat sich letztlich nur für Ökonomie interessiert und andere Gesellschaftsbereiche – wenn überhaupt – stets durch die materialistisch-ökonomistische Brille betrachtet. Heute würden viele Sozialwissenschaftler gerade die Einbettung der Wirtschaft in das übrige geistige Leben, z.B. ihre Beeinflussung durch die Kultur, berücksichtigen. Der Materialismus ist eine Sackgasse.
Und Marx‘ Analyse des sogenannten Kapitalismus krankt m.E. auch daran, dass er die Gewinnerwirtschaftung primär am Produktionsprozess festmacht, also so tut, als halte der Kapitalist den Gewinn schon in Händen, wenn er den Arbeiter ‚ausgebeutet‘ (bei Marx eigentlich: exploitiert) hat und über die fertigen Produkte verfügt. Dass der Gewinn erst da ist, wenn dem Kapitalisten die Produkte zu einem bestimmten Preis abgekauft werden, und dass dieser Schritt scheitern kann und faktisch immer wieder scheitert, wird meist vergessen. Und: Marx zeigt zwar, wie die Technisierung des Produktionsprozesses die Waren immer weiter verbilligt, zieht aber nicht den Schluss, dass genau hieraus ein allgemeiner Wohlstand erwächst (und eben keine Verelendung der Arbeiter, die ja zugleich die Konsumenten sind, ohne die wiederum der Kapitalist keinen Gewinn erwirtschaften kann), obwohl die Produktion privatwirtschaftlich organisiert ist. Dass der Kapitalismus prinzipiell unproblematisch ist, lässt sich im Grunde schon aus Marx‘ „Kapital“ selbst herauslesen: Dort wird ‚eingestanden‘, dass sich Kapital nur dadurch erzielen und akkumulieren lässt, dass massenhaft Gebrauchswerte produziert werden. Massenhaft Gebrauchswerte produzieren heißt: massenhaft Bedürfnisse befriedigen (= Wohlstand für alle). Genau genommen wiederholt Marx damit die These von Adam Smith, dass aus dem Egoismus des Einzelnen ein gesamtgesellschaftlicher Nutzen entstehen kann. Dass hierbei eventuell materielle Ungleichheit erzeugt wird, ist ein völlig anderer Punkt! Adam Smith und viele zeitgenössische Gerechtigkeitstheoretiker (z.B. John Rawls) sind diesbezüglich der Meinung, dass eine Ungleichverteilung moralisch akzeptabel (ja sogar geboten!) ist, wenn das zugrunde liegende System den jeweils (relativ) Ärmsten einen absoluten Wohlstand verschafft. Hier muss jeder selbst entscheiden, was ihm lieber ist: mehr Gleichheit auf einem niedrigeren als potenziell erreichbaren Niveau (Linke) oder ein höheres Wohlstandsniveau auch und gerade für die am schlechtesten Gestellten unter Inkaufnahme eines größeren Abstands zwischen Oben und Unten (Liberale). Dies ist jedoch eine normative Frage, die nicht wirtschaftstheoretisch geklärt werden kann!
Deine Gegenüberstellung von Wirtschaftswissenschaften (meist pauschal mit der ‚Neoklassik‘ identifiziert) auf der einen und Soziologie auf der anderen Seite ist sehr schwarzweißmalerisch. In deinen Ausführungen klingt es so, als sei ‚die Soziologie‘ noch bei Marx oder anderweitig materialistisch orientiert. Die von euch Gesellschaftskritikern bevorzugten Gegenstände wie ‚soziale Ungleichheit‘ werden doch in der (heutigen) Soziologie weitaus differenzierter betrachtet. Nach meinem Eindruck werden in der zeitgenössischen Soziologie ökonomische Phänomene sehr häufig institutionalistisch erklärt. Wenn ihr Gesellschaftskritiker euch pauschal auf ‚die Soziologie‘ beruft (hier im Forum z.B. auch @paranomal ), höre ich bezeichnenderweise nie etwas von Max Weber, Niklas Luhmann, Robert K. Merton, Mark Granovetter, Hartmut Esser, Richard Scott oder den aktuellen Wirtschaftssoziologen. Warum? Weil diese die Komplexität und – daraus folgend – die weitgehende Nicht-Steuerbarkeit moderner Gesellschaften erkannt und damit den Grundpfeiler der Utopisten angesägt haben. Ich würde sagen, die meisten Wirtschaftssoziologen haben sich von Marx abgewandt – wenn die Soziologie überhaupt jemals übergreifend an ihm orientiert war. Marx hat sicherlich einen Kerngedanken gehabt, der retrospektiv als soziologisch anzuerkennen ist, nämlich dass soziale Prozesse sich verselbstständigen und sich abseits des Bewusstseins konkreter Einzelakteure vollziehen können. Aber er hat sich letztlich nur für Ökonomie interessiert und andere Gesellschaftsbereiche – wenn überhaupt – stets durch die materialistisch-ökonomistische Brille betrachtet. Heute würden viele Sozialwissenschaftler gerade die Einbettung der Wirtschaft in das übrige geistige Leben, z.B. ihre Beeinflussung durch die Kultur, berücksichtigen. Der Materialismus ist eine Sackgasse.
Und Marx‘ Analyse des sogenannten Kapitalismus krankt m.E. auch daran, dass er die Gewinnerwirtschaftung primär am Produktionsprozess festmacht, also so tut, als halte der Kapitalist den Gewinn schon in Händen, wenn er den Arbeiter ‚ausgebeutet‘ (bei Marx eigentlich: exploitiert) hat und über die fertigen Produkte verfügt. Dass der Gewinn erst da ist, wenn dem Kapitalisten die Produkte zu einem bestimmten Preis abgekauft werden, und dass dieser Schritt scheitern kann und faktisch immer wieder scheitert, wird meist vergessen. Und: Marx zeigt zwar, wie die Technisierung des Produktionsprozesses die Waren immer weiter verbilligt, zieht aber nicht den Schluss, dass genau hieraus ein allgemeiner Wohlstand erwächst (und eben keine Verelendung der Arbeiter, die ja zugleich die Konsumenten sind, ohne die wiederum der Kapitalist keinen Gewinn erwirtschaften kann), obwohl die Produktion privatwirtschaftlich organisiert ist. Dass der Kapitalismus prinzipiell unproblematisch ist, lässt sich im Grunde schon aus Marx‘ „Kapital“ selbst herauslesen: Dort wird ‚eingestanden‘, dass sich Kapital nur dadurch erzielen und akkumulieren lässt, dass massenhaft Gebrauchswerte produziert werden. Massenhaft Gebrauchswerte produzieren heißt: massenhaft Bedürfnisse befriedigen (= Wohlstand für alle). Genau genommen wiederholt Marx damit die These von Adam Smith, dass aus dem Egoismus des Einzelnen ein gesamtgesellschaftlicher Nutzen entstehen kann. Dass hierbei eventuell materielle Ungleichheit erzeugt wird, ist ein völlig anderer Punkt! Adam Smith und viele zeitgenössische Gerechtigkeitstheoretiker (z.B. John Rawls) sind diesbezüglich der Meinung, dass eine Ungleichverteilung moralisch akzeptabel (ja sogar geboten!) ist, wenn das zugrunde liegende System den jeweils (relativ) Ärmsten einen absoluten Wohlstand verschafft. Hier muss jeder selbst entscheiden, was ihm lieber ist: mehr Gleichheit auf einem niedrigeren als potenziell erreichbaren Niveau (Linke) oder ein höheres Wohlstandsniveau auch und gerade für die am schlechtesten Gestellten unter Inkaufnahme eines größeren Abstands zwischen Oben und Unten (Liberale). Dies ist jedoch eine normative Frage, die nicht wirtschaftstheoretisch geklärt werden kann!
Edengefühle schrieb:Marx hat sich mit ermüdender Pedanterie fast ausschließlich der Analyse der Lehre der Nationalökonomie gewidmet, ist praktisch jeden ihrer Aspekte durchgegangen, und war unglaublich vorsichtig mit alternierenden Gesellschaftsentwürfen.Aus dem von dir Geschriebenen erhellt, dass die sogenannte ‚Neoklassik‘ und Marx denselben Makel haben: Beide argumentieren rein theoretisch. Wie du richtig schreibst, hat Marx die ökonomischen Theorien analysiert und regelrecht ‚auseinandergenommen‘, z.B. Widersprüche aufgedeckt. Aber kann er dadurch die Wahrheit entdecken und die Wirtschaft verstehen? Was es aus heutiger wissenschaftlicher Sicht braucht, um Theorien zu widerlegen, ist Empirie. Und der Mangel an Empirie bei gleichzeitigem dogmatischem Beharren auf theoretischen Grundsätzen ist das, was das linke Denken bis heute auszeichnet, ja geradezu konstituiert. Man greift sich zwar gerne den einen oder anderen empirischen Befund heraus, der ins Bild passt (allen voran den Verweis auf materielle Ungleichheit); man zieht jedoch niemals alternative Erklärungsmöglichkeiten in Betracht, ist also nicht wirklich an Erkenntnis interessiert. Wer Probleme lösen will, muss ihre Ursachen kennen. Was ist, wenn die Ursache der materiellen Ungleichheit nicht im Kapitalismus zu suchen, sondern systemunabhängig ist (und wie wir wissen, gibt es sie auch in nicht-kapitalistischen Systemen)? Was ist, wenn es nur eine Spielart des bei Merton beschriebenen Matthäus-Effekts ist, dass ‚die Reichen immer reicher‘ werden?