Salih - Wird ein Verbrecher zum Märtyrer?
29.01.2008 um 17:18
Abziehen und Abzocken - Erpressung und Diebstahl unter Jugendlichen
Erpressung und Diebstahl findet in erster Linie außerhalb des Schulhofs statt, da im schulischen Umfeld das Risiko für Täter relativ hoch ist, entdeckt zu werden. In der Regel handelt es sich dabei zunächst nicht um die klassischen Tatbestände, also das direkte Einfordern z. B. von Gegenständen. Dies geschieht normalerweise erst, wenn die Täter bereits eine längere Gewaltkarriere hinter sich gebracht haben. Einsteiger haben "Eröffnungsrituale", die dazu dienen, durch Provokation ein potenzielles Opfer in eine bestimmte Richtung zu drängen, aus der das Opfer nicht mehr heraus kommt. Handy oder Geld fallen dabei zunächst eher als "Nebeneffekt" der Aktion ab.
"Abziehen" und "Abzocken" sind verharmlosende Begriffe aus der Jugendsprache für eine Situation der Raubtat, wie sie im Folgenden beschrieben wird. Tatsächlich liegt Raub oder räuberische Erpressung vor, d. h. das sich Aneignen von Eigentum fremder Personen unter Gewaltandrohung oder -ausübung.
Das Ritual
Es handelt sich selten um Einzeltäter. In der Regel treten die Täter in der Gruppe auf. Diese Gruppe hat zumeist feste Treffpunkte zum "Abhängen", d. h. Warten auf ein potenzielles Opfer. Ziel der Täter ist, eine Situation herbeizuführen, aus der sie einen Grund konstruieren können, das Opfer anzugreifen. Mit einfachen Sprüchen wie "Hey Du, komm mal her!" oder "Hast Du mal ne Zigarette?" wird das Opfer zu einer Reaktion veranlasst. Es bleibt stehen und antwortet oder geht sogar zu der Gruppe, weil freundlich gefragt wurde. Doch auch das ist bereits Teil einer Strategie, die auf Seiten des Opfers zunächst kein Gefahrensignal entstehen lässt. Der Ton wird fordernder, schärfer, z. B. "Wir sind aber zu viert, wir brauchen vier Zigaretten", "Gib mal die ganze Packung her!" und "Was hast Du denn sonst noch dabei?" Das Opfer wird dabei von der Gruppe eingekreist, so dass es sich aus der Situation, die es zunächst nicht als gefährlich wahrgenommen hat, jetzt aber als zunehmend bedrohlich erlebt, nicht mehr zurück ziehen kann.
Im nächsten Schritt beginnen Gruppenmitglieder mit Übergriffen wie Schubsen, zunächst, um an der Reaktion des Opfers zu testen, ob Widerstand zu erwarten ist. Auch wenn Widerstand erfolgt, wird das Schubsen fortgesetzt. Es folgen Schläge und Tritte bis hin zur Bodenlage, also so weit, dass man das Opfer tatsächlich zu Boden zwingt, dort weiter malträtiert und schließlich ausraubt. Dabei werden bevorzugt Geld und Gegenstände wie Handy, Zigaretten und Bekleidung "abgezogen".
Die Situation kann auch durch direkte Provokation des Opfers durch den/die Täter herbei geführt werden, zum Beispiel mit Sätzen wie "Was guckst Du?". Ziel dieser Strategien ist, das Opfer in die Ecke zu drängen, entweder indem es zum Stehen bleiben gezwungen und dann umzingelt oder indem es in eine Zwickmühlensituation gebracht wird.
Die Zwickmühle
Das "Abziehen" appelliert insbesondere bei männlichen Kindern und Jugendlichen an Ehrgefühl und Männlichkeitsstolz. Es fällt dem potenziellen Opfer aufgrund des entweder freundlich vorgetragenen oder provokativen Appells schwer, sich der Situation zu entziehen, indem es nicht reagiert. Ein vom Konfliktverhalten eher ängstliches und auf "Flucht" programmiertes Opfer wird zum Beispiel antworten: "Ich hab doch gar nicht geguckt" und wird dann mit der Antwort: "Ich hab das doch gesehen, willst Du etwa behaupten, dass ich lüge?" konfrontiert. Es wird weiter defensiv antworten, zum Beispiel: "Nein, nein, Du lügst nicht!" und ist damit bereits in der Zwickmühle, denn der Aggressor wird nun sagen: "Also hast Du mich doch angeschaut?" Das Opfer hat in keinem Fall eine Chance, sich argumentativ aus der Affäre zu ziehen. Alles, was es nun sagt oder tut, wird ganz bewusst gegen das Opfer eingesetzt. Eine aggressivere Reaktion des Opfers könnte zum Beispiel so aussehen, dass dieses auf eine Provokation hin selbst ausfallend oder beleidigend wird und sich vielleicht sogar auf der Körperebene, zum Beispiel durch Schubsen wehrt, weil ihm der oder die Täter zu nahe kommen. Damit erteilt das Opfer den Tätern jedoch nur die gewünschte Rechtfertigung für das weitere Ritual des Schlagens und Tretens.
In der Regel kennen Täter und Opfer sich weitläufig vom sehen, wissen u. U., wo der andere wohnt, wo er verkehrt. Sie benutzen evtl. die gleichen Verkehrsmittel, treffen sich an Knoten- bzw. Umsteigehaltestellen, zum Beispiel nach Schulschluss, wenn sich Schüler unterschiedlicher Schulen an bestimmten Haltestellen treffen. Solche Situationen können sich auch in der Freizeit ergeben, zum Beispiel wenn Opfer und Täter sich schon mehrfach auf dem Sportplatz begegnet sind. Das ist insbesondere für die Konsequenzen relevant, die das Opfer aus einer derartigen Gewaltsituation zieht.