@al_islamGleiche Zeitung eine Woche später
Kern der Sache
1915/1916 wurde an den Armeniern Völkermord begangen: Hans-Lukas Kieser nimmt Stellung zu Norman Stones polemischer Verneinung in der vergangenen Weltwoche. Und wirft ihm vor, kritiklos den Argumenten des türkisch-nationalistischen PR-Apparats zu folgen.
Von Hans-Lukas Kieser
Anzeige Es darf und soll eine Vielzahl von Blicken auf historische Ereignisse, auch auf die armenische Katastrophe von 1915/16, geben können. Es gibt allerdings eine notwendige Bedingung, falls wir wissenschaftlich arbeiten und nicht unterhalten oder ablenken wollen: Wir müssen genau hinschauen. In diesem Fall genau hinschauen auf das, was mit den Armeniern Kleinasiens 1915/16 geschieht. Mein Artikel vom 19. Oktober hat sich darum bemüht. Norman Stones Argumente sind diejenigen des türkischen PR-Apparates, der seit 1915 jegliche staatliche Verantwortung wegreden will. So ist eine wissenschaftliche Debatte nicht möglich. Er gibt zu Beginn dem radikalnationalistischen Politiker Dogu Perinçek das Wort und bekennt sich «völlig» zu ihm, «was die armenische Angelegenheit betrifft».
Das «Verschwinden» der Armenier aus Anatolien sei zwar zu bedauern, aber sie seien halt «Opfer einer ‹imperialistischen Verschwörung›» gewesen. Wenn Norman Stone das sagt, blickt er bereits auf die Jahre 1919–22 und hält sich an die türkisch-nationalistische Sichtweise, dass nach dem Ersten Weltkrieg Anatolien «von inneren und äusseren Feinden befreit» worden sei. Er suggeriert, dort und bei der armenischen Diaspora liege der «Kern der Sache». Es sei die damals frustrierte Diaspora, die heute aus der armenischen Tragödie eine Art «Bettler-Schoah» (so Stone an anderer Stelle) mache, um die Türkei zu erpressen.
Wegreden, wegblicken und Verschwörungsthesen gehen in eins. Wir wollen beim Hauptgegenstand – dem Völkermord von 1915/16 – bleiben. Es sei eine «vertretbare These», von «550000 Deportierten» zu sprechen, von denen 50000 unterwegs gestorben, die Hälfte davon getötet oder massakriert worden seien, meint Stone, gestützt auf Yusuf Halaçoglu, den Leiter des türkischen Geschichtsinstitutes.
Diese «These» ist eine Erklärung historischer Verantwortungsunfähigkeit. Kemal Atatürk selbst, der nicht dem jungtürkischen Komitee angehört hatte, ging nach 1918 von 800000 getöteten Armeniern aus. Talat Pascha, Komiteemitglied an der Spitze des Reichs und federführender Innenminister, das heisst Hauptverantwortlicher der «Verschickung», notierte 0,92 Millionen Deportierte und eine Bevölkerungszahl von 1,26 Millionen Armeniern. Dies gemäss der Zeitung Hürriyet, die im April 2006 Ausschnitte aus Talats bisher verschollenem Notizbuch veröffentlicht hat.
Selbst diese Zahlen sind weit unter der Realität. Die einschlägigste Quelle, die Steuerregister des armenischen Patriarchats, ergibt für die armenische Bevölkerung der osmanischen Türkei etwas mehr als zwei Millionen (ein Fünftel der Gesamtbevölkerung Anatoliens, wie Norman Stone schreibt, betrugen die Armenier nicht, sonst wären wir bei drei Millionen). Nach heutigem Forschungsstand ist die Hälfte der armenischen Bevölkerung, vielleicht deutlich mehr, Todesopfer der Staatspolitik von 1915/16 geworden. Der Historiker Raymond Kévorkian hat die bisher sorgfältigste Gesamtuntersuchung darüber publiziert. Was Halaçoglu betreibt, sind zweckorientierte Zahlenspiele (für Rezensionen siehe hsozkult.geschichte. hu-berlin.de).
Altbekannte Propaganda
«Viele Armenier überlebten», schreibt Norman Stone, und zieht einen Vergleich mit der Schoah. Allerdings überlebten im Verhältnis zu ihrer Bevölkerungsgrösse nicht viel mehr kleinasiatische Armenier als 1941–45 europäische Juden, von denen rund zwei Drittel getötet wurden.
Die Staatspropaganda hatte lange davon gesprochen, Deportationen hätten nur in frontnahen Gebieten stattgefunden. Telegramme Talats, die 1994 veröffentlicht wurden, belegten jedoch die Verschickung der Armenier aus ganz Kleinasien. Noch sucht Stone einzuwerfen, die Armenier in den Städten Istanbul und Izmir seien nicht deportiert worden. Auch dies stimmt so nicht, denn selbst von dort wurden Tausende deportiert. Dass dennoch eine Mehrheit der dort Alteingesessenen (vorläufig) bleiben konnte, hatte in Istanbul mit der Anwesenheit ausländischer Diplomaten und in Izmir mit dem Machtwort des deutschen Generals Liman von Sanders zu tun. Für das jungtürkische Komitee und seinen Vertreter in Izmir, den Gouverneur Mustafa Rahmi, hatten in der Ägäis-Region die Vertreibung der viel zahlreicheren griechisch-orthodoxen Bürger und der Raub ihrer Güter Vorrang (Rache für die Verluste in den Balkankriegen 1912/13 spielte dabei eine Rolle).
Im bisher Gesagten erschöpft sich Stones «Eingehen» auf 1915 weitgehend. Falsches über die Armenier am Musa Dagh folgt später noch: Sie hätten vor den Verschickungen und wegen französischer Interventionen rebelliert. Richtig lautet die Chronologie so: Die Verschickungen begannen im Juni 1915 in grossem Umfang, am 30. Juli traf der Deportationsbefehl für die Dörfer am Musa Dagh ein, danach begann der armenische Widerstand, wovon die französische Marine erst am 10. September erfuhr und darauf rettend eingriff.
Parallel zur altbekannten Propaganda stellt Stone die Armenier in Van als Täter hin, die im April 1915 die folgende Tragödie ausgelöst hätten. Das ist eine schwerwiegende Beschuldigung der Opfer, die Stone mit der abschätzigen Bemerkung ergänzt, niemand, auch nicht «die» Russen, hätte «die» Armenier geschätzt. Die Vorgeschichte der Verteidigung von Van verwischt Stone völlig, wenn er die Massenmorde in den armenischen Dörfern durch staatliche Kräfte weglässt, um einzig armenische Gräueltaten nach der russischen Einnahme Vans herauszustreichen – die übrigens auch, neben vielem anderem, in Berichten der schweizerischen Waisenhauseltern in Van, Frieda und Johannes Spörri, notiert sind. Dass seriöse Geschichtsschreibung auch die muslimischen Opfer des brutalisierten Kleinkriegs an der Ostfront im Frühjahr 1915 nennt, ist selbstverständlich (und findet sich so in meinem Artikel vom 19. Oktober).
Beim Handeln des Staates liegt der zentrale Punkt, den Stone im Einklang mit der Propaganda wegzureden sucht. Der osmanische Staat selbst, seine Sicherheitskräfte, seine Administration, seine Propaganda und seine Spezialorganisation richteten sich 1915 gegen eine klar ausgegrenzte Gruppe eigener Bürger, Männer, Frauen und Kinder. Daher ist die «Bürgerkriegsthese», die den Kampf zweier Gruppen suggeriert und die Lenkung des Zentralstaats ausblendet, falsch. Dasselbe gilt für die «Provokationsthese» oder «Dolchstosslegende», die beide den «Aufstand von Van» zum Sündenbock für alles machen. Diese Thesen dienen dazu, die «Entfernung» der Christen, die offensichtliche Türkisierung Kleinasiens, als berechtigte Sicherheitspolitik des Komitees zu verkaufen. Damit ist nicht gesagt, es habe vor dem Frühjahr 1915 schon einen ausgearbeiteten Plan für die Verschickung der Armenier gegeben. Was es jedoch gab, waren einschlägige sozialdarwinistische Aussagen und das Vordenken Kleinasiens als Heimstätte und ausschliessliches Herrschaftsgebiet des «Türkentums». Daraus ergab sich die politische Option Genozid, der das Komitee im April 1915 nicht widerstand.
Hungern und Verhungernlassen
Zur zweiten Phase des Völkermords, der Vernichtung in der syrischen Wüste (Ende 1915 bis Anfang 1917), hat Stone nur die Bemerkung übrig, die Deportierten seien an Hunger und Seuchen gestorben. Wiederum schaut er nicht genau hin, fragt nicht nach den Umständen des Verhungernlassens, verschweigt die brutal verhinderte Wiederansiedlung und die systematischen Massaker, zum Beispiel bei Der Zor. Der Hinweis auf die hohe Zahl an Hunger- und Seuchentoten im Krieg soll diese Tötung Hunderttausender von Menschen, die bereits aus Kleinasien «entfernt» waren, beschönigen. Hier jedoch sind wir beim Kern der Sache Genozid: bei der Vernichtung von Menschen und dem politischen Willen dazu.
Es ist leere Rhetorik, wenn Stone wiederholt, dieser und jener Autor seien nicht erwähnt im Artikel vom 19. Oktober. Dieser beschränkt sich bewusst auf Befunde. Die am Ende genannte Sekundärliteratur setzt sich hingegen auch mit Autoren wie McCarthy, Shaw, Lewis und Halaçoglu auseinander. Von ihnen gehört allerdings keiner zum Netzwerk internationaler Experten, die seit Jahren vertieft über die Katastrophe von 1915/16 in der osmanischen Türkei arbeiten und neue Quellen erschliessen.
Die Forschung ist übrigens nicht auf die inhaltlich zwar plausiblen (so Konsul Rössler), aber in ihrer vorliegenden Form fragwürdigen Andonian-Telegramme, die Stone so sehr ins Zentrum rückt, angewiesen. Diese Diskussion aus den achtziger Jahren ist überholt, ähnlich wie die Frage nach dem einen ultimativen Führer- bzw. Komiteebefehl. Die alte Rede und die falsche Fragestellung dienen Stone für die dreiste Behauptung, es gäbe keine Beweise, sie seien 1918–22 umsonst gesucht worden.
Im Gegenteil sind ganz wichtige Dokumente in jener Zeit gesammelt worden, obwohl der Druck der militärisch siegreichen Nationalisten die Aufarbeitung der Verbrechen 1922 definitiv abbrach. Taner Akçam hat auf Deutsch über die Bemühungen der entsprechenden, notabene osmanischen Gerichte publiziert. In einem schriftlichen Zeugnis vom 5. Dezember 1918 an die Ermittlungskommission des Polizeipräsidiums, die sogenannte Mazhar-Kommission, schrieb General Vehip Pascha, der vormalige Oberkommandierende der 3. Armee: «Die Deportationen der Armenier wurden im völligen Widerspruch zur Menschlichkeit, Zivilisation und behördlichen Ehre durchgeführt. Die Massaker und die Ausrottung der Armenier, der Raub und die Plünderung ihres Eigentums waren das Resultat von Entscheidungen, die vom Zentralkomitee des Komitees für Einheit und Fortschritt ausgingen.» Vehip wusste, was er sagte, denn die 3. Armee war in Ostanatolien stationiert; allerdings schob er die ganze Verantwortung auf die «durch [das Zentralkomiteemitglied] Dr. Schakir trainierten Schlächterbanden».
Diese Akten ergänzen die zahlreichen Quellen der deutschen und der amerikanischen Diplomatie, die schon während der Ereignisse Berichte sammelten, analysierten und schon damals korrekt schlossen, «dass die Regierung tatsächlich den Zweck verfolgt, die armenische Rasse im türkischen Reiche zu vernichten» – so Botschafter Wangenheim am 7. Juli 1915 in einem Brief an den Reichskanzler. Die zeitgenössischen Berichte stammen von erfahrenen Beobachtern an zahlreichen Schauplätzen. Eine weitere Quellengruppe sind armenische Erfahrungsberichte, die zum Teil noch in den syrischen Wüstenlagern gesammelt worden waren. Ein untrügliches Bild der systematischen Verschickung schliesslich geben die seit den 1990er Jahren im osmanischen Archiv in Istanbul zugänglichen Telegramme des Innenministeriums. Noch warten Akten in diesem Archiv und im Militärarchiv in Ankara auf ihre Erschliessung.
Zynische Bemerkung
Stone rühmt Bernard Lewis’ «Geschichte der modernen Türkei», deren Originalausgabe immerhin vom «terrible holocaust of 1915, when a million and one half Armenians perished» sprach. Lewis änderte dies später ohne weitere Erklärung. Sein Buch ist an Universitäten längst durch Erik Zürchers «Turkey – A Modern History» abgelöst, das der «zentral gesteuerten Ausrottungspolitik des Komitees» ein Kapitel widmet.
Was Aktivisten in Russland und im Osmanischen Reich, Dostojewski-Figuren und andere, ob Jungtürken, Armenier, Juden oder Russlandmuslime, verband oder trennte, mag von Interesse sein, ist aber hier nicht gefragt. Stone greift zu einem Strauss von Ausweichthemen, um von der Hauptsache – dem Schicksal der Armenier 1915/16 – abzulenken. Was soll das Umherhüpfen in der Zeit?
Was soll der abschätzige Blick aufs heutige Armenien? Was die zynische Bemerkung, die armenische Unabhängigkeit (1991) habe den Armeniern mehr geschadet als je die Türken? Was der Blick von oben herab auf armenische Wirtschaftsmigranten im heutigen Istanbul? Der Turkish-Armenian Business Development Council weiss ein anderes Bild vom heutigen Armenien zu zeichnen und weiss vor allem, dass eine Geschichtsschreibung jenseits der nationalistischen Zerrbrille und Abwertung nottut.
Angstmache mit Hinweis auf eine «imperialistische Verschwörung» gegen die Grundlage der heutigen Republik dient dazu, vom Hauptgegenstand abzulenken. Dass die Uno-Genozidkonvention auf den Armeniermord zutrifft, bedeutet nicht ihre rückwirkende Geltung und revidiert auch nicht den Vertrag von Lausanne, die internationale Grundlage der Republik Türkei – selbst wenn dies der Traum einiger armenischer Nationalisten wäre.
Die heutigen Bürgerinnen und Bürger der Türkei oder «den Islam» für die damaligen Verbrechen schuldig zu sprechen, wäre absurd. Es war missbrauchter Islam, der dem Komitee während des Völkermords zudiente. Hauptschuldig waren das Komitee und der von ihm gelenkte Staatsapparat (nicht, wie das Umschlagbild vom 19. Oktober suggeriert, turbantragende, krummdolchzückende Muslime). Verantwortung heute wahrnehmen heisst jedoch, die Schatten eigener Geschichte und ihre Langzeitfolgen auszuloten, zu benennen und nicht mehr zu verdrängen.
Norman Stones Übung im Wegschauen ist nicht allein historisch unseriös, ihr fehlt auch die Kraft, um jener Wirklichkeit auf die Spur zu kommen, die bis heute Selbstbilder, kollektive Beziehungen und die internationale Diplomatie erschüttert. Am Schluss geht es nicht um Thesen, sondern um die Kraft, jene historische Wirklichkeit überzeugend zu erfassen. Übungen im Wegschauen führen nicht ins Freie und helfen der Türkei nicht, zerstörte Beziehungen neu aufzubauen – was für Türken und Armenier so vielversprechend wäre.
Die Zeitung als Quelle scheidet also aus, da sie lediglich eine Plattform für verschiedene Autoren darstellt.
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