@Optimist Meine Erfahrung sagt mir, dass für die allermeisten Täter die Verfolgungswahrscheinlichkeit im Mittelpunkt steht, wobei sie dabei davon ausgehen, eben nicht erwischt zu werden.
Dann kommt die Risikoabschätzung: "und was wenn doch?" Da ist die Antwort freilich abhängig von der Höhe der Strafe und dem Gegenpunkt, welchen Gewinn man denn von der Tat hat.
Einen Ladendiebstahl, der in Deutschland als Kavaliersdelikt behandelt wird, begeht man dann schon mal, auch wenn man nicht total überzeugt ist, dass man nicht erwischt wird. Ein Raub dagegen, der nahezu immer mit Freiheitsstrafe belohnt wird - da wird man schon skeptischer.
Freilich spielen dann auch andere Dinge eine Rolle: z.B. ein gewisser Leidensdruck. Je aussichtsloser meine finanzielle Lage im normalen Leben wird, desto eher bin ich vielleicht dann auch bereit, das Risiko eines Bankraubes auf mich zu nehmen usw.
Das Schema ist aber dennoch das gleiche: ganz oben steht die Verfolgungswahrscheinlichkeit, dann sozusagen der "Preis" den ich bezahlen muss, wenn ich erwischt werde, daneben der "Gewinn" aus meiner Tat, und am Ende der Druck, dem ich ausgesetzt bin, wenn ich die Tat nicht begehe.
Dieses Schema trifft allerdings nicht auf einen wichtigen Bereich des Strafrechts zu: Affekttaten im weitesten Sinne, und vor allem die typischen Körperverletzungen (bis hin zu Tötungsdelikten) die sich aus aufgeheizter Atmosphäre, Streit, verletztem Ehrgefühl und ähnlichen Dingen ergeben. Da wird oft die Vernunft komplett ausgeschaltet, es findet keine Abwägung von Vor- und Nachteil etc. mehr statt.
Da manche Taten sich vom einen Bereich in den anderen entwickeln, ist auch da bei der Beurteilung grosse Vorsicht angebracht. Beispiel:
Eigentlich hat der Täter, der Räuber Hotzenplotz nur geplant, einen gewaltlosen Ladendiebstahl zu begehen, und eine Schachtel Marzipan im Laden des Herrn Krämer zu entwenden. Hotzenplotz ist nämlich ein zutiefst friedfertiger Mensch, dem schon beim Anblick einer toten Maus die Tränen kommen. Ausserdem hat Hotzenplotz furchtbar Angst vor dem Zuchthaus.
Er trägt einen Zauselbart und auch seine Kleidung macht nicht mehr den frischesten Eindruck. So betritt er den Laden und wird von Krämer mit den Worten empfangen: "Hey, so verlumpte Typen wie Dich wollen wir hier nicht. Scher' dich raus! Raus mit dir, du Dreckspatz!" Der Lehrling Frechdachs, der neben der Tür steht, fängt schallend an zu lachen und ruft: "Schaut euch mal den Typen an, so was von verlaust!" Selbst das Fräulein Zärtlich, die an der Brottheke bedient, und eigentlich zu allen Leuten freundlich ist, muss nun lachen.
Das macht den armen Hotzenplotz, der sein Leben lang nur gehänselt worden ist, so wütend, dass er dem Lehrling Frechdachs beim Verlassen des Ladens eine gewaltige Maulschelle verpasst.
Draussen steht der Wachtmeister Dimpflmoser von der Gendarmerie, der alles gesehen hat und nun Hotzenplotz festnimmt. Hotzenplotz wird wegen Raubes angeklagt.
Die Gelehrten, die diesen Fall später einmal in den Annalen des Städtchens lesen, sagen dann: schaut her: der Hotzenplotz war ein Gewalttäter, der sich von den Strafandrohungen gegen Raub nicht hat beeindrucken lassen. Damit liegen sie aber ganz falsch, wie wir wissen.