Irak, 650 000 Tote
03.04.2007 um 17:13
Ich möchte vielleicht auch mal auf ein paar Probleme bei den Opferzahlen sprechen. Dazufüge ich einen Artikel bei:
Die Zählung irakischer Kriegsopfer
InKriegszeiten ist es fast immer schwierig, genaue Zahlen über zivile Kriegsopfer zubekommen. Abgesehen von ein paar Ausnahmen haben sich Demographen und Epidemiologen nichtmit der Erarbeitung exakter und glaubwürdiger Schätzungen der Mortalität und Morbiditätin der Zivilbevölkerung beschäftigt. Manchmal ist ein Mangel an beruflicher Freiheitdafür verantwortlich, dass gerade diejenigen, die mit den Daten am besten vertraut sind,ihr Wissen nicht für eine Sache einsetzen, deren Zweck politisch gefährlich sein könnte –wie beispielsweise Experten, deren Existenz von einer in den Konflikt verwickeltenRegierung abhängig ist.
Es gibt aber auch noch andere Probleme. Die Trennungzwischen den unmittelbaren Auswirkungen eines Konflikts und anderen Interventionen (wiebeispielsweise Wirtschaftssanktionen) ist manchmal unmöglich. Auch qualitativ hochwertigeBevölkerungsdaten sind nicht immer verfügbar. Dies aufgrund ihres „sensiblen Charakters”oder weil man sie einfach nie erfasst hat (wie dies in manchen Entwicklungsländern derFall ist) oder weil derartige Daten durch später einsetzende Flüchtlingsströme obsoletwurden. Aus diesem Grund ist der Unsicherheitsfaktor solcher Schätzungen oft viel zuhoch, wodurch sich auch ihr praktischer Wert als gering erweist.
Man denkebeispielsweise an die verschiedenen Versuche, die Opferzahlen des Krieges im Irak zuuntersuchen. Beim Projekt „Iraq Body Count” werden nur Opfer gezählt, die durchGewaltakte im gegenwärtigen Krieg umgekommen sind. Die Zählung erfolgt auf Grundlage vonMedienberichten. Wenn es keine Doppelzählungen gab und die Angaben in den Berichtenkorrekt waren, dann entspricht das Ergebnis dieser Zählung einer Mindestopferzahl, dennMedienberichte sind nicht immer allumfassend.
Mit einer anderen Methode wirddie durch den Krieg verursachte Gesamtänderung der Sterberate geschätzt (inkludiertwerden Todesfälle aufgrund der direkten und indirekten Auswirkungen des Krieges), indemman sie mit den Sterberaten der Vorkriegszeit vergleicht. Dazu werden Daten benötigt,aufgrund derer man den Anstieg der Sterberate berechnen kann. Erhoben werden diese Datenüblicherweise durch Befragungen in zufällig ausgewählten Haushalten. Dabei wird derHaushaltsvorstand gebeten, Angaben über die Anzahl der vor dem Krieg im Haushalt lebendenPersonen und deren demographische Daten zu machen, darüber, ob Personen, die vor demKrieg im Haushalt lebten, zwischen Vorkriegszeit und dem Zeitpunkt der Befragunggestorben sind und wann genau sie zu Tode kamen.
Werden dieseHaushaltsbefragungen ordnungsgemäß durchgeführt, kann die Zahl der kriegsbedingtenzusätzlichen Todesfälle innerhalb einer gewissen statistischen Unsicherheit beziffertwerden. Werden die Haushaltsbefragungen allerdings in Kriegszeiten durchgeführt, nehmendie Risiken überhand. Zur Gefahr für den Befrager selbst, während eines Konflikts, dieseDaten zu erheben, kommen noch die Risiken einer Selektionsverzerrung durch die Auswahlder befragten Haushalte, der Mangel an glaubwürdigen Bevölkerungsdaten, für die geänderteSterblichkeitsraten gelten sowie falsche oder missverständliche Angaben der Befragten.
Diese Methode wurde zweimal von einem vornehmlich mit Forschern der JohnsHopkins University besetzten Team angewandt, das seine Ergebnisse im Medizin-FachjournalThe Lancet publizierte. Die Zahlen der Wissenschaftler wurden einerseits gewürdigt,ernteten andererseits aber auch Kritik, weil die Forscher ihre eigenen Zahlen falschinterpretierten.
So schrieben sie beispielsweise in einer Zusammenfassung derim Jahr 2004 durchgeführten Studie: „Aufgrund konservativer Schätzungen, glauben wir,dass es seit der Invasion des Irak im Jahr 2003 100.000 oder mehr zusätzliche Todesfällegegeben hat.“ Die erste Studie ergab allerdings eine sehr ungenaue Schätzungen derTodesfälle, was die Autoren jedoch verschwiegen. Richtigerweise hätten sie schreibenmüssen: „Wir können mit 95 %iger Sicherheit sagen, dass es innerhalb dieses Zeitraumszwischen 8.000 und 194.000 zusätzliche irakische Todesopfer gegeben hat.“
ImJahr 2006 wiederholte das Forscherteam die Studie im Wesentlichen. Diesmal wurdeallerdings eine größere Anzahl von Haushalten in die Studie einbezogen. Wieder ließen dieForscher Befragungen durchführen, die einer typischen Befragung zufällig ausgewählterHaushalte glich. Am Ende des Artikels im Lancet werden von den Autoren richtigerweisejene Dinge angesprochen, die dazu geführt haben könnten, dass die ausgewählten Haushaltetatsächlich nicht dem Kriterium der „Zufälligkeit“ entsprachen.
Auch bei diesemzweiten Anlauf haperte es bei der Interpretation. Um den Anstieg der Mortalität zuerklären, bedienten sich die Autoren der „rohen Sterberate“ (CDR), welche die Anzahl derTodesfälle je 1.000 Einwohner angibt. Demographen bedienen sich allerdings selten derCDR, sondern nutzen eher alters- und geschlechtsspezifische Sterberaten, die gemeinhinunter dem Begriff „Lebenserwartung“ zusammengefasst werden. Gleichwohl berichtete dasWissenschafterteam, dass die CDR von 5,5 im Jahr 2002 auf 13,3 im Zeitraum nach derInvasion (März 2003 bis März 2006) angestiegen sei.
Um die Zahlen aus der Zeitvor der Invasion ins rechte Licht zu rücken, betrachte man die Zahlen derUNO-Bevölkerungsabteilung, denen allgemein hohe Qualität bescheinigt wird. Die UNOschätzt die CDR im Irak vor der Invasion auf 10 und nicht auf 5, wie in den beidenStudien angegeben. Im internationalen Vergleich gibt die UNO für den Iran zwischen 2002und 2005 eine CDR von 5,3 pro tausend Einwohner an. Vor dem Krieg, so sind sich meistenBeobachter einig, war die Situation im Irak um einiges schlimmer als im Iran.
Die in den beiden Lancet -Studien veröffentlichten CDR-Werte der Vorkriegszeitscheinen also zu niedrig zu sein. Sie sind vielleicht nicht falsch, aber die Autorensollten eine glaubwürdige Erklärung abgeben, warum ihre CDR-Werte der Vorkriegszeit nurungefähr halb so hoch sind wie die der UNO-Bevölkerungsabteilung. Wenn dieSterblichkeitsrate vor dem Krieg zu niedrig angesetzt war und/oder die Bevölkerungszahlenzu hoch geschätzt waren – weil man beispielsweise Flüchtlingsströme aus dem Irak nichtberücksichtigte – wären auch die daraus resultierenden Schätzungen der „zusätzlichenTodesfälle“ überhöht.
Auf grundlegenderer Ebene stellt sich die Frage, welchemZweck diese Zahlen dienen. Natürlich spielen Zahlen eine Rolle bei der Evaluierung vonKosten und Nutzen eines Krieges (so es überhaupt einen Nutzen gibt). Leisten diese Zahlenin Wirklichkeit aber irgendeinen Beitrag zur Debatte? Gehen daraus wirklich mehrInformationen hervor als aus den Zahlen des Iraq Body Count? Verfügen wir über dendazugehörigen Kontext, der nötig ist, um die Zahlen richtig zu interpretieren? Der Kriegim Irak ist extrem blutig. Das ist alles, was uns die Statistik im Moment mit Sicherheitsagen kann.
Ich habe am Anfang von diesem Thread ein bisschen übertrieben.Die Zählung die in dieser Studie betrieben wurde, ist nicht ganz korrekt.
Doch wie indiesem Artikel geschildert, gibt es keine genau Zahlen und darum ist es schwierig, eineDebatte darüber zu führen.
Was wir mit Sicherheit wissen ist, dass dieser Kriegfalsch ist.
Mehr kann ich jetzt nicht dazu sagen.
GRuss Michel