Indien
23.04.2006 um 15:54
Indien
Die Kastenzugehörigkeit hatte auf dem indischen Subkontinent bis vor einigenJahrzehnten Auswirkungen auf das gesamte Leben eines Individuums. Noch heute bestimmt sieweitgehend, wenn auch längst nicht mehr ausschließlich u.a. die Partnerwahl (vgl.Endogamie) und die Berufswahl. Waren früher grundsätzlich keine gemeinsamen Mahlzeitenerlaubt, weil Hochkastige das gemeinsame Mahl mit Niedrigkastigen als verunreinigendempfanden, ist heute besonders in urbaner Umwelt die traditionelle Trennung zwischen deneinzelnen Gesellschaftsgruppen auch in diesem Bereich großteils aufgehoben. In ländlichenGegenden dagegen findet man die alten Strukturen noch fester verankert, obwohl ihnen auchhier nicht mehr absolute Gültigkeit zukommt.
Trotzdem hat diese traditionelleGesellschaftsordnung im täglichen Leben oft noch heute Einfluss auf alles, was "roti aurbeti" (Hindi) betrifft: "Brot und Tochter". Die arrangierten Hochzeiten werden meistinnerhalb der Kaste organisiert.
Das Kastensystem ist eine dynamische, sehrdifferenzierte Gesellschaftsordnung. Die Kriterien werden regional recht unterschiedlichgehandhabt, darum wäre es richtiger von „Kastenwesen" zu sprechen statt von einem„Kastensystem“.
Auch die christlichen und muslimischen Inder z.B. in Keralahaben sich ein ausgeprägtes Bewusstsein ihrer Kastenzugehörigkeit bewahrt. Die vierHauptkasten der indischen Muslime lauten Shekh, Khan, Beg und Saiyad (auch Säyäd oderSayid).
Die Zuordnung zu einer Kaste sagt nichts über „wohlhabend“ oder „arm“aus. Es handelt sich weitgehend um eine Einteilung nach ritueller Reinheit undAufgabenbereich, nicht jedoch um „Oberschicht“ oder Unterschicht“, die sich nachfinanziellen Kriterien richtet. Durch jahrhunderte lange Ausbeutung jedoch findet sichArmut tendenziell mehr bei Shudras und Unberührbaren, obwohl auch brahmanische Familien,Angehörige der obersten Kaste, wirtschaftlich sehr schlecht gestellt sein können.
Beim "Kastensystem" sind zwei, sich ergänzende Aspekte zu berücksichtigen:
die Zugehörigkeit zur Varna und
die Zugehörigkeit zur Jati
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Varna
Varna (वर्ण) ist Sanskrit und bedeutet wörtlich"Klasse, Stand, Farbe". Traditionell nimmt man an, dass damit die Hautfarbe gemeint war:je höher die Kaste, desto heller die Haut, worin sich die Rassenzugehörigkeitverschiedener Einwanderer- bzw. Erobererwellen widerspiegelte. Diese Theorie ist jedochumstritten. Andere stellen den Begriff in Zusammenhang mit den 'geistigen' Farben derGunas, den Qualitäten und Eigenschaften in Mensch und Natur. Diese Ansicht weist jederKaste eine bestimmte Farbe zu.
Es gibt vier Varnas: die Brahmanas, dieKshastriyas, die Vaishyas und die Shudras. Das System der Varnas lässt sich als diegeistig, ideologische Ebene des Kastensystems beschreiben, da es eine Legitimation fürdie gesellschaftliche Hierarchie bietet. Es ist eine ideale, rein theoretische Ordnung,im täglichen Leben geht es eher um die Jatis. Die Frage nach dem Ursprung ist ungeklärt,keine Institution und keine Schrift hat die Kastenordnung geschaffen oder verordnet.Historisch ist sie wahrscheinlich durch das Zusammenwachsen verschiedener Stämmeentstanden, die nun ein Gesamtsystem bilden. Oft wird sie auf den Mythos des Purushazurückgeführt, dem göttlichen Urmenschen, aus dessen Körperteilen die ersten Kastenentstanden sein sollen (die erste aus dem Kopf, die zweite aus den Armen, die dritte ausden Schenkeln, die vierte aus den Füßen).
मुखंकिमस्य कौ बाहूका ऊरू पादाउच्येते ||
ब्राह्मणोअस्य मुखमासीदबाहू राजन्यःकर्तः |
ऊरूतदस्य यदवैश्यःपद्भ्यांशूद्रो अजायत || (RigVeda 10,90,11:12)
Als sie den Purusa (Urmensch) zerlegten, in wie viele Teileteilten sie ihn? Wie nannten sie seinen Mund, wie seine Arme, wie seine Schenkel, wieseine Füße? Sein Mund wurde zum Brahmanen, seine beiden Arme zum Krieger (Rajanya), seinebeiden Schenkel zum Vaishya, aus seinen Füßen entstand der Shudra.
Das Purushasuktaist die einzige Hymne im Rig Veda, in der die vier Varnas erwähnt werden. In den dreianderen Vedas und den Upanishaden finden die Varnas nur selten Erwähnung.
Demnach unterscheidet man in der Sozialordnung von oben nach unten den
Brahmanen (Priester, Gelehrter)
Kshatriya (König, Prinz, Krieger, höhererBeamter)
Vaishya (Landwirt, Kaufmann, Händler)
Shudra (Knecht,Dienstleistender)
Wirklich ausformuliert wurde die Regeln des Kastensystems jedocherst in der Manusmriti (200 v.Chr und 200 n.Chr.). Alle anderen Hindu-Schriften nehmendas System als erstrebenswerte Tatsache, setzen sich aber auch immer wieder kritischdamit auseinander. Besonders das Mahabharata stellt es einerseits an unzähligen Stellenals wünschenswerte Institution dar, andererseits lehnen andere Aussagen im selben Eposdie erbliche Gesellschaftshierarchie eindeutig ab. Nach hinduistischer Vorstellung sindmit der Kastenzugehörigkeit bestimmte kosmische und soziale Pflichten (Dharma) verbunden.Die traditionelle Pflicht eines Kshatriya ist die Gesellschaft zu führen, zu kämpfen undin den Krieg zu ziehen (vgl. Bhagavadgita), wogegen Brahmanen die Schriften studierensollen, lehren sowie den Vollzug der Riten sicher stellen.
In der frühenvedischen Zeit war die Resitriktionen in Bezug auf Beruf und soziale Mobilität deutlichgeringer. Eine Hymne des Rig Veda lautet:
कारुरहं ततोभिषगुपलप्रक्षिणी नना | (Rig Veda 9,112,3)
Ich bin Poet,mein Vater ist Arzt, meine Mutter füllt den Mahlstein auf.
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Jati
Die Varnas gliedern sich in hunderte von Jatis (जाति) auf.Der Begriff leitet sich ab aus der Sanskritwurzel "jan" für geboren werden. Dies weistauf die Hauptbedeutung von Jati hin: Geburtsgruppe. Dies ist durchaus auch im Sinne vonGroßfamilie oder Clan zu verstehen. Die Jatis sind somit die soziale und familiäreDimension des Kastensystems und erinnern in gewissem Maße an die mittelalterlicheStändeordnung. Dumont geht von etwa 2000 bis 3000 Jatis aus.
DieKastenzugehörigkeit des Individuums wird durch die Geburt bestimmt, wobei Ein- oderAustritt theoretisch nicht möglich sind. Die Jati dient neben der beruflichen auch derethnischen, sozioökonomischen und kulturellen Differenzierung; sie verbindet eineVolksgruppe durch besondere, gemeinsame, sittliche Normen. Früher war damit eine strengeHeiratsordnung verbunden, bei mehr oder weniger strenger Abschließung gegenüber anderenJatis. In Indien sind heute jede durch das Kastenwesen bedingte Benachteiligungengesetzlich verboten. Trotzdem ist es aus dem praktischen Leben nicht völlig verschwunden,besonders da es noch heute wichtige soziale Aufgaben erfüllt. Die Jatis etwa haben ingewisser Weise auch die Funktion eines Sozialversicherungs-Systems, das in derkulturellen und sozialen Tradition verankert ist. So bieten sie etwa in denMillionenstädten für Arbeitsuchende aus anderen Gegenden des Landes oft die einzigeZuflucht, die einzige Möglichkeit Aufnahme, Nahrung und Hilfe zu finden, oder garantierenein Überleben der Familie bei Arbeitslosigkeit und Krankheit.
Die sozialeMobilität innerhalb der Jati ist nicht sehr groß; jedoch können bestimmte Jatis als ganzesozial aufsteigen, wie dies im 19. und 20. Jahrhundert unter dem Einfluss der britischenKolonialherrschaft vor allem den Kaufmanns- und Schreiber-Jatis gelungen ist. In derPraxis kommen auch Abspaltungen sozial höher oder niedriger rangierender Teilpopulationenmit Bildung neuer Jatis vor. Die Jatis gliedern sich in Subjatis auf.
DenAufstieg ganzer Jatis hat der indische Soziologe M.N. Srinivas als "Sanskritierung"bezeichnet. Jatis von niedrigem Rang übernehmen den Lebensstil, die Rituale und dieSymbole höherer Jatis und steigen dadurch langfristig auf. Dabei werden nicht nur dieElemente der klassischen indischen Kultur übernommen, sondern parallel dazu auchwestliche Symbole. Als Vorbilder dienen meist Jatis mit hohem wirtschaftlichen Status.
Wenn ein Inder wissen möchte, zu welcher Kaste ein anderer gehört, fragt man inHindi nach der "Jati" oder im Englischen nach der "community" (nie nach der "caste", dadieser Begriff zu viele unangenehme Konnotationen hat und die gesellschaftliche Relevanzeher in der Jati liegt). Den Begriff "Varna" würde man dafür ebenso nicht verwenden.
Neben orthodoxen Hindus, die das Kastensystem noch heute als wünschenswerte Form desZusammenlebens propagieren und jenen, die Privilegien und Ausbeutung mit dem alten Systemlegitimieren, hat es zu allen Zeiten auch hinduistische Bewegungen gegeben, die Auswüchseund Ungerechtigkeiten angeprangert und eine Überwindung der strikten Kastenschrankengefordert haben. Besonders wichtig waren dabei die Bhakti-Bewegungen, die schon seiteinigen Jahrhunderten die indische Gesellschaft beeinflusst haben. Heute lehnen esmoderne Hindus vielfach ab, die grundsätzliche Gebundenheit an Kasten aufrechtzuerhalten.
Veda-Studium
Einige Brahmanen betrachten sich als die einzige "reine"Varna und alle anderen als "vermischt". Die ersten beiden Varnas machen ca. 10% derBevölkerung Indiens aus. Die ersten drei Varnas betrachten sich als "Zweimalgeborene"(dvija). Mit "zweimalgeboren" ist gemeint, dass es nach der natürlichen Geburt noch eine"kulturelle/geistige" Geburt gibt, die in Form eines Initiationsritus (Upanayana) fürMänner vollzogen wird. Früher berechtigte nur diese "zweite Geburt" zum Studium derheiligen Texte (Veda), heute steht dies jedem offen, im privaten und akademischen Bereichoder bei einem Guru.
Die Zugehörigkeit zu den oberen Varnas war eng gekoppeltmit Kenntnissen des Veda, der heiligen indischen Texte. Man unterschied zwischen"Chaturvedi" (die - theoretisch - alle vier Veden studiert hatten), "Trivedi" (dreiVeden) und "Dvivedi" (zwei Veden). Dies sind heute noch häufige Familiennamen. Wissen unddas Privileg zu dessen Weitergabe war ein wichtiges Abgrenzungkriterium der ersten zu denübrigen Varnas: Das Studium der Veden betrachteten sie nicht nur als ihre Pflicht,sondern auch als ihr (Vor-)Recht, die Weitergabe dieses Wissens an Außenstehende (nicht"Zweimalgeborene) war lange Zeit tabuisiert.