Holocaust, oder die Frage wird doch erlaubt sein....
30.05.2006 um 05:26
Wer war eigentlich Jude?" PDF Drucken E-Mail
Geschriebenvon Wolf Oschlies
Eine Frage an Shoa.de und der Versuch einer Antwort[1]
lisalena
Wer war eigentlich Jude? - 2005/09/24 05:51 Bei einer unsererletzten Diskussionen stellte ich die Frage:" Woher wussten die Nazis eigentlich,wer Judewar und wer nicht?" Und keiner wusste ein Antwort....
Es stand doch niemanden auf derStirn.Vielleicht gab es Mitgliedslisten einer jüdischen Gemeinde,oder wurden fast allevon ihren Nachbarn verraten und gemeldet? Gab es irgendeine "Überprüfung" oder wie kannman sich das vorstellen?
Es gab ja diese Listen bei der Wannsee-Konferenz,wo dieAnzahl der Juden in den verschiedenen Ländern aufgeführt war....woher kamen diese Zahlen?
Ich habe schon selbst versucht im Internet etwas darüber zu erfahren,aber leiderohne Erfolg.
Liebe Lisalena, Sie haben eine wichtige und berechtigte Fragegestellt, über deren Beantwortung wir, die wir uns mit der Erforschung des Holocaustbeschäftigen, intensiv nachdenken sollten. Nur, wie fangen wir es an? 1930 waren von denrund zwei Milliarden Menschen in der Welt 15,8 Millionen Juden (= 0,8%). In Deutschlandlebten vor 1935 499.682 Juden (= 0,77% der Gesamtbevölkerung). Diese und ähnliche Zahlenkennen wir aus sehr detaillierten Studien, die gerade zu Beginn der NS-Herrschaft noch inDeutschland erscheinen konnten (Mark Wischnitzer: Die Juden in der Welt – Gegenwart undGeschichte des Judentums in allen Ländern, Berlin 1935; Emanuel bin Gorion et al.(Hrsg.): Philo-Lexikon – Handbuch des jüdischen Wissens, Berlin 1935).
Wirwissen also, wie viele Juden vor dem Holocaust in der Welt und in den einzelnen Ländernlebten, haben aber noch keinen Aufschluß darüber, nach welchen Kriterien jemand als„Jude“ angesehen und gezählt wurde.
An einer eindeutigen Antwort hindert uns vorallem die oszillierende Natur des Judentums als Religion und Nation: Zum Christen wirdjemand durch die Taufe – als Jude wird man geboren! Das Judentum ist die erstemonotheistische Religion („Gottes Einheit und Einzigkeit“), deren Anhänger sich auch alsethnisch begründete Formation verstanden („Gott hat Israel zur Verkündigung seinerBotschaft berufen“), die auf Zusammenhalt Wert legte („Einheit geht über in Heiligkeit“und letztlich auf eine religiös verfasste Weltlichkeit abzielte („Ziel ist die Heiligkeitdes gesamten Lebens, die Aufhebung des vermeintlichen Unterschiedes von Weltlichem undReligiösem, die Einheit aller Lebensbezirke“).
Basis jüdischer Religiosität istdie Bibel, speziell die Tora (d.h. die fünf Bücher Mose), Richtschnur jüdischen Lebensist der Talmud, die in Jahrhunderten zusammengetragene, um 500 beendete Sammlung vonGesetzen, Werten, Überlieferungen und Ordnungen. Diese „Koexistenz“ von geheimnisvollerOffenbarung und pragmatischer Lebensweisung, alle von differierender Einheitlichkeit undverschieden aufgefasstem Verpflichtungscharakter, ist der Boden, auf welchem sich dieschier unüberblickbare Vielfalt jüdischer Gemeinden, Konzeptionen, Philosophien, Schulenetc, entwickelte, deren Pole Rationalität und Mystizismus sind (wobei diese in derGeschichte immer wieder Verschmelzungen eingingen).
Angesichts dieser schwerfassbaren Ausgangspunkte bleibt uns als erster Ansatz zur Beantwortung der Frage, werdenn nun Jude ist, wohl nur eine simple Feststellung: Jude ist, wer Jude sein will odervon anderen als Jude angesehen bzw. abgestempelt wird. Eine solche Ausgangsposition hatden Nachteil, über die grundlegende Dichotomie von Judentum als religiöse und/oderethnische Kategorie etwas leichtherzig hinwegzugehen; aber sie hat auch den Vorteil, vonvornherein die Einwirkung von Nicht-Juden auf jüdische Selbstbestimmung in die Definitioneinzubeziehen. Juden sind (oder waren) nun einmal in allen Ländern der Welt zu Hause, siewaren weltweit in ein magisches Viereck aus jüdischer Identität, Integration in einenichtjüdische Gesellschaft, Loyalität gegenüber ihrem aktuellen Heimatland und derEinstellung nichtjüdischer Mitbürger ihnen gegenüber gestellt.
Ein klassischerjüdischer Witz erhellt die Probleme, die sich aus einer so heterogenen Lage ergeben: „Ichbin stolz darauf, Jude zu sein! Wäre ich nicht stolz, bliebe ich dennoch Jude. Also binich lieber gleich stolz“. Ein schöner Witz – der aber unsere Frage dennoch nichtbeantwortet: Wer ist Jude?
Nach jüdischem Gesetz ist nur der Jude, der von einerjüdischen Mutter geboren wurde – wer nur einen jüdischen Vater hatte, war kein Jude. Andiese Unterscheidungen haben sich die deutschen Nationalsozialisten natürlich niemalsgehalten, so dass wir, wenn wir uns einmal nur auf deutsche Gegebenheiten beschränken,die Grundfrage nach „jüdischer“ Identität in drei Detailfragen aufteilen sollten:
* Wer war Jude?
* Wer war nicht Jude?
* Wer konnte zum Judenwerden?
Die erste Frage ist relativ leicht zu beantworten, wofür deutscheBürokratie binnen Jahrhunderten sorgte. Es gab im Mittelalter jüdische Wohnbezirke,Ghettos etc., deren Bewohner genau verzeichnet waren – sofern sie nicht gleich durchäußerliche Kennzeichen („Juden-Hut“) als Juden ausgewiesen waren. Es gab anti-jüdischeGesetze und Bestimmungen, die sich auf eine quantitativ genau umgrenzte Menschengruppebezogen. Es gab später jüdische Gemeinden, Vereine, Verbände, Abonnenten jüdischerZeitungen etc., was sich natürlich in entsprechenden Listen wiederfand.
Es gabTaufregister von Konvertiten, Namensregister von Juden, die von Behörden einen Namenzugewiesen bekamen – wenn sie viel Geld bezahlten, einen „schönen“ Namen, wenn sie nichtszahlen konnten, einen weniger schönen. Es gab Steuerlisten, da Juden mit Sondersteuernbelegt wurden. In den Armeen wurden die Konfessionen der Soldaten genauestensverzeichnet. Es gab Polizei-Akten, da Deutschland als „Durchgangsland“ für osteuropäischeJuden galt.
Mit anderen Worten: In Deutschland lagen ausreichend Akten undMaterialien bereit, aus denen die Zahl der Juden im Land mit hinreichender Präzision zuentnehmen war.
Schwieriger ist die zweite Frage zu beantworten, wer nicht Judewar. Sie impliziert nämlich eine dokumentarische „Bringeschuld“, aufgestellt von mehroder minder expliziten Juden-Gegnern und gerichtet an jeden, der etwas werden, etwashaben wollte, das Juden verwehrt war. Tiefstpunkt dieser Art von administrativerDiskriminierung war der sog. Ariernachweis unter dem NS-Regime:
Ariernachweis,seit 1933 (mit Wirkung des Arierparagraphen) für alle Beamten und öffentlichenBediensteten und seit 1935 (mit Wirkung der Nürnberger Gesetze) für alle Deutscheneingeführter Nachweis der "deutschen oder artverwandten Abstammung bzw. des Grades einesfremden Bluteinschlages" durch Vorlage entsprechend beglaubigter Urkunden. Häufig wurdeauch eine Ahnentafel oder ein Ahnenpass angefertigt. Verlangt wurde der Nachweis derarischen Abstammung bin in die Generation der Großeltern. Der Abstammungsnachweis warVoraussetzung für die Zugehörigkeit zu nationalsozialistischen Organisationen und für dieInanspruchnahme öffentlicher Leistungen.
Mittels akribischer Fragebögen undunter Androhung von Strafen wurde eine lückenlose Dokumentation über die eigene Familieverlangt, mehrere Generationen zurück. Hinzu kamen antijüdische Hetze und Denunziation,beide im Höchstmaß repräsentiert durch das Blatt „Der Stürmer“, herausgegeben von JuliusStreicher (1895-1946). Der Pogrom-Eifer dieses Mannes war selbst Hitler zu viel, der ihmjede politische Betätigung untersagte, ihn ansonsten aber gewähren und den „Stürmer“weiter erscheinen ließ (Rosemarie Schuder, Rudolf Hirsch: Der gelbe Fleck – Wurzeln undWirkungen des Judenhasses in der deutschen Geschichte, Berlin (Ost) 1987, S. 609 ff.).Damit gingen auch die Denunziationen, Hetzpropaganda, Berichte über „Ritualmorde“,Aufforderungen zur „Endlösung der Judenfrage“ und zur Todesstrafe für „Rassenschande“,Anklagen gegen „Judenknechte“ etc. weiter. Selbst Hitler soll sich gewundert haben, woherStreicher das Material für seine Zeitschrift hatte – es kam aus ungezählten Briefen,Hinweisen, Verleumdungen etc., die ganz „normale“ Menschen an die Redaktion schickten(Fred Hahn: Lieber Stürmer! Leserbriefe an das NS-Kampfblatt 1924-1945, Stuttgart 1978).