@nocheinPoet ,,Angst" ist der falsche Ausdruck für das, was Russland fühlt, denke ich.
Der Punkt ist:
Russland war (und wird langsam wieder bzw. ist es, je nach Zeit und Definition) ein sehr bedeutendes, großes Reich.
Ähnlich, wie die USA oder Europa oder China. Europa ist jetzt natürlich kein Land, klar, eher ein Verbund.
Sagen wir mal banal:
Es sind alles Player, die relativ mächtig und einflussreich und stolz sind, von denen jeder Größte sein will, WEIL sie schon relativ groß und einflussreich sind.
Es geht um Systeme, um Geopolitik, um Einfluss auf den Verlauf der Welt. Und da nimm sich keiner was. China ist auch in Afrika präsent, USA folgen ihren Interessen im Nahen Osten, Russland ebenfalls, Europa betätigt sich auch in Südamerika etc.
Offiziell sind zwar alle Freunde oder respektvolle Partner, aber inoffiziell spielt bei jedem die Überlegung mit, dass mindestens theoretisch auch eine kriegerische Auseinandersetzung erfolgen könnte. Und dann will niemand in einer schlechteren Position sein.
Schlechtere Position heisst auch, dass potenzielle Kontrahenten im Konfliktfall besser angreifen könnten, wenn sie direkt an der eigenen Grenze stehen und nur hinüber müssten, wie das jetzt im Falle eines NATO- und EU-Mitglieds Ukraine der Fall wäre.
Ich denke, Russland nimmt nicht ernsthaft an, dass USA und NATO es angreifen würden - die Ablehnung einer Mitgliedschaft der Ukraine in EU und NATO ist nur einerseits eine Reaktion auf eine ,,Was-wäre-wenn-Überlegung".
Andererseits will Russland meiner Ansicht nach auch die Botschaft senden, dass es international bedeutend und selbstständig ist, nicht abhängig von EU und USA.
Dies hat seinen Grund insbesondere darin, dass der Westen, als Janukowitsch noch in Kiew war, es einfach akzeptierte, dass der gemeinsam unterzeichnete und auch mit Russland ausgehandelte Vertrag über den Haufen geworfen wurde und zu großen Teilen Rechtsextreme gewaltsam einen Umsturz durchführten.
Russland stand dumm da, der Westen jubelte (,,yeah, geil, jetzt haben wir wieder ein neues Mitglied in unserer großen, tollen, sich liebenden Familie") -> man mag es kleinlich nennen, aus westlicher Sicht, aber aus russischer Sicht musste unbedingt gezeigt werden:,,So kann man nicht mit uns umspringen! Wir lassen uns nicht verarschen und düpieren!"
Hätte der Westen damals gesagt:,,Moment Leute, so läuft das nicht, es gab einen klaren Plan, das Volk stimmt ab, es gibt Neuwahlen, ihr könnt nicht einfach Revolution spielen", dann, bin ich sicher, wäre es gar nicht zur Ukraine-Krise in der jetzigen Form gekommen.
Aktuell geht es eigentlich kaum noch wirklich um die Ukraine und das Schicksal ukrainischer Bürger, es geht zwischen Russland und dem Westen ganz banal darum, wer wo mehr Einfluss hat, wer den größeren Schwanz hat.
Machen wir uns nichts vor, die ,,Geopolitik", der ,,Kampf der Systeme", die weltweite Einflussnahme der Großmächte (oder jener, die sich dafür halten) waren niemals fort, sie werden jetzt einfach deutlich und offen betrieben und es sind mehrere Interessen aufeinander geprallt.
Ich halte es für immens wichtig, sich endlich davon zu lösen, die Welt in Gut und Böse aufteilen und so tun zu wollen, als sei jeweils entweder der Westen oder Russland besonders ehrenhaft, korrekt und selbstlos und nur der andere ein gewalttätiger, verlogener Prolet.