Unruhen in der Ukraine - reloaded
10.07.2014 um 23:41
Interessante Detail zum IWF-Abkommen
Die Vertreter der EU wiederum priesen den Freihandel, insbesondere das DCFTA-Abkommen. Schon 2007 kam ein von der Europäischen Komission bestelltes Gutachten zu dem gewünschten Ergebnis, dass „die Marktöffnung in Kombination mit einer verbesserten Regierungsführung in der Ukraine zu Wachstumsraten im zweistelligen Bereich führen könnte“.(5) EU-Erweiterungskommissar Stefan Füle verhieß den Ukrainern, das jährliche Wirtschaftswachstum werde mit einem Abkommen mit der EU 6 Prozentpunkte höher ausfallen. Diese Schätzungen beruhten jedoch auf Modellen, deren Grundannahmen(6) mit der tatsächlichen Funktionsweise der ukrainischen Wirtschaft wenig zu tun haben.
Wo stehen nun angesichts der beschriebenen Probleme und Widersprüche die einflussreichen Unternehmer der Ukraine? In dieser Gruppe gibt es –wie bei der Bevölkerung allgemein – zwei konkurrierende Lager. Das polnische Institut für internationale Angelegenheiten hat für das Jahr 2013 die größten Nutznießer des Freihandels mit der EU ermittelt. Es waren Poroschenko, Andrei Werewski, dessen Agrarkonzern Kernel in die EU exportiert, und der Hühnerbaron Juri Kosjuk mit seinem Unternehmen Mironivsky Hliboproduct.(7) Zu den Verlierern gehörten, wenig überraschend, die Janukowitsch nahestehenden Oligarchen. Zudem wurden bis dahin rund 40 Prozent der öffentlichen Aufträge an den Präsidentensohn Alexander Janukowitsch sowie an Rinat Achmetow und Dmitri Firtasch vergeben. Diese politische Rendite wäre durch das EU-Assoziierungsabkommen natürlich stark gefährdet worden.
Die fadenscheinigen Argumente beider Seiten kaschierten nur notdürftig, worum es in Wahrheit geht. Einer der eifrigsten Verfechter der EU-Integration, der schwedische Außenminister Carl Bildt, hat 2009 das Interesse der EU umrissen, das weit über ein bloßes Freihandelsabkommen hinausgeht: „Wir weiten die Energiegesetzgebung und das Wettbewerbsrecht in diesem Bereich auf die Ukraine, auf Moldau und auf Serbien aus, wodurch langfristig ein beträchtliches transformatives Potenzial freigesetzt wird.“(8)
Mit der Ausdehnung ihres Einflussbereichs steigt die EU aktiv in einen Wettstreit ein, der im Zeitalter der Globalisierung von entscheidender Bedeutung ist: Wer kann die Regeln vorgeben und zu welchem Zweck? Was Russland betrifft, so hat es sein Regelsystem von der UdSSR geerbt. Und das bestimmt, so lückenhaft, veraltet und schwerfällig es auch sein mag, nach wie vor die wirtschaftlichen Beziehungen mit den Ländern der GUS.
Die EU will die Regeln bestimmen
Die Ausdehnung des Rechtsgefüges der EU auf die Ukraine, die gewiss auch auf die benachbarten Regionen ausstrahlen wird, könnte das gesamte postsowjetische Gebilde in einer Art Dominoeffekt bedrohen. Deshalb kann man die russische Reaktion auf den Vorstoß der EU auch als einen Kampf um das Überleben eines Systems interpretieren, von dem der militärisch-industrielle Komplex Russlands immer noch hochgradig abhängig ist.
Das politische Gezerre hat die Wirtschaftskrise in der Ukraine in letzter Zeit noch verschlimmert. Die Unterzeichnung des IWF-Abkommens vom Mai, das die Bereitstellung von Krediten im Umfang von 27 Milliarden Dollar vorsieht (davon 17 Milliarden aus einem um zwei Jahre vorgezogenen IWF-Darlehen), bedeutet nur, dass die ukrainische Wirtschaft vorübergehend künstlich beatmet wird. Wenngleich das neue Abkommen großzügigere Konditionen(9) bietet als das vom Oktober 2013, wird es dazu führen, dass die Energiepreise 2014 um rund 50 Prozent steigen und dass die Inflation weiter zunimmt. Zugleich könnte es die Handelsbeziehungen mit Russland gefährden, weil ein erneutes Aufflammen des Protektionismus droht. Die Wirtschaftsleistung dürfte in Ermangelung eines Konjunkturprogramms um 5 Prozent einbrechen – trotz der Abwertung der Hrywnja, die die ukrainischen Exporte konkurrenzfähiger machen soll. Es ist also mit weiteren sozialen Unruhen zu rechnen, und zwar vor allem in den industriell geprägten Regionen im Süden und Osten, wo sie mit den aktuellen separatistischen Bestrebungen zu einer explosiven Mischung verschmelzen.
http://www.monde-diplomatique.de/pm/.search?ik=1&mode=erw&tid=2014%2F07%2F11%2Fa0044&ListView=0&sort=3&tx=Ukraine&qu=MONDE
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