Anna-Lena-1990 schrieb:
Man darf Dinge von vor 100 Jahren nicht mit dem Masstab von heute messen.
Richtig, ein ganz wichtiger Hinweis.Ohne Betrachtung der sozialen und oekonomischen Randbedingungen macht man im Urteil zu historischen Faellen sehr schnell grosse Fehler.
Was speziell den Vorfall angeht: man sollte im Blick behalten, dass Leo Frank damals Fabrikdirektor (factory superintendent) war in einer Zeit extremen Raubtierkapitalismus.
In einer Zeit, wo Kinder zu Hungerloehnen oftmals mehr als 60 Stunden pro Woche arbeiten mussten.
Das Mordopfer in diesem Fall war ein 13-jaehriges Maedchen, welches in dieser Bleistift-Fabrik 55-Stundenwoche gearbeitet hatte an einer Maschine, die das Radiergummi an das Ende von Bleistiften drueckt, dann aber wegen eines Fehlbestandes des Messing, mit dem die Gummi befestigt warden, entlassen wurde. Die Fabrik hatte ihr den letzten Wochenlohn von 1 Dollar 20 Cent (entspricht etwa 30 USD heute, also einem Stundenlohn von unter 50 cent) vorenthalten als angebliche "Kompensation" fuer den Verlust. Und das war der Grund, warum das Maedchen nochmal in die Fabrik ging, um ihren Lohn einzufordern.
Weiterhin war Leo Frank bekannt dafuer, und darueber besteht auch kein Zweifel, dass er seine Machtsituation als Direktor ausgenutzt hat, weibliche Angestellte sexuell zu belaestigen und zumindest in einem Fall auch zu sexuellen Handlungen zu zwingen.
Ich denke daher, dass Leo Frank in der Tat einer massiv voreingenommenen Bevoelkerung und moeglicherweise auch Justiz gegenueberstand, dass er Hassobjekt war, aber nicht, weil er Jude war, sondern weil er Repraesentant einer ausbeutenden Industrie war! Und das Mordopfer war geradezu ein Paradebeispiel der von dieser Industrie ausgebeuteten Klasse!
Weiter versuchte Leo Frank und spaeter auch seine Verteidiger, den Verdacht auf zwei farbige Angestellte zu lenken, so wurde bei einem ein offensichtlich gefaelschtes Beweisstueck, ein blutverschmiertes Hemd, welches aber nach forensischer Untersuchung nach dem letzten Waschen nie getragen war, gefunden, ein offensichtlich untergeschobenes Beweisstueck.
Und so sehr damals (und vielleicht auch noch heute) viele Menschen eine Antipathie gegen Farbige hatten, im Zweifelsfall war die Identifikation mit einem ausgebeuteten Schwarzen dann doch leichter als die Identifikation mit jemanden, den man als Ausbeuter sowohl Schwarzer wie Weisser ansah!
Es geht aber noch weiter: nachdem Leo Frank schuldig gesprochen wurde und zum Tode verurteilt war, gelang es ihm, sich mit Geld eine Umwandlung der Todesstrafe in eine lebenslaengliche Haftstrafe zu erkaufen.
Das war dann nochmal eine weitere Verschaerfung dessen, was viele aus der Bevoelkerung schon vorher dachten, naemlich, dass das jemand mittels Ausbeutung gewonnenes Geld benutzt, um sich freizukaufen!
Und nur so ist zu begreifen, dass die Lynchparty sich zu grossen Teilen nicht aus primitive Mob, sondern aus ehrwuerdigen Buergern zusammensetzte, dass Tom Watson in seinem Magazin schrieb:
"This country has nothing to fear from its rural communities. Lynch law is a good sign; it shows that a sense of justice lives among the people"
Der Lynchmord an Leo Frank wurde damals von der Bevoelkerung begriffen als eine Rettung vor der Pervertierung des Rechts durch Geld!
Auf der Wikipedia Seite findet sich dazu ein sehr gutes Zitat von dem Historiker Dinnerstein:
The pathological conditions in the city menaced the home, the state, the schools, the churches, and, in the words of a contemporary Southern sociologist, the 'wholesome industrial life.' The institutions of the city were obviously unfit to handle urban problems. Against this background, the murder of a young girl in 1913 triggered a violent reaction of mass aggression, hysteria, and prejudice.
Albert Lindemann schreibt eben dies noch deutlicher (aus The Jew Accused: Three Anti-Semitic Affairs (Dreyfus, Beilis, Frank) 1894-1915 https://books.google.dk/books?id=YCugGyqkYBQC):
"[Frank was seen as] a representative of Yankee capitalism in a southern city, with row upon row of southern women, often the daughters and wives of ruined farmers, 'at his mercy' – a rich, punctilious, northern Jew lording it over vulnerable and impoverished working women."
...
"Even many Jews in Atlanta long remained doubtful about the importance of Frank's Jewishness in his arrest and conviction. They could hardly ignore the much-heightened tensions between Jew and non-Jew in the city as a result of the trial, as a result particularly of the widespread belief, after Frank's conviction, that the Jews were trying, through devious means, to arrange that a convicted murderer be freed."
Natürlich kann ich nicht wissen, welche Beweggründe jeder einzelne Bürger damals hatte, aber ich behaupte, dass die sozio-ökonomische Situation im Kontext dieses Falles für die Menschen damals, zumindest anfänglich eine weitaus relevantere Rolle als Anti-Semitismus gespielt hat. Solcher kam meiner Ansicht nach erst spaeter dazu.
Ebenso schreibt Scott Aaron
“If there was prejudice against Leo Frank in 1913 Atlanta, it was almost certainly not because he was a Jew. He was, however, a capitalist, a business owner, a manager, an employer of child labor, and a Northerner with an Ivy League education. He also came to be known during the course of the trial as sexually profligate. These facts probably did count against him.”
Quellen:
das meiste meiner Überlegung zugrundeliegende findet sich bereits bei Wikipedia
https://en.wikipedia.org/wiki/Leo_Frank
https://en.wikipedia.org/wiki/John_M._Slaton
Das wirklich schoene jedoch ist, dass es zu diesem Fall sehr viele Originalquellen, Primaerquellen in Public Domain gibt, zB.
Buch The Leo Frank Case (Mary Phagan) Inside Story of Georgia's Greatest Murder Mystery, published 1913
https://archive.org/details/TheLeoFrankCasemaryPhaganInsideStoryOfGeorgiasGreatestMurder
Zeitung Atlanta Georgian Ausgaben aus diesem Zeitraum, unter anderem mit wörtlichen Protokollen der Gerichtsverhandlungen
https://archive.org/details/AtlantaGeorgianNewspaperAprilToAugust1913
(Beispiel: zum Thema sexuelle Belaestigung von Angestellten durch Leo Frank finden sich hier die Aussagen der Zeuginnen, sowohl der Zeuginnen der Anklage wie der Verteidigung):
http://archive.org/download/AtlantaGeorgianNewspaperAprilToAugust1913/atlanta-georgian-050913.pdf
Andere Zeitungsarchive aus dieser Zeit
http://archive.org/details/LeoFrankCaseInTheAtlantaConstitutionNewspaper1913To1915
http://archive.org/details/AtlantaJournalApril281913toAugust311913
http://docsouth.unc.edu/watson/
Sehr lesenswert auch das Buch der Grossnichte des Opfers
https://archive.org/details/TheMurderOfMaryPhaganByLeoFrankIn1913
die sich insbesondere mit der sozialen und ökonomischen Situation, in der das Verbrechen geschah, beschäftigt
das Plädoyer der Anklage am Ende des Prozesses gegen Leo Frank:
https://archive.org/details/ArgumentsOfHughM.DorseyInTheLeoFrankMurderTrial