Jahrestag der Auschwitz-Befreiung
01.02.2005 um 00:37
Ärzte ohne Grenzen
Quellen:
"Ärzte im Dritten Reich" von Robert Jay Lifton
"Die Ärzte der Nazis" von Hans-Henning Scharsach
Das Wunder der Haftunfähigkeit anhand einiger Beispiele
Am 20. August 1947 fällt der I. Amerikanische Militärgerichtshof die Urteile gegen führende Nazi-Ärzte. Viermal Tod durch den Strang (Karl Brandt, Karl Gebhardt, Waldemar Hoven, Joachim Mrugowsky), fünfmal lebenslänglich (Fritz Fischer, Karl Grenzken, Siegfried Handloser, Gerhard Rose, Oskar Schröder). Daneben werden langjährige Freiheitsstrafen verhängt (Hermann Becker-Freyseng, Hertha Oberheuser, Wilhelm Beiglböck, Helmuth Poppendick). Zum Tode verurteilt werden auch zwei der Hauptverantwortlichen für medizinische Verbrechen, die selbst nicht Ärzte sind: SS-Standartenführer Rudolf Brandt, persönlicher Referent des Reichsführers SS, und SS-Standartenführer Wolfram Sievers, Generalsekretär der Gesellschaft Ahnenerbe und des Instituts für wehrwissenschaftliche Zweckforschung. Die weitere Strafverfolgung bleibt deutschen und österreichischen Gerichten überlassen. In den ersten Nachkriegsjahren werden, unter dem Druck der Alliierten, Todesurteile und langjährige Freiheitsstrafen gegen Rädelsführer und Exekutoren des medizinischen Massenmordes ausgesprochen. Weitere Verfahren folgen. Die Beweissicherung ist aber schwierig. Die meisten Unterlagen sind vernichtet. Vor Gericht gestellt wird nur ein kleiner Teil der Schuldigen. Einige werden aus Mangel an eindeutigen Beweise freigesprochen, andere nie angeklagt. Einzelnen gelingt die Flucht. Josef Mengele dürfte, nach einer Odyssee durch zahlreiche Länder, in Brasilien gestorben sein. Erfolgreich verhindert eine NS-korrumpierte Ärzteschaft nach Kriegsende die selbstkritische Bestandsaufnahme ihrer Vergangenheit. Als die Arbeitsgemeinschaft der Westdeutschen Ärztekammern einen renommierten Mann aus ihren Reihen mit der Dokumentation des Nürnberger Ärzteprozesses betrauen will, sagen prominente Wissenschaftler ab. Nach einigem Suchen findet sich mit Alexander Mitscherlich, der soeben Privatdozent geworden ist, ein ambitionierter, wenn auch noch wenig bekannter Mediziner, der bereit ist, die undankbare Aufgabe gemeinsam mit seinem jungen Mitarbeiter Fred Mielke zu übernehmen. Anhand von Originaldokumenten und Zeugenaussagen rekonstruieren sie die Verbrechen von Auschwitz, dokumentieren den Prozessverlauf und geben auch den Aussagen der Angeklagten breiten Raum: Niemand soll ihnen vorwerfen, einseitig oder gar tendenziös zu berichten. 1948 liegt der Bericht vor. Im Vorwort der ersten Ausgabe verbindet die Arbeitsgemeinschaft der Ärztekammern ihren Dank an die Verfasser für die objektive, gewissenhafte und verdienstvolle Erfüllung ihrer Aufgabe. Unter dem Titel Das Diktat der Menschenverachtung (danach: Medizin ohne Menschlichkeit) wird die Arbeit zu einem Standartwerk der medizinischen Zeitgeschichte. Allerdings erst mit großer Verzögerung. Vorerst kaufen die Auftraggeber die gesamte Auflage auf, um sie verschwinden zu lassen. Anerkennung gibt es von einer einzigen Stelle: Der Weltärztebund erblickt in dem Bericht einen Beweis dafür, dass die deutsche Ärzteschaft von den Ereignissen der verbrecherischen Diktatur abgerückt ist. Auf die Idee, dass die Verbreitung der Studie von den eigenen Auftraggebern verhindert wird, kommt keiner. Die Wideraufnahme der deutschen Ärzteschaft in die Weltorganisation steht damit nichts mehr im Weg. Intern werden einzelne Exemplare des Berichts von Hand zu Hand gereicht, vor allem von denjenigen, die in seinem Inhalt einen Anschlag auf den Ruf der Ärzteschaft sehen. Die Verfasser der Studie werden von Teilen der Kollegenschaft wie Aussätzige behandelt. Der Dekan der medizinischen Fakultät und Rektor der Universität Göttingen nennt die Faktensammlung geradezu unverantwortlich, weil sie Ruf und Ehre der deutschen Naturforscher schade. Ärzte, die sich an der wissenschaftlichen Aufarbeitung der NS-Medizin beteiligen wollen, werden von Kollegen wie Verräter behandelt und öffentlich als Nestbeschmutzer diffamiert. Schließlich findet sich ein Journalist, der ihnen die Arbeit abnimmt: Ernst Klee, Theologe und Sozialpädagoge, der unter anderem in der Wochenzeitung Die Zeit publiziert, beschreibt nicht nur die Verbrechen der NS-Medizin. Er belegt auch, wie sich die Ärzteschaft nach Kriegsende der Aufarbeitung der Geschichte widersetzt. Zahlreiche Ärzte, die sich im Dritten Reich schwerer Verbrechen schuldig gemacht haben, beginnen nach Kriegsende eine zweite Karriere. Manche werden nie ausgeforscht, andere nur zu kurzen Haftstrafen verurteilt oder begnadigt. Gerichte halten den Massenmord in den Gaskammern für eine der humansten Tötungsarten. Ärzteschaften vermögen in der Teilnahme an der Euthanasie oder an Menschenversuchen kein standeswidriges Verhalten zu erkennen. Ärzte, die in den Konzentrationslagern an der Rampe standen, dürfen wieder praktizieren. Professoren, die unwertes Leben selektierten, bilden akademischen Nachwuchs aus. Legitimationstheoretiker der nationalsozialistischen Rassen- und Vererbungslehre fahren in ihren wissenschaftlichen Publikationen dort fort, wo sie nach Kriegsende verunsichert aufgehört hatten. Viktor von Weizsäcker, der Onkel des späteren Bundespräsidenten, darf zwei Jahre nach Kriegsende wieder schreiben: So wie die Amputation eines brandigen Fußes den ganzen Organismus rettet, so rettet die Ausmerzung der kranken Volksteile das ganze Volk. Er fühlte sich im Recht: Wenn das ganze Volk in Lebensgefahr schwebt und durch Beseitigung einzelner Individuen gerettet werden kann, müssen diese Individuen geopfert werden. Er habe sich berechtigt und verpflichtet gefühlt, diese Opfer zu erzwingen, also zu töten. 1942 hat sich Weizsäckers Neurologisches Forschungsinstitut an der Universität Breslau von der oberschlesischen Kinderfachabteilung Loben mit Gehirnen getöteter Schwachsinniger beliefern lassen. Nach 1945 wird der uneinsichtige Neurologe zum Vorbild jener Medizin-Verbrecher, die sich in den Prozessen auf die Wissenschaftlichkeit ihrer Arbeit berufen. Otfrid Foerster, Weizsäckers Vorgänger in Breslau, der die entsetzlichsten Versuche an lebenden Menschen ausführte, wird von der Kollegenschaft postum verherrlicht. Die deutsche Gesellschaft für Neurochirurgie verleiht 1953 zum ersten Mal eine Otfrid-Foerster-Medaille. Als die Sterilisation geistig behinderter Mitte der siebziger Jahre in Deutschland wieder zum Thema wird, betont eine Drucksache des Deutschen Bundestages die Einwilligung der Bundesvereinigung Lebenshilfe für geistig Behinderte. Deren Vorsitzender: Professor Werner Villinger, Euthanasie-Gutachter des NS-Regimes, der nach Kriegsende eine zweite Karriere gestartet hat. Professor Hermann Muckermann, der sich schon 1926 für seine Erbgesundheitsforschung vom Jesuitenorden hat freistellen lassen, publiziert nach dem Krieg so weiter, als hätte es die Politik der Ausrottung nie gegeben. In der Diktion nationalsozialistischer Propagandapamphlete wettert er dagegen, dass man schwer belastete Geisteskranke mit großem Aufwand unterbringe, währen gesunde Mütter vieler Kinder in Kellerlöchern verelenden. Angesichts der Tatsache, dass Menschen in Heil- und Pflegeanstalten ein hohes Alter erreichten, könne man sich ausrechnen, wie viel wir für erbgesunde Familien gewinnen würden, wenn die Fürsorgebedürftigkeit eingeschränkt werden könnte. Zwei Jahre nach Kriegsende wird sein Buch Der Sinn der Ehre neu verlegt, dessen Erstfassung 1938 erschienen war. So liest es sich auch. Muckermann mahnt zur national orientierten Gattenwahl: Wer das ureigene Gesicht eines Volkes bewahren will, wird sich für Ehen innerhalb des gleichen Volkes einsetzen. Ehen von Menschen, deren Prägung so große Verschiedenheiten aufweist, wie sie zwischen europiden und negriden Völkern stehen, sind abzulehnen. Zu seinem 75. Geburtstag erhält der Mann, der der Ausmerzung minderwertiger so beredt Vorschub geleistet hat, das Große Verdienstkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik, 1957 ehrt man ihn anlässlich seines achtzigsten Geburtstag als eine der ehrwürdigsten Erscheinungen des deutschen Geistesleben. In dem 1940 erschienenen Buch Erbpflege und Christentum wird als Pendant zu Muckermann auf katholischer Seite Professor Hans Harmsen als Wegbereiter der Erbpflege in der evangelischen Kirche gewürdigt. Der Legitimationstheoretiker des NS-Regimes setzt nach Kriegsende seine Agitation im Sinne des nationalsozialistischen Erbgesundheitswahn ungerührt fort. Einige Monate nach der Kapitulation wird ihm die Leitung der Hamburger Akademie für Staatsmedizin anvertraut. Dort darf er angehende Amtsärzte davon überzeugen, dass es falsch sei, dem Sterilisationsgesetz eine typisch nationalsozialistische Ideologie unterzuschieben, weil sich dieses schon vor 1933 organisch Entwickelt hat. An der Hamburger Universität gründet Harmsen die Deutsche Akademie für Bevölkerungswissenschaft, an der Kollegen wie Hermann Arnhold tätig werden, der im Dritten Reich dem Reichssicherheitshauptamt als Zigeunerexperte dienstbar war. Harmsen sammelt Titel und Ämter wie andere Briefmarken. 1952 avanciert er zum Vorsitzenden von Pro Familia, Deutsche Gesellschaft für Ehe und Familie e. V.. In dieser Funktion rückt Harmsen in den Beirat des Bonner Familienministeriums auf, das sich auch dann nicht von ihm trennt, als seine Fixiertheit auf die erbbiologischen Vorstellungen des Nationalsozialismus öffentlich thematisiert wird. Es gibt Menschen, die immer auf der richtigen Seite stehen: Dort, wo Karrieren vergeben werden. Als ein ehemaliger NS-Mediziner aus dem Mitarbeiterstab von Propagandaminister Joseph Goebbels vor der Deutschen Bundespräsidentenwahl 1954 wissen will, ob das entsetzliche Gerücht stimme, dass Theodor Heuss Judenmischling sei, antwortet dessen persönlicher Referent ungerührt: Bereits im Jahr 1932 habe eine gerichtliche Auseinandersetzung mit einer nationalsozialistischen Tageszeitung die reine Rasse seines Chefs Dokumentiert. Mehr als 40 Jahre später ist die Sensibilität kaum größer. Als Hannelore Kohl von der Medizinischen Fakultät der Greifswalder Universität zum 50. Jahrestag des Kriegsendes den Doktortitel honoris causa entgegennimmt, bleibt unerwähnt, dass diese Bildungsstätte mit ihrem Institut für Vererbungswissenschaft Vorreiter nationalsozialistischer Vernichtungspolitik und Tatort zahlloser medizinischer Verbrechen war. Arthur Gütt, Mitautor des Gesetztes zur Verhütung Erbkranken Nachwuchses, hat hier sein Medizinstudium absolviert. Politiker scheint das ebenso wenig zu interessieren wie die auf Vertuschung und Verdrängung eingeschworene Ärzteschaft. Nicht nur die wissenschaftlichen Wegbereiter und medizinischen Mitläufer, auch die Rädelsführer und Täter stoßen auf Verständnis und finden Helfer. SS-Standartenführer Werner Heyde, Zentralfigur bei der Planung des Massenmordes an Kranken und Behinderten, gelingt nach seiner Festnahme die Flucht. Die Wachmannschaft lässt den berüchtigten Euthanasie-Arzt von der Ladefläche eines Lastkraftwagens entkommen. Der Oberbürgermeister von Flensburg verschafft den mit falschen Papieren Ausgestatteten eine Anstellung als Sportarzt. Ein Internist, den Heyde sich anvertraut, bringt ihn als Gutachter und Gerichtsarzt beim Oberversicherungsamt in Schleswig unter. Alle wissen, wer sich unter dem Pseudonym Dr. Sawada verbirgt: Kollegen, Beamte, führende Mitarbeiter des Oberversicherungsamtes und der Landesversicherungsanstalt decken den Naziverbrecher. Auch Ernst-Siegfried Buresch, Präsident des Sozialgerichts Schleswig, schützt den ehemaligen NS-Mediziner. Als eine Anzeige bei ihm eingeht, bespricht er den Fall mit seinem Senatspräsidenten und dem Direktor des Sozialgerichts, die beide ebenfalls eingeweiht sind. Schließlich antwortet er schriftlich, dass ich es nicht als meine Aufgabe ansehen kann, einen für das Ansehen des Ärztestandes und besonders der Vertreter des psychiatrischen Faches möglicherweise recht folgenschweren Schritt zu tun, ohne dazu von Amts wegen verpflichtet zu sein. In der Justiz hat die Selbstreinigung genauso wenig stattgefunden wie in der Medizin. Die Kollegen sind nach Kriegsende in ihren Ämtern verblieben. Warum sich gegenseitig weh tun. Als Professor Reinwein, Direktor der medizinischen Universität Kiel, nach einem Streit die Identität des Untergetauchten öffentlich macht, versuchen Dekan und Rektor ihn von unbedachten Schritten abzuhalten. Zu spät: Die Fahndung läuft bereits. Ein Untersuchungsausschuss des Schleswig-Holsteinischen Landtags hält die Namen derer fest, die den Naziverbrecher gedeckt und ihm geholfen haben. Obwohl der Personenkreis namentlich nicht voll erfasst werden kann, enthält die Liste Namen von fünf Richtern, sechs Professoren und vier Spitzenbeamten der Landesverwaltung. Keiner von ihnen wird zur Rechenschaft gezogen. Hedye wird angeklagt, heimtückisch, grausam und mit Überlegung mindestens 100.000 Menschen getötet zu haben. Zum Prozess kommt es nicht. Nachdem ein mit zahlreichen Helfern vorbereiteter Fluchtversuch scheitert, begeht er in seiner Zelle Selbstmord. Von den mehreren hunderttausend Menschen, die von NS-Medizinern als lebensunwert eingestuft und in klinische Einrichtungen (nicht Konzentrationslager) ermordet wurden, kamen mehr als 70.000 im Rahmen der Euthanasie-Aktion T4 durch Gas ums Leben. Von den zwischen Januar 1940 und August 1941 in den Vergasungs-Anstalten tätigen Euthanasie-Ärzten sind vierzehn namentlich bekannt. Nur einer von ihnen wird verurteilt. Bodo Gorgass verantwortet sich damit, er habe in Hadamar mit der Begutachtung nichts zu tun gehabt. Mir oblag lediglich die Durchführung der Tötung. Das Gericht lässt das nicht als mindernd gelten. Wegen Mordes in mindestens 1000 Fällen wird Gorgass 1947 vom Landgericht Frankfurt zum Tode verurteilt. Die danach in lebenslänglich umgewandelte Strafe endet 1958 mit der Begnadigung. Auch gegen den gebürtigen Bregenzer Irmfried Eberl, der als Anstaltsleiter in Brandenburg/Havel die erste Vergasung durchführte und danach als Leiter von Bernburg/Saale und erster Lagerkommandant von Treblinka viele Tausend Menschen ins Gas schickte, wird ermittelt. Der damals 37-jährige hat versucht, sich in Blaubeuren als praktischer Arzt niederzulassen. Rettungsversuche seiner solidarischen Kollegen scheitern. Die amerikanische Militärregierung setzt sich über das ärztliche Attest hinweg, das Eberl Haftunfähigkeit bescheinigt. Als Eberl sieht, dass es ernst wird, erhängt er sich in seiner Zelle. Horst Schumann, der die Euthanasie-Einrichtung in Grafeneck und Sonnenstein leitete, bevor er in Auschwitz mit Sterilisierungsversuchen begann, kommt nach Kriegsende in Gladbeck als Sportarzt unter und eröffnet 1949 seine eigene Praxis. Obwohl sein Vorleben einem großen Personenkreis bekannt ist, erfolgt seine behördliche Enttarnung erst, als er einen Jagdschein beantragt, für dessen Ausstellung ein Strafregisterauszug notwendig ist. Jetzt wissen auch jene in Ordnungsamt und Kriminalabteilung Bescheid, die bisher vielleicht noch ahnungslos waren. Ganze drei Wochen wird die Festnahme mit alibihaften Erhebungen und Rückfragen verzögert. Als die Polizei schließlich doch zugreifen darf, hat Schumann sich ins Ausland abgesetzt. Wieder einmal spielt die Polizei bei den Ermittlungen gegen Naziverbrecher eine unrühmliche Rolle. Kein Wunder: NS-Polizisten und Gestapo-Beamte sind nach dem Krieg in den Polizeidienst übernommen worden. Viele stehen den Tätern näher als den Opfern. Durch einen Zufall wird der NS-Mediziner, der sich in Ghana als Buschdoktor versteckt hält, 1959 aufgespürt und 1966 ausgeliefert. Der Prozess gegen ihn platzt, weil Ärztekollegen ihm Verhandlungsunfähigkeit bescheinigen. Jeder weiß, dass Schumann simuliert: Er nimmt blutdrucksteigernde Mittel, zapft sich Blut ab und trinkt es, um es auf den Weg zum Gerichtssaal demonstrativ zu erbrechen. Die jedem Amtsarzt bekannten Ganoventricks werden zu Beweisen der Haftunfähigkeit verfälscht. Der Korpsgeist der Kollegenschaft ermöglicht dem Massenmörder und Menschenschinder, dessen Experimente in Auschwitz zu den abstoßendsten Verbrechen der KZ-Geschichte zählen, einen ruhigen Lebensabend. Er bleibt nicht der einzige Fall. Aquillin Ullrich, der als Assistent und Stellvertreter Eberls in der Vernichtungsanstalt Brandenburg an Vergasungen mitwirkte, taucht nach dem Krieg unter. Auch ihm helfen Kollegen aus der Klemme: Sein ehemaliger Universitätslehrer vermittelt dem Facharzt für Frauenkrankheiten und Geburtshilfe eine Assistentenstelle in Stuttgart, andere Kollegen helfen ihm bei der Gründung seiner neuen Praxis. 1962 werden Ullrich und sein Kollege Heinrich Bunke, Klaus Endruweit und Kurt Born festgenommen. Alle vier waren an der Euthanasie beteiligt, alle vier haben mit Hilfe wohlmeinender Kollegen beruflich wieder Fuß gefasst. Endruweit ist 1956 in den Vorstand der Kassenärztlichen Vereinigung und 1962 in den Vorstand der Ärztekammer gewählt worden. Das Gerichtsurteil in erster Instanz ist Teil einer Skandal-Serie, mit der ich mich hier nicht beschäftige: Den Serienfreisprüchen mit absurdesten Begründungen. Wie der Ärztestand hat sich auch die Justiz nach Kriegsende einer Selbstreinigung verweigert. Die in ihren Ämtern verbliebenen ehemaligen NS-Juristen sind vor allem bemüht Urteile zu fällen, die ihre eigenen Beiträge zum nationalsozialistischen Terrorsystem relativieren. In den Fällen Ullrich, Bunke und Endruweit stellt das Gericht fest, diese seien der Beihilfe an der Ermordung Tausender Geisteskranker überführt. Dieser Einleitung folgt ein Freispruch, weil den ärztlichen Mördern das Bewusstsein der Rechtswidrigkeit gefehlt habe. Nach dem Freispruch klatschen die Zuhörer Beifall. Der Prozess gegen Born endet mit Freispruch. Auch diesmal urteilt das Gericht, der Euthanasie-Arzt habe objektiv Beihilfe zur Tötung von mindestens 6652 Geisteskranken geleistet. Als überzeugter Nationalsozialist habe der Angeklagte jedoch das Unerlaubte von Massenmorden nicht erkennen können. Dem ersten Skandal folgt ein zweiter: Mit Urteil des Bundesgerichtshofes vom 20. März 1974 wird das Urteil bestätigt. Diese Urteil ist eine der ungeheuerlichsten Entscheidungen, die deutsche Richter jemals trafen, empört sich die Süddeutsche Zeitung. Dass Leitartikel und Prominente das Urteil als Schande für Deutschland empfinden, ändert nichts daran, dass die Karlsruher Richter Mord und Folter legitimiert haben: Wer als überzeugter Nationalsozialist an die Ideologie von Auslese und Ausmerze unwerten Lebens nur fest genug geglaubt hat, kann der neu geschaffenen Rechtsnorm entsprechen, nicht schuldig geworden zu sein. Die Medizinverbrecher der Nazizeit, die bisher nicht ergriffen wurden, dürfen aufatmen: Jetzt kann ihnen nichts mehr passieren. Werner Catel, Direktor der Leipziger Kinderklinik, an der die erste Kinder-Euthanasie des Dritten Reiches vorgenommen wird, hat sich das Problem der Bekämpfung von Idioten durch Auslese und Ausmerze zur Lebensaufgabe gemacht. Als Gutachter aus Überzeugung unterschrieb der Vorreiter der Euthanasie und Leiter einer Kinderfachabteilung, wie die Vernichtungszentren im Dritten Reich genannt wurden, medizinische Todesurteile für etwa 1000 Kinder pro Jahr. Nach Kriegsende behauptet er, überzeugter Antifaschist und Vertreter der Humanität im Dritten Reich gewesen zu sein. Bei der Entnazifizierung wird er von der Spruchkammer Wiesbaden als entlastet eingestuft. 1947 übernimmt Catel die Direktion der Landeskinderheilstätten Mammolshain im Taunus, 1954 folgt er dem Ruf der Universität Kiel, wo er trotz vielfacher öffentlicher Proteste als Ordinarius für Kinderheilkunde wirken darf. In Publikationen bekennt sich Catel auch nach Kriegsende zur Euthanasie, die er bei untermenschlich vegetierenden Kindern als höchste Erfüllung, der Menschlichkeit betrachtet. In seinen Aussagen vor dem Untersuchungsrichter versucht sich der redegewandte Mediziner als Humanist und christlicher Moralist darzustellen. Die Kinder-Euthanasie verstoße nicht gegen das fünfte Gebot: Töten setzte etwas Lebendes voraus. Er habe als behandelnder Arzt nur den Weg Gottes nachvollzogen. Obwohl Catel die Tötungsformulare unterzeichnete, ohne die Patienten je in Augenschein genommen zuhaben, obwohl er zugibt, Kinder eigenhändig todberuhigt zu haben, obwohl sich unter den Opfern Kinder befanden, die ihren Eltern gewaltsam entzogen wurden, setzt ihn das Landgericht Hannover 1964 endgültig außer Strafverfolgung. Deutschlands Ärzte und ihre Standesvertreter reagieren erleichtert. Der medizinischen Wissenschaft scheint ein Stein vom Herzen zu fallen: Endlich darf sie die Lehrbücher des Euthanasie-Professors für die Ausbildung junger Ärzte wieder verwenden, ohne öffentliche Kritik befürchten zu müssen. Als Catel stirbt, werden ihm ehrende Nachrufe in Serie zuteil. Die Universität Kiel rühmt den Euthanasie-Arzt in einer Todesanzeige, er habe in vielfältiger Weise zum Wohle kranker Kinder beigetragen. Der Versuch des Euthanasie-Arztes, sich mit einer Werner Catel Stiftung ein ewiges Denkmal zu setzen, scheitert. Angesichts der empörten öffentlichen Reaktion lehnt der Senat der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel in Februar 1984 das Erbe einer halben Million Mark ab, aus deren Zinsen die Catel-Förderungspreise hätten vergeben werden sollen. Die Medizingeschichte des Nationalsozialismus wird nach dem Motto Schweigen und Verdrängen bewältigt. Wer auf seine Vergangenheit angesprochen wird, gibt sich als aufrechter Widerstandskämpfer aus, war nie dabei oder hat nur mitgemacht, um das System von innen zu schwächen. Das Schicksal der Euthanasie-Ärzte hängt vielfach von Zufällen und juristischer Willkür ab: Der an der Wiener Kinderfachabteilung tätige Ernst Illing oder der Kalmenhof-Arzt Hermann Wesse werden wegen des Verbrechens des Vollbrachten Meuchelmordes zum Tod verurteilt, Hans Heinze hingegen, der als wissenschaftlicher Wegbereiter der Euthanasie die beiden für den Kindermord ausgebildet und wesentlich mehr Kinder als diese vom Schreibtisch aus und persönlich getötet hat, bleibt in Freiheit. Vor allem hängen die Urteile gegen medizinische NS-Verbrecher vom Zeitpunkt ihrer Ergreifung ab: Anfangs werden harte Strafen verhängt, Todesurteile gesprochen und vollstreckt. Danach kommt es zu milden Urteilen oder zu Einstellungen der Verfahren. Von Jahr zu Jahr wird die Beteiligung an der nationalsozialistischen Vernichtungsmedizin milder beurteilt. Richter halten Angeklagten, die sich am Massenmord beteiligt haben, ihren guten Charakter, ihren anständigen Lebenswandel und ihre jahrelange Tätigkeit im Dienst der Nächstenliebe zugute. Sie haben keinen Zweifel an der Glaubwürdigkeit von Zeugen, die selbst mitgemacht und mitgemordet haben. Berufsverbote halten sie für nicht angebracht, weil der Schutz der Allgemeinheit vor weiterer Gefährdung durch die Angeklagten nicht erforderlich sei. In den Augen vieler Richter wiegt ein ziviles Tötungsdelikt mehr als tausend Morde im NS-Staat. Als im Oktober 1978 die Heilanstalt Kalmenhof Idstein neunzig Jahre wird, spricht niemand von der verdrängten Vergangenheit. Die Anstaltsleitung verneint in einem Interview guten Glaubens, dass hier während der Nazizeit Kinder gequält und ermordet wurden. Auch die Tatsache, dass auf dem Anstaltsgelände 275 nummerierte Gräber mit je drei bis vier Opfern liegen, ist ihr unbekannt: Der Friedhof ist völlig von Unkraut überwachsen. Die Gemeinde Idstein, die sich mit großem Einsatz für die Freilassung der ortsansässigen Tötungsärzte einsetzte, hat deren Opfer nicht einmal eine Gedenkstätte gewidmet. Während nach Kriegsende die Verfolgung der medizinischen Verbrecher nach und nach im Sand verläuft, wird die Legende vom medizinischen Wiederstand gepflegt. Standesvertreter behaupten, die meisten Ärzte hätten sich während der NS-Zeit ganz auf den eigentlichen medizinischen Sektor zurückgezogen und sich in überwiegender Zahl strikt an den Hippokratischen Eid gehalten. Aus dem Kreis der Ärzteschaft sei viel mutiger Widerstand gekommen. Viele hätten Verfolgten und Bedrohten geholfen. Als der Nationalsozialismus die Medizin zum Terrorinstrument macht, sind es nur Einzelne, die sich zur Wehr setzen. Ihr Widerstand ist meist persönlich oder moralisch, in seltenen Fällen beruflich oder politisch motiviert. Vor allem der politisch motivierte Widerstand ist gering. Viele Angehörige des Vereins Sozialistischer Ärzte werden sofort nach Hitlers Machtergreifung in Schutzhaft genommen. Wer nicht emigriert, verhält sich unauffällig. Die Namen der Gegner des NS-Systems sind der Gestapo bekannt. Für sie gibt es so gut wie keine Chance, Sand ins Getriebe des medizinischen Terrors zu streuen. Einzelne versuchen es dennoch. Ärzte wie der Psychiater John Rittmeister, der Zahnmediziner Helmut Himpel oder der Internist Georg Großcurth arbeiten mit linken Gruppierungen wie der Roten Kapelle, der Widerstandsgruppe Uhrig oder der Europäischen Union zusammen, beteiligen sich an der Herstellung oppositioneller Flugblätter, geben Informationen an Ausländer und Oppositionelle weiter, leisten Fluchthilfe und bezahlen dafür mit dem Leben. Zu den wenigen Überlebenden gehört Elfriede Paul. Das Todesurteil gegen die praktische Ärztin, die ihre Praxis zu einem Sprechzimmer der Roten Kapelle gemacht hat, wird in eine Haftstrafe umgewandelt. Auch am Wiederstand der Weißen Rose beteiligen sich Mediziner. Zu den Gründern zählen neben dem Medizinstudenten Hans Scholl und seiner Schwester, der Philosophie- und Biologiestudentin Sophie Scholl, die Medizinstudenten Alexander Schmorell, Christoph Probst und Willi Graf sowie der Psychologieprofessor Kurt Huber. Ihnen schließt sich eine Hamburger Gruppe an, der ebenfalls Mediziner angehörten. Engen Kontakt zur Weißen Rose hält Rudolf Degkwitz. Der Ordinarius für Pädiatrie in Hamburg, der zu den Nationalsozialisten der ersten Stunde zählt und schon beim Marsch auf die Feldherrenhalle mit dabei war, wendet sich zuerst von Hitler ab und dann gegen ihn. Als Unterstützer des Widerstandes wird er verhaftet und nur zu sieben Jahren Zuchthaus verurteilt. Wahrscheinlich hält Roland Freisler, Präsident des Volksgerichtshofes, den alten Kämpfer immer noch für besserungsfähig. Auch zur Gruppe um Anton Saefkow, Franz Jacob und Bernhard Bästlein, der größten Wiederstandsgruppe auf deutschen Boden, mit Kontakten ins Ausland und in Konzentrationslager zählen Mediziner. Wie Degkwitz war auch Johannes Kreislmeier anfangs glühender Anhänger Hitlers. Als Bannarzt der Hitlerjugend, Förderer der SS, Werks- und Betriebsarzt kriegswichtiger Großbetriebe und Leiter mehrerer Reservelazarette wird er 1940 mit der Medaille für deutsche Volkspflege ausgezeichnet. Dann aber wendet er sich vom Nationalsozialismus ab, schließt sich dem Widerstand an, macht seine Praxis zum Versteck und Lazarett für Verfolgte, schreibt Soldaten frontdienstuntauglich und erstellt einen Plan für den Gesundheitsschutz nach dem Krieg, den er für längst verloren hält. Kreismeier bezahlt seinen Mut mit dem Leben. Er wird von der Gestapo verhaftet und hingerichtet. Sein Kollege, der praktische Arzt Wolfgang Kühn, agierte ebenso mutig, verzichtet jedoch auf schriftliche Aufzeichnungen und kommt nach seiner Festnahme durch die Gestapo, die ihm kaum etwas nachweisen kann, mit einer Freiheitsstrafe davon. Trotz diese Beispiele sind Mediziner im Widerstand gegen das NS-System deutlich unterrepräsentiert. Von den 76.000 im Deutschen Reich approbierten Ärzten schließen sich nur ein paar Dutzend organisierten Gruppen an. Selbst im Offizierswiderstand gegen Hitler, in den Kreisen um Claus Graf Schenk von Stauffenberg oder Admiral Wilhelm Canaris, finden sich keine Militärärzte. Zeitzeugen haben nach Kriegsende von vielen Fällen stillen Heldentums berichtet: Von Ärzten, die jüdische Kollegen unter falschen Namen beschäftigten, Juden behandelten, versteckten, mit Geld, Lebensmittel oder falschen Papieren versorgten, zur Flucht verhalfen. Öffentlichen Widerstand aber leisten Mediziner nur in Ausnahmefällen. Wo sie sich gegen das NS-System stellen, tun sie das spontan, punktuell und unorganisiert. So bleibt es bei Taten, die für den Mut Einzelner, aber nicht für die Integrität des Berufsstandes stehen: Ärzte wie Franz Büchner, Ordinarius für Pathologie in Freiburg, Gottfried Ewald, Direktor der Uniklinik Göttingen, oder Ferdinand Sauerbruch üben öffentliche Kritik an der Euthanasie. Die SS-Ärzte Peter Hofer (Buchenwald) und Hans Münch (Auschwitz) lassen sich an die Front versetzen um, nicht als Lagerärzte Dienst tun zu müssen. Typischer Repräsentant jener deutschen und österreichischen Ärzteschaft, die bis zuletzt dabei bleibt und gleichzeitig vorgibt, immer schon dagegen gewesen zu sein, ist Ferdinand Sauerbruch. Der berühmte Chirurg, der Hitler und Göbbels zu seinen Patienten zählt, mutiert vom glühenden Anhänger zum Kritiker der NS-Politik: Er verabscheut den Antisemitismus, protestiert gegen die Euthanasie, bekämpft NS-Eingriffe in die Freiheit von Forschung und Lehre, empört sich in privatem Kreis über die Menschenversuche in den Konzentrationslagern, hält mit Offizieren des Widerstandes wie Generaloberst Ludwig Beck freundschaftlichen Kontakt und weiß, dass auch sein Sohn Peter Sauerbruch, Oberst im Generalstab und Freund Stauffenbergs, dem Widerstand eng verbunden ist. Aber er bleibt gleichzeitig verlässlicher Bestandteil des NS-Systems, dem er sich in höchsten Funktionen als Generalarzt der Wehrmacht und Chefarzt der Berliner Charité zur Verfügung stellt und es dadurch öffentlich stützt.
Bitte um Vergebung für den langen Artikel.
Gruß
Die Reihenfolge ist:
Regnerisch kühl, Schaufensterbummel, Hundekot.