“Da wurde viel Öl ins Feuer gegossen”
Die Medien, deutsche wie türkische, haben sich mit Ihrer Berichterstattung über die Unruhen am Taksim Platz in Istanbul und über Erdoğan nicht mit Ruhm bekleckert, sagt Journalist und Buchautor Eren Güvercin im Gespräch mit MiGAZIN. Aber auch die Türkeistämmigen in Deutschland hätten Schwarz-Weiß-Bilder vermittelt.
MiGAZIN: Seit Beginn der Unruhen am Taksim Platz in Istanbul vor etwa vier Wochen, beobachten Sie als Journalist die Ereignisse mit großer Aufmerksamkeit. Über welche Quellen haben Sie sich informiert?
Eren Güvercin: Ich informiere mich über verschiedene Quellen. In erster Linie natürlich wie jeder andere über die üblichen Medien, sowohl türkischsprachige als auch deutschsprachige. Aber da die Medienberichterstattung über die Proteste eher dürftig waren, habe ich natürlich Twitter genutzt, um mich über die Entwicklungen auf dem laufenden zu halten. Ich habe auch viele Freunde in Istanbul. Das war ganz spannend mich mit ihnen auszutauschen, weil sie aus allen möglichen gesellschaftlichen Schichten und Milieus kommen, und somit die Dinge auch ganz anders sehen. Da wurden mir die verschiedenen Blickwinkeln der Menschen vor Ort noch einmal bewusst.
Welchen Eindruck hinterlassen die Medienberichte bei Ihnen?
Güvercin: Es war ein Armutszeugnis, dass fast alle türkischen Medien in den ersten Tagen die Proteste einfach vollkommen ignoriert haben. Und zu Recht wurde dies durch westliche Beobachter kritisiert. Diese fehlende Berichterstattung hat auch dazu geführt, dass Akteure – egal ob von Regierungsseite oder Regierungsgegner – Falschinformationen in Umlauf gebracht haben. Es kursierten etwa Bilder von Verletzten mit angeblichen Kopfschüssen, aber schnell hat sich herausgestellt, dass dies Bilder von den Kämpfen in Syrien und dem Irak stammten. Oder es wurden Bilder in Umlauf gebracht, die angeblich einen Protestzug auf der Bosporusbrücke zeigten, aber in Wahrheit waren das Bilder vom Istanbuler Marathon. Leider sind ganz schnell Trittbrettfahrer in Erscheinung getreten, die gezielt die Proteste für ihre politischen Zwecke instrumentalisieren wollten und dies auch ein Stück weit geschafft haben. Da wurde viel Öl ins Feuer gegossen.
Nicht wenige Türkeistämmige kritisieren auch die hiesigen Medien.
Güvercin: Das ist ein wichtiger Punkt. Kritik an türkischen Medien, alles schön und gut. Aber unsere Medien hier in Deutschland haben sich auch nicht mit Ruhm bekleckert. Bei allem Respekt, es ist kein Anzeichen von seriösem Journalismus, wenn man mit dem Finger auf die anderen zeigt und bei denen mangelnde Berichterstattung kritisiert, aber nicht vor der eigenen Haustür kehrt. Die Medienberichterstattung hier in Deutschland war sehr tendenziös und hat bei vielen hier lebenden Türken den Eindruck vermittelt, dass die Medien einer bestimmten Agenda folgen.
In den letzten Jahren herrschte eine hohe Inflation an sogenannten Islamexperten, in den letzten Wochen hatten wir eine Explosion, was die sogenannten Türkeiexperten angeht. Und durchgehend konnte man beobachten, dass diese angeblichen Türkeiexperten eine Version der Ereignisse und deren Hintergründe vermittelt haben. Wenn wir uns diese Experten genauer anschauen, sind diese oft türkeistämmige Linke oder Kemalisten. Es ist ein offenes Geheimnis, dass ein sehr großer Teil der in Deutschland tätigen türkischstämmigen Journalisten dem linken oder kemalistischen Lager angehören. Andersdenkende Journalisten haben kaum Möglichkeiten Fuß in diesen Redaktionen zu fassen. Da dominiert die Ideologie, dementsprechend werden mögliche Redakteure und Mitarbeiter ausselektiert. Man braucht nur ihre Beiträge der letzten Jahre sich anzuschauen.
Es gibt natürlich auch in den Redaktionsstuben hier bei uns die seltsame Vorstellung, dass alles, was in der Türkei mit dem Islam zu tun hat, erst einmal negativ betrachtet wird, und im Gegensatz dazu alles Säkulare positiv gesehen wird. Das führte dazu, dass eben diese Stimmen ausschließlich zu Wort kamen. Es gibt nicht nur die Positionen Pro-Erdoğan oder Anti-Erdoğan, sondern es gibt viele Stimmen innerhalb der türkisch-muslimischen Community hier in Deutschland aber auch in der Türkei, die die Hintergründe dieser Proteste jenseits einer ideologischen Zugehörigkeit differenziert betrachten. Die deutschen Medien haben genauso wie die türkischen Medien versagt. Das muss ich ganz offen sagen.
Wie bei der „Islamdebatte“ herrscht in den deutschen Medien anlässlich der Unruhen in der Türkei eine Selektion, wenn es um „Experten“ geht, die die Entwicklungen in der Türkei analysieren sollen. Alternative Sichtweisen, die die Dinge jenseits der politischen Lager beurteilen, sind kaum bis gar nicht vorhanden. Wenn wir uns die Rhetorik und Panikmache dieser Türkeiexperten uns anschauen, unterscheiden sie sich nicht sehr von PI-Leuten oder anderen islamfeindlichen Gruppen hier in Europa. Seit 30-40 Jahren reden diese Kreise von einer Islamisierung und einer Einführung der Scharia in der Türkei, ohne auch nur annähernd erklären zu können, was eigentlich die Scharia ist. Diese Panikmacher angelehnt an Patrick Bahners gleichnamigem Buch gibt es also nicht nur hier bei uns in Deutschland, sondern die gab es schon viel vorher in der Türkei.
Der Spiegel hat heute ihre Titelstory zu den Protesten auch in türkischer Sprache gedruckt…
Güvercin: Ach ja, der Spiegel… Das wird sicher ein wichtiger Beitrag für den deutsch-türkischen Kulturaustauch werden. Der Spiegel engagiert sich ja sehr auf diesem Gebiet, exemplarisch ist da etwa der großzügige Vorabdruck von Sarrazins Werk „Deutschland schafft sich ab“ zu nennen und die zahlreichen netten Titelseiten, die sich u.a. den türkischstämmigen Mitbürgern und den Muslimen widmeten. Vielleicht bedankt sich die türkische Presse mit einem Sonderteil in deutscher Sprache, was sich mit dem NSU-Komplex beschäftigt. Der Spiegel und die deutsche Medienlandschaft kann sicher noch das eine oder andere lernen, was den Umgang mit Phänomenen eines „tiefen Staates“ angeht. Die Sonderausgabe ist schön gemacht, liefert aber die übliche einheitliche Soße, die uns von den Medien seit zwei Wochen vorgesetzt werden. Geglänzt hat der Spiegel für mich jetzt damit nicht.
Was glauben Sie ist der Grund dafür, dass zumindest Teile der Demonstranten in Deutschland kaum hinterfragt wurden?
Güvercin: Wenn sie ehrlichen Journalismus bei diesem Thema betreiben wollen, stehen sie vor einem Dilemma. Versucht man differenziert die Lage zu beurteilen, besteht die Gefahr von Erdoğan-Anhängern als Vaterlandsverräter abgestempelt zu werden, aber gleichzeitig wird man von Erdoğan-Kritikern, die schon von einer Diktatur sprechen, als ein Undercover-Journalist bezeichnet, der PR-Arbeit für Erdoğan macht. Sie können es also niemanden recht machen. Aber das ist ehrlich gesagt auch nicht mein Anliegen als Journalist. Ich pfeife darauf, ein paar Gummibärchen von irgendjemandem zu bekommen.
Ich gebe Ihnen mal ein Beispiel: Als ich einmal erwähnt habe, dass man die Besetzung eines öffentlichen Parks über mehrere Tage nicht mehr als Demonstration bezeichnen kann, und dass in jedem Land, auch bei uns in Deutschland, die Polizei früher oder später diese Aktion auflösen würde, hat man mir sofort unterstellt, die Erdoğan-Regierung zu verteidigen.
Bei allen Emotionen muss man sich aber einmal klarmachen, dass die ehrlichen Demonstranten von extremistischen Randgruppen instrumentalisiert wurden. Das Atatürk Kulturzentrum am Taksimplatz etwa war regelrecht mit riesengroßen Fahnen von Terrororganisationen tapeziert, die sogar in Europa auf den Terrorlisten gelistet sind. Stellen Sie sich einmal eine Demonstration in Berlin vor, die von RAF-Terroristen gekapert werden würde, mit RAF-Fahnen etc.? Wie würden die deutsche Polizei und das Innenministerium reagieren? Wir können es erahnen, wenn wir uns anschauen wir brutal die deutsche Polizei gegen Occupy-Demonstranten in Frankfurt erst vor wenigen Tagen vorging.
Fakt ist, das Vorgehen der türkischen Polizei ist inakzeptabel gewesen. Fakt ist aber auch, dass diese Proteste vonseiten der Demonstranten auch keine Kuschelveranstaltung war. Schwarz-Weiß-Bilder, Freund-Feind-Schematas sind vielleicht sehr einfach zu übermitteln, aber die Realität ist eine andere. Und ich erwarte von Journalisten, dass sie ihre wie auch immer aussehende ideologischen-geistigen Hintergrund mal beiseite lassen und die Komplexität der Wirklichkeit versuchen zu vermitteln.
Obama war vor einigen Tagen in Berlin und wurde jubelnd von den Menschen und vor allem von den Medien empfangen. Wie hätte man wohl Erdoğan in Berlin empfangen, wenn er mit Drohnen Ziele am anderen Ende der Welt angegriffen hätte und Menschen in einem Lager gefangen halten würde, die nie vor einem Gericht standen?
Die deutschen Parteien waren auch sehr engagiert, insbesondere die Grünen und die Linkspartei.
Güvercin: Die türkischstämmigen Wähler beobachten das sehr genau. Bei den Wahlen wird das die eine oder andere Partei zu spüren bekommen. So ist das bei demokratischen Wahlen. Es grenzt an Heuchelei, wenn ein Volker Beck sagt, dass es für Erdoğan keinen Rabatt gibt bei den Bürgerrechten. Sein Einsatz ist sehr lobenswert, aber anscheinend gab es für das kemalistische Regime eine Rabattaktion, als noch vor wenigen Jahren kopftuchtragende Studentinnen brutal niederknüppelt wurden, als sie vor den Universitäten für ihr Recht auf Bildung demonstriert haben. Denn sie wurden lange Jahre aus den Universitäten verbannt. Und für Obama gibt es wohl auch einen Rabatt, auch wenn regelmäßig friedliche Demonstranten dort niederknüppelt werden und systematisch überwacht werden.
Um noch mal zurück auf die Türkei zu kommen, Ministerpräsident Erdoğan wirkt immer mehr autoritär. Manch einer bezeichnet ihn als Sultan.
Güvercin: Man merkt eine gewisse Machttrunkenheit, wenn man sich die letzten 2-3 Jahre anschaut. Das kritisiere ich genauso wie viele andere. Ich sehe zum Beispiel die neoliberale Wirtschaftspolitik der Erdoğan-Regierung sehr kritisch. Aber in ökonomischer Richtung hat der politische Islam in der muslimischen Welt bisher immer nur das übliche globale Modell kopiert. Daniel Bax in der TAZ hat es zutreffend als „Turbokapitalismus mit islamischen Antlitz“ bezeichnet.
Die Polizeigewalt war natürlich brutal, und da ist die Regierung in der Pflicht, diese Vorfälle lückenlos aufzuklären. Aber diese Vergleiche oder Bezeichnungen Erdoğan sei jetzt ein Sultan, Diktator, manch einer sprach sogar von einem Terrorregime, dies alles zeugt entweder von fahrlässigem Unwissen, oder aber diese Türkeiexperten verfolgen hier eine Agenda.
Ich frage mich, wo diese tollen Experten und Menschrechtsaktivisten, denen Türkei so am Herzen liegt, waren, als in den 90er Jahren noch massenweise junge Frauen, die wegen ihrem Kopftuch nicht an den Universitäten studieren durften, von Polizisten niedergeknüppelt wurden? Ich muss mal eins offen ansprechen: Diese kemalistischen Türkeiexperten, die jetzt von Sender zu Sender hüpfen, ich kaufe diesen Opportunisten einfach nicht ab, dass ihnen die Demokratie in der Türkei wirklich am Herzen liegt. Das kemalistische Establishment hat in etwa so viel mit Demokratie und Meinungsfreiheit zu tun, wie Kim Jong-Un in Nordkorea. Sie sind getrieben und angepeitscht von islamfeindlichen Einstellungen und Ressentiments. Ich weiß, dass wird der eine oder andere in den falschen Hals kriegen. Eine Trophäe werde ich dadurch auch nicht gewinnen. Aber es ist eine Frechheit, wie diese Steinzeitideologen sich bei öffentlich-rechtlichen Sendern hinstellen und etwa davon faseln, dass Erdoğan in der Türkei ein „Koransystem“ eingeführt habe. Was bitte schön soll ein Koransystem sein? Das sind Signalwörter, die bewusst von diesen Leuten eingesetzt werden, weil sie ganz genau wissen, was das bei den Zuschauern auslöst. Die Türkei war nie ein Iran und wird es auch nicht sein. Aber die Ewiggestrigen, die Atatürk als Heiligen verehren, können es nicht aushalten, dass die Muslime nun endlich offen und selbstbewusst ihren Glauben leben können, ohne Angst vom Militär verfolgt, gefoltert oder unterdrückt zu werden. Diese Zeit liegt nicht so weit in der Vergangenheit. Jeder weiß, in was für einem Unterdrückungsregime die Muslime in der Türkei gelebt haben.
Eine dumme Frage an die europäischen Beobachter hätte ich noch: War Atatürk ein Demokrat? Oder warum hörte man vom Westen recht wenig in den letzten Jahrzehnten, als das türkische Militär, die sich als Verteidiger des Kemalismus sah (bzw. sieht), die demokratischen Rechte der kurdischen, alevitischen und muslimischen Bevölkerung unterdrückte?
Leute wie Kenan Kolat und die TGD sind gern gesehene Erfüllungsgehilfen, indem sie Erdoğan Faschismus vorwerfen. Obwohl jeder Kegelklubverein mehr Mitglieder hat und im Gegensatz zur TGD demokratisch legitimiert ist, wird in der Öffentlichkeit der Eindruck erweckt, die TGD und Kolat würden für die Türken in Deutschland sprechen. Kolat verfolgt eine politische Agenda, und es ist eine Frechheit, dass so jemand überhaupt in der Deutschen Islamkonferenz sitzt. Da fände ich es besser, wenn die ADAC dort sitzen würde. Die haben sicherlich mehr muslimische Mitglieder.
Besonders unter den alevitischen Türken ist aber großer Unmut zu spüren gegenüber der Erdoğan-Regierung. Sind diese vollkommen unbegründet?
Güvercin: Die Aleviten machen etwa 15 % der türkischen Bevölkerung aus. In der Vergangenheit haben die Aleviten sehr unter dem herrschenden System in der Türkei gelitten. Und was die Minderheitenrechte angeht, hat die Türkei noch sehr viel nachzuholen. Aber vermeintliche Lobbyorganisationen der Aleviten wie etwa die AABF betreiben gezielt Stimmungsmache. Sie versuchen die Ängste der alevitischen Bevölkerung für ihre Zwecke zu instrumentalisieren und nehmen alle Aleviten in Sippenhaft. Bei allen Problemen, die nach wie vor vorhanden sind, darf man aber auch nicht vergessen, dass Erdoğan der erste türkische Ministerpräsident war, der sich für das Massaker an den Aleviten 1937 entschuldigt hat. Übrigens war nicht etwa ein „islamistisches“ Regime für dieses Massaker verantwortlich, sondern Atatürk und seine damals regierende CHP. Diese Partei hat sich bisher immer noch nicht dafür entschuldigt. Es gibt aber noch viel zu tun, die Regierung sollte den Unmut und die Ängste der Aleviten in der Türkei ernst nehmen. Aber es ist bezeichnend, wenn ich sehe, wie die AABF die CHP-Linie unterstützt. Anscheinend geht es nicht um eine Interessensvertretung der alevitischen Bürger, sondern um andere Dinge. Das wäre vergleichsweise so, wie wenn ein Türke sich bei der NPD engagieren würde, aber die Interessen der NSU-Opfer vertreten wollte.
Was ist Ihre Einschätzung zum Geschehen? Werden die Demonstrationen etwas Positives bewirken oder blicken Sie eher negativ in die Zukunft?
Güvercin: Wir haben jetzt natürlich viele, die sich Untergangsszenarien ausmalen, aber ich halte nicht so viel von solchen Panikmachern. Ich finde es sehr gut, dass das, was anscheinend schon seit Längerem unter der Oberfläche brodelte, jetzt zum Vorschein gekommen ist. Und ich finde es positiv, dass besonders junge Menschen jetzt eine Bewegung in Gang gesetzt haben, was auf die Zukunft der Türkei hoffentlich einen sehr positiven Einfluss haben wird. Ich hoffe, dass die Regierung ihre Lehren daraus zieht und merkt, dass sie kurz davor steht, eben in jenen Zustand zu verfallen, was die AKP anfangs selber kritisiert hat an den Kemalisten, nämlich die Abdrängung Andersdenkender an den gesellschaftlichen Rand.
Die Regierung muss lernen für alle Menschen in der Türkei da zu sein, egal was für einen Stimmanteil man hat. Für die türkische Zivilgesellschaft werden diese Proteste vom Vorteil sein, weil dadurch immer mehr Menschen noch bewusster sein wird, wie vielfältig die Türkei eigentlich ist. Die jungen Menschen protestieren, weil sie in den Oppositionsparteien keine Alternative sehen. Die Opposition ist ein einziges Desaster. Das ist eines der Grundprobleme in der politischen Landschaft der Türkei.
http://www.migazin.de/2013/06/24/da-wurde-viel-oel-ins-feuer-gegossen/2/