@Lightstorm Lightstorm schrieb:Man muss Säkularismus als das verstehen was es ist. Eine Ideologie. Um ein Befürworter des Säkularismus zu sein muss man entweder ein Atheist sein, ein Gläubiger der die gesellschaftlichen Gebote/Verbote seiner Religion auslässt (oder sonst wie auslegt das es nicht politisch ist) oder ein Gläubiger mit einer Religion ohne politische Elemente (wobei eine Politisierung dann dennoch möglich ist) oder sonst einer Weltanschauung angehören die nicht damit kollidiert.
Bisher hat man es einseitig gelöst. Das osmanische Reich mit seinem Kalifat und die türkische Republik mit seinem Säkularismus.
Beide Konzepte funktionieren in der heutigen Türkei nicht ohne Probleme.
Bin mit deiner Definition von Säkularismus nicht einverstanden. Es ist keine Ideologie, wenn man Politik von Ideologien trennt und allgemeine Menschenrechte in Vordergrund setzt. Islam ist kompatibel mit Demokratie , solang er sich nicht mit Politik vermischt.
unter demokratischen Verhältnissen mit Religionsfreiheit ist es möglich, den islamischen Glauben mitsamtr seinen Regeln auszuleben.
Wenn du ein guter Mensch bist und deine Arbeit gut machst, mögen dich die Leute rundum.. egal wie gläubig du bist.
Niemand zwingt dich Alkohol zu trinken oder hindert dich deine Gebete auszuführen.
Bei Beimischung von Religon und religiösen Regeln in Politik hingegen werden Anders- und Ungläubige eingeschränkt.
"Sadik al-Azm: Nun, Geschichte ist ein offener Prozess und niemand kann im Voraus Garantien abgeben, was wirklich passieren wird. In Syrien sind alle Augen auf das gerichtet, was gerade in Ägypten geschieht. Ich selbst sehe das so: Wenn wir irgendwann zu den Wahlurnen gehen können, dann glaube ich nicht, dass in Syrien die Muslimbrüder solche Erfolge erringen werden wie in Tunesien oder Ägypten. In Syrien gehören 40 Prozent der Bevölkerung Minderheiten an. Die würden natürlich nicht die Muslimbrüder wählen. Außerdem gibt es in der syrischen Gesellschaft - besonders in der Mittelklasse, in Städten wie Aleppo und Damaskus, bei den Geschäftsleuten - einen großen Anteil von Menschen, deren Ansichten ziemlich säkular sind und die nicht wollen, dass ein "Hardliner-Islam", wie ihn die Muslimbrüder vertreten, im Land vorherrschend wird. Darum erwarte ich, dass es in Syrien anders als in Ägypten keinen Durchmarsch der Muslimbrüder geben würde.
Was nun Ägypten selbst angeht, sehen Sie, was dort der Versuch der Muslimbrüder und vor allem von Präsident Mursi, nahezu uneingeschränkte Macht zu erlangen, ausgelöst hat. Wir erkennen jetzt: Ägypten, das sind nicht nur Muslimbrüder, nicht nur Islamisten, das ist nicht nur der Islam. Der Präsident wurde zwar frei gewählt, aber das hat ihm nicht das Mandat gegeben, die Republik abzuschaffen oder das Kalifat wieder einzuführen. Dagegen begehrt Ägypten ganz massiv auf und das ist für mich das Wichtigste. Obwohl Mursi sich hinter islamischen Reden, islamischen Werten, islamischen Parolen versteckt, kann er damit einen großen Teil der Ägypter nicht täuschen, die sich wehren, die ihm keine diktatorischen Vollmachten zugestehen wollen. Die Ägypter sind zwar bekanntlich sehr fromm und religiös, aber sie wollen weder ein Militärregime noch eine Alleinherrschaft. Und das gibt uns Hoffnung, dass es auch in Syrien zu entsprechendem gesellschaftlichen Widerstand käme, wenn dort die Muslimbrüder Ähnliches versuchen würden.
Deutschlandradio Kultur: Damit wären wir beim Thema politischer Islam im Allgemeinen. Ist es so, dass es in einem Land wie Ägypten eigentlich zwei Zivilgesellschaften gibt: die eine westorientiert, gebildet, eher in den Städten angesiedelt - und die andere eher ländlich, weniger gebildet, sehr traditionsbewusst? Oder ist dieses Bild zu simpel?
Sadik al-Azm: Nein, das ist es nicht. Bei uns sehen das die Soziologen so: Zuerst gab es die sogenannte Ahly-Gesellschaft. Ahly bedeutet die Zugehörigkeit zu einem Stamm, einer Konfession, der Familie, dem Stadtviertel, es geht dabei um den Vorrang von Blutsbanden, Familienbanden, Stammesbindung und so weiter, auch von religiösen Zugehörigkeiten und Verpflichtungen. Erst später in der Geschichte ist dann das entstanden, was wir Zivilgesellschaft nennen, und das auf Dingen wie Staatsbürgertum, Gleichheit vor dem Gesetz, Unabhängigkeit der Justiz gründet. Die Muslimbrüder finden aber ihre Wähler eher in der Ahly-Gesellschaft als in der Zivilgesellschaft. Und darum stellen sie islamisch motivierte Aussagen und Forderungen so in den Vordergrund.
Die Erfahrungen des Tahrir-Platzes in Kairo sind vor allem die Erfahrungen der ägyptischen Zivilgesellschaft, weniger die der Ahly-Gesellschaft. Ins Deutsche könnte man diese beiden soziologischen Konzepte vielleicht mit "Gemeinschaft" und Gesellschaft" übersetzen. Doch die Muslimbrüder vermischen diese Konzepte absichtlich miteinander und behaupten, alles, auch sie, sei Zivilgesellschaft. Das stimmt aber nicht. Tatsächlich gibt es eine breitere Schicht in der Bevölkerung, sozusagen das Meer, das ist die Ahly-Gesellschaft, und darauf schwimmt eine dünnere, aber viel aktivere und dynamische Schicht, die Zivilgesellschaft. Und das gilt nicht nur für Ägypten, sondern teilweise auch für den Jemen, und noch mehr gilt es für Syrien, denn Syrien ist sehr urbanisiert. Die Muslimbrüder versuchen aber, die Zivilgesellschaft wieder herunterzudrücken auf die Stufe der Ahly-Gesellschaft. Es gibt also nicht zwei Gesellschaften, die nebeneinander stehen und einander berühren, sondern das ist ein viel organischerer Prozess.
Deutschlandradio Kultur: Der politische Islam scheint also eine vielschichtige Angelegenheit zu sein und weniger homogen, als wir uns das hier im Westen oft vorstellen. Sie, Herr al-Azm, beobachten seit Jahren auch den Aufstieg des militanten Islamismus bis hin zum islamistischen Terror. Der, so schreiben Sie, ist eher ein Zeichen der Schwäche des Islam als der Stärke. Können Sie mir das erläutern?
Sadik al-Azm: Ja. Schauen wir uns an, wie die Modernisierung abgelaufen ist in den kolonialen und postkolonialen Staaten der islamischen Welt. Während dieser Prozesse haben der Islam und das religiöse Establishment, die Geistlichkeit, völlig den Einfluss auf das Bildungswesen verloren, zugunsten des Staates und religiös nicht gebundener Institutionen. Auch die Justiz haben die islamischen Geistlichen komplett verloren. Ebenso ihren Einfluss auf die Streitkräfte, genauer gesagt auf die Doktrin der Streitkräfte, also die Deutungshoheit darüber, worum überhaupt gekämpft wird. Das galt besonders zu Zeiten des arabischen Nationalismus. Geblieben ist der Geistlichkeit der Einfluss auf den privaten Bereich, also das Familienrecht, alles, was mit Geburt und Sterben zu tun hat. Und darum ist es bis heute so schwer in unseren Ländern, in diesen Bereichen etwas zu verändern, weil die Geistlichen glauben, das sei ihr letzter Schützengraben, den sie noch kontrollieren, nachdem sie alles andere verloren haben.
Das Erstarken von Islamismus und Fundamentalismus, das wir jetzt erleben, ist eine restaurative Bewegung. Es wird versucht, die Kontrolle des Islam über all die Aspekte des modernen Lebens wiederherzustellen, die sich verselbständigt haben, einschließlich der Medien oder des Bildungssektors.
Schauen Sie sich die Lehrpläne einer beliebigen Hochschule in unseren Ländern an, wenn es sich nicht gerade um Scharia-Schulen handelt: Mit Ausnahme von ein bisschen Religion hier oder dort sehen sie genauso aus wie an jeder anderen Universität auf der Welt, was die Titel der Lehrveranstaltungen betrifft oder die Lehrbücher und vieles mehr. Da geht es kaum noch um Religion. Und das wollen die Islamisten rückgängig machen, nach meiner Beobachtung haben sie dabei aber nicht viel Erfolg. Als Ausweg bleibt dann der Terror, und der ist ein Ausdruck von Verzweiflung. Ich vergleiche das mit dem Terrorismus und der Gewalt der europäischen Linken in den 1970er Jahren - Baader-Meinhof, in Frankreich die Action Directe, die Roten Brigaden in Italien. Die hatten es aufgegeben, die Gesellschaft in die proletarische Revolution zu führen, sie hatten sich von den traditionellen kommunistischen Parteien abgewendet und glaubten, allenfalls durch gewaltsame Aktionen revolutionäres Bewusstsein bei den Volksmassen wecken zu können. Darum nenne ich diese Art des Islam manchmal "Action-directe-Islam"."
http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/tacheles/1944064/ (Archiv-Version vom 19.06.2013)