@Dornröschen Dornröschen schrieb am 18.12.2016: Bist Du denn nicht der Meinung, dass ein gewisser Hang zur Selbstentfremdung uns alle - zumindest ein Stück weit - ausmacht?
Ja.
Ich weiß aber nicht, ob das so sein muss.
"Ein Stück weit" ist nicht unbedeutend. Ich habe den sehr starken Eindruck, dass dieses "Stück" oft sehr groß ist und das hat Folgen, die weit über das Imdividuum hinausgehen, was nur eine "logische" Folge ist.
Dornröschen schrieb am 18.12.2016:
Können wir immer 100% authentisch sein?
Ich weiß es nicht.
Ich finde es wichtig, an dieser Stelle die Begriffe Entfremdung und Authentizität nicht zu vermischen.
Jemand kann authentisch sein, zumindest so, wie man es im Sinn hat, wenn man von Authentizität spricht, ohne dass er er selbst ist.
Jemand, der hochgradig von sich selbst entfremdet ist, kann z. B. aufrichtig und mit voller Überzeugung für etwas eintreten.
An sich ein Widerspruch in sich und doch etwas, was man täglich beobachten kann.
Ein Mensch, der von sich selbst stark entfremdet ist, kann vollkommen normal aussehen. Er verhält sich vollkommen unauffällig, redet unauffällig, tut das, was man erwarten kann usw.
Meinungen, die er vertritt, kann man teilen oder auch nicht.
Wie kann ein stark von sich selbst Entfremdeter authentisch sein?
Was bedeutet das?
Hier kommt nun die Entfremdung ins Spiel, die ich oben zitiert habe: "Ein Stück weit" und sehr weit verbreitet,
Es ist diese sehr weit verbreitete Entfremdung, die es auch einem stark Entfremdeten ermöglicht, mit seiner starken Entfremdung nicht aufzufallen, weil die Rollen, die er spielt, von den Anderen, die "nur" mäßig entfremdet sind, nicht entlarvt werden.
Man nimmt seine starke Entfremdung nicht wahr, weil man auch selber "ein Stück weit" entfremdet ist.
Das ist der "Schutz", den der stark von sich Entfremdete in der Gesellschaft findet.
Dass man sich nicht traut, wahrzunehmen, hat einen hohen Preis.
Dornröschen schrieb am 18.12.2016:Ist es nicht gerade ein laufendes Entfernen-von und Wiederannähern-an uns selbst, welches uns ausmacht? Das Entfernen vom Selbst erübrigt vielleicht überhaupt erst die nötige Distanz, um herauszufinden und zu sehen, wer wir eigentlich sind und was unser Selbst eigentlich ausmacht.
Das Entfernen von sich selbst, so wie ich es glaube, verstanden zu haben, wie du es meinst, ist für mich nicht gleichbedeutend mit Entfremdung.
Es sind zwei Zustände, die nicht miteinander zu tun haben. Es ist vielleicht eine Beobachtung, ein Reflektieren. Das hat aber gar nichts mit einer Entfremdung zu tun.
Dornröschen schrieb am 18.12.2016:Dein Folter-Beispiel ist nun sehr extrem, @ruku . Eben weil mit der Selbstentfremdung - so Deine Annahme - ja auch eine Schädigung Dritter einhergeht.
Das mag so anmuten. Aber die gleich starke Entfremdung kommt häufig vor, auch wenn die Leute nicht immer gleich auffallen müssen.
Das ist ja das Gefährliche: Bei weitem nicht alle stark Entfremdeten fallen überhaupt auf. Das hat, wie gesagt, mit uns selber zu tun.
Das Beispiel mit dem Folterer habe ich nur deswegen gewählt, weil an diesem Beispiel man vielleicht doch leichter nachvollziehen kann, dass es gewisse Voraussetzungen braucht, damit ein Mensch so etwas tun kann.
Die Frage, wie ein von sich stark Entfremdeter leben kann, wird kaum gestellt und dass diese Frage auch kaum gestellt wird, hat ebenfalls mit uns selbst zu tun.
Was bewegt solch einen Menschen? Welche Motive sind für ihn maßgeblich? Wonach trachtet er? Was sucht er. Wie will er leben? Welche Ziele verfolgt so ein Mensch? Hat er Werte? Kann er welche haben? Was können das für Werte sein?
Die Antworten darauf können von Menschen, die ebenfalls von sich selbst entfremdet sind (auch wenn "nur" "ein Stück weit"), nur ziemlich eingeschränkt gegeben werden, weil auch sie ihre Wahrnehmungen fürchten, sie unterdrücken oder abspalten.
Womit wir wieder bei dem Schutz wären, den von sich selbst stark Entfremdete in der Gesellschaft finden.