Die Welt 08.09.12
Michael
Am Ende ist er uns unheimlich geworden. Doch vielleicht war Michael Jackson genau der, der er sein wollte. Ein genialer Musiker. Sein eigenes Kunstwerk Von John Jeremiah SullivanWie sonst kann man über Michael Jackson reden, als dass man Prince Screws erwähnt?Prince Screws war Sklave auf einer Baumwollplantage in Alabama. Nach dem Bürgerkrieg wurde er Pachtbauer, wahrscheinlich auf dem Land seines ehemaligen Herrn. Sein Sohn Prince Screws Jr. kaufte eine kleine Farm. Dessen Sohn wiederum, Prince Screws III., verließ zur Zeit der Great Migration, als Millionen Schwarze aus den Südstaaten abwanderten und in den Industriestädten des Nordens sesshaft wurden, die alte Heimat und ging nach Indiana, wo er Arbeit als Schlafwagenschaffner – als einer der sogenannten Pullman Porter – fand.
Hier wurde die Ahnenreihe unterbrochen. Dieser letzte Prince Screws, der in den Norden gegangen war, hatte keine Söhne. Dafür zwei Töchter, Kattie und Hattie. Kattie brachte zehn Kinder zur Welt, das achte ein Junge namens Michael, der seine eigenen Söhne Prince nennen sollte, zu Ehren seiner Mutter, die er vergötterte, und als Zeichen der Rückbesinnung. Den lächerlichen Spitznamen, den ein weißer Mann seinem schwarzen Sklaven gegeben hatte, so als würde er einen Hund taufen, verlieh nun ein schwarzer König seinen hellhäutigen Söhnen und Erben.
Und wir hielten den Namen für affektiertes Getue und machten uns darüber lustig.
Nicht, dass es dafür keinerlei Anlass gegeben hätte. Aber von all den Dingen, die Michael unbegreiflich gemacht haben, ist der Glaube, ihn verstanden zu haben, der irreführendste. Wir sollten ihm nicht weiter anhängen.
Fangen wir nicht mit der TV-Serien-Kindheit und Josephs endlosen Probesessions mit der Familie an, sondern mit der späteren und, wie es scheint, genauso prägenden Motown-Kindheit, als Michael ungefähr zwischen elf und vierzehn war – Jahre, die er, sofern er nicht gerade auf Tour war, meistens alleine verbrachte, hinter Sicherheitsmauern, mit Privatlehrern und geheimen Notizbüchern. Ein Hans-Guck-in-die-Luft, der Regenbögen mag und Bücher. Der anfängt, exotische Tiere zu sammeln.
Seine ältesten Brüder sind irgendwann mal Kinder gewesen, die davon träumten, Kinderstars zu sein. Einen solchen Wunsch kann Michael nie entwickeln. Als er alt genug ist für so etwas wie Eigenwahrnehmung, ist er bereits ein Kinderstar. Und der Kinderstar träumt davon, Künstler zu sein.
Wenn er für sich ist, legt er Klassik-Platten auf, weil er gemerkt hat, dass sie ihn beruhigen. Auch die alten Südstaaten-Sachen, die sein Onkel Luther singt, gefallen ihm. Sein Onkel schaut ihn an und findet, dass Michael traurig wirkt für sein Alter. Da sind wir schon in Kalifornien. Das arme, braune Gary in Indiana mit seiner vergifteten Luft, die man weit über die Stadtgrenzen hinaus riechen konnte – durchaus möglich, dass die zehn Jahre, in denen Michael dieser Luft ausgesetzt war, sein Immunsystem schon nachhaltig geschädigt haben –, gehört bereits der Vergangenheit an.
Er macht sich über vieles Gedanken, und manchmal, wenn sie zusammensitzen, spricht er mit seinen Freunden Marvin Gaye und Diana Ross darüber. Er hört sich Alben an und vergleicht. Auf den Alben, die er und seine Brüder machen, sind immer ein paar gute Stücke, die die Platte verkaufen sollen, dazu jede Menge B-Ware, um dem LP-Format Genüge zu tun. Bei Leuten wie Tschaikowsky dagegen, da gab es keine Nieten. Aber man muss seine eigenen Lieder schreiben. Michael hat schon immer Melodien im Kopf gehabt, kleine Riffs und Beats. Aber das ist nicht dasselbe. Bei Motown läuft es so, dass Songwriter-Teams in verschiedenen Städten fertige Jackson-5-Songs liefern. Die Brüder werden dann zum Einsingen und zur Ergänzung kleiner Akzente ins Studio geholt.
Michael möchte Zugang zur "Anatomie" der Musik. Dieses Wort benutzt er immer wieder. Anatomie. Was in ihrer Struktur setzt Musik in Bewegung?
Als er siebzehn ist, bittet er Stevie Wonder, bei der Produktion von "Songs in the Key of Life" dabei sein zu dürfen. Man stelle sich Michael vor, unsicher, schüchtern und voller Ehrerbietung, wie er sich mottengleich gegen die Wand des Motown-Studios drückt. Stevies Blindheit ist in diesem Zusammenhang irgendwie anrührend. Zweifellos nimmt er Michaels Anwesenheit über weite Strecken nicht wahr. Bittet ihn nie, eine Rassel oder irgendwas zu spielen. Erwähnt ihn nie. Aber Michael hört ihm zu. Die meisten der Jackson-Geschwister verlassen in dieser Zeit Motown und wechseln zu einem anderen Label, bei dem sie einen etwas größeren künstlerischen Spielraum durchgesetzt haben. Das Erste, was Michael schreibt, ist "Blues Away", ein zu Unrecht vergessener Song, dessen Schicksal es ist, eines der am wenigsten veraltet klingenden Stücke zu werden, das die Jacksons gemeinsam aufnehmen. Ein hübsches, rollendes Klaviermotiv, darüber Streicher und ein gehauchter Refrain – Burt Bacharach, wenn der wie Stevie Wonder in einem frühen Discostück klingen würde, dazu etwas ganz Eigenes von Michael, das im introvertiert klingenden Rhythmus der Gesangsspur steckt. Ein lieblicher, leicht kryptischer Text, der erste Anklänge von Melancholie als letztem geschützten Zufluchtsort enthält: "I’d like to be yours tomorrow, so I’m giving you some time to get over today / But you can’t take my blues away."
1978, dem Jahr von "Shake Your Body (Down to the Ground)", gemeinsam geschrieben von Michael und dem kleinen Randy, haben sich seine Methoden eingespielt. Er fängt immer mit dem Tonbandgerät an. Er singt und beatboxt die Schnipsel, die er hört, die einzelnen Stimmen. Woher die kommen? Von oben. Er behauptet, jedes Mal, wenn er einen solchen Schnipsel aufgeschnappt hat, auf die Knie zu fallen und Jehova zu danken. Von seinem Gesangslehrer stammt die Geschichte, wie Michael eines Tages während der Stunde die Hände in die Luft hebt und vor sich hinzumurmeln beginnt. Der Lehrer, Seth Riggs, beschließt, ihn alleine zu lassen. Als er eine halbe Stunde später wiederkommt, soll Michael geflüstert haben: "Danke für meine Gabe."
Manche der Dinge, die Michael in seinem Kopf hört, überträgt er auf ein anderes Instrument, aufs Klavier (das er nicht gut, aber passabel spielt) oder auf den Bass. Die Melodie und ein paar perkussive Elemente verbleiben bei seiner Stimme. Den Rest arrangiert er darum herum. Es gibt ja noch seine Brüder und Schwestern. Er dirigiert.
Seine Kunst wird fortan von seiner Fähigkeit abhängen, den Kontakt zu halten zu diesem kindlichen inneren Instrument, so nah bei sich zu bleiben, um den eigenen melodischen Eingebungen folgen zu können. Wer schon mal dem Singsang von Kleinkindern gelauscht hat, der weiß, dass ihre spontanen Erfindungen oft erstaunlich eingängig und raffiniert sind. Aus der "Off the Wall"-Phase gibt es ein Demo vom späteren "Thriller"-Hit "Wanna Be Startin’ Somethin’", auf dem Michaels Gesang an nichts so sehr erinnert wie an spielerische Schulhof-Hänseleien. Schlecht wird er immer dann sein, wenn er macht, was er sich unter "großer" Musik vorstellt, denn die bringt er ausnahmslos mit militärischen Motiven in Verbindung.
1979, das Jahr von "Off the Wall" und seiner ersten Nasen-OP, markiert eine undurchsichtige Krise. Zu Beginn dieses Jahres wird ihm die schwule Hauptrolle in der Filmfassung von "A Chorus Line" angeboten, die er mit folgender Erklärung ablehnt: "Ich hätte große Lust, aber wenn ich das mache, wird man mich mit dieser Rolle identifizieren. Wegen meiner Stimme denken sowieso schon manche, dass ich so bin, also homo, aber das stimmt überhaupt nicht."
Man will wissen: Hatten Sie denn, als Sie zum Mann wurden, keinen Stimmbruch? Dabei änderte sich seine Stimme durchaus, doch zu was wurde sie? Wenn man sich Interviews aus verschiedenen Phasen der Siebziger anhört, kann man verfolgen, wie er daran arbeitet, seine Stimme zu verändern. Zuerst, um 1972, 1973 herum, wird sie etwas tiefer. (Wer ihn als Vierzehnjährigen in der Fernsehshow "The Dating Game" von 1972 sieht, hört eine tiefere Stimme als die des Dreißigjährigen.) Dieses potenziell katastrophische Ereignis hatten Familie und Label wahrscheinlich seit Jahren gefürchtet. Michael Jackson ohne sein Falsett ist nicht mehr die Ware, von der ihr kollektiver Traum abhängt. Michael wiederum hat noch nie die Erfahrung einer Realität gemacht, die sich vor seiner schöpferischen Kraft sperrt. Er arbeitet daran, etwas zu entwickeln – kein Falsett, mit dem man oberhalb seines natürlichen Stimmumfangs singt, sondern einfach einen höher gelagerten Stimmumfang. Er isoliert vollkommen andere Bereiche und Stellungen seiner Stimmbänder, entdeckt neue Ritzen und Spalten und trainiert deren Flexibilität. Gesangslehrer sagen, dass das geht, aber als extreme Praxis erachtet wird. Ob dieser Prozess in Michaels Fall bewusst abläuft, liegt jenseits jeder Erkenntnis. Wahrscheinlich entwickelt er diese Technik während der Pubertät, um weiter jeden Abend Jackson-5-Songs singen zu können. Im Endeffekt hat er sich so auf überraschend schöpferische Weise weniger kastriert als vielmehr verfraulicht. Eigentlich entwickelt er eine Drag-Stimme. Auf einer frühen, zu Hause mit Hilfe von Randy und Janet aufgenommenen Demoversion von "Don’t Stop ’Til You Get Enough" kann man geradezu hören, wie er sich in diese Stimme hineinarbeitet. In diese Kunstfigur. "We’re gonna be startin’ now, baby", sagt er erst mit entspannter, gemäßigt hoher Männerstimme. Dann intoniert er den Songtitel: "Don’t stop ’til you get enough", in einer weicheren, leiseren Version der im Grunde genau gleichen Stimme. Er wiederholt die Zeile in einer noch höheren Stimmlage, fast schnurrend. Und schließlich singt er – mit einer glockenhell perlenden Mädchenstimme.
Eine Zeugin wird später behaupten, dass Michael einmal in einem Augenblick des Zorns in eine tiefe, barsche Stimme ausbrach, die sie nie zuvor gehört habe. Auch Liza Minnelli gibt an, diese andere Stimme gehört zu haben.
Interessant, dass dieses Aufblitzen seiner "natürlichen" Stimme immer in Situationen passierte, in denen er, wie man sagen würde, nicht er selbst war.
Im Internet gibt es ein Bild von ihm kurz vor seinem Lebensende, daneben eine digital erstellte "Hochrechnung" seines vermutlichen Aussehens im selben Alter, aber ohne Operationen, Schminke und Perücke. Es ist das Bild eines lächelnden, auf landläufige Weise gutaussehenden Schwarzen mittleren Alters. Wir sollen natürlich Verbundenheit empfinden mit diesem armen Nie-Gewesenen und die skurrile Kreatur bemitleiden, die sich selbst verstümmelt hat. Ich kann aber nicht der Einzige sein, der diese Simulation im Gegenteil als irgendwie metaphysisch abstoßend wahrnimmt. Als Abscheulichkeit. Michael hat sein wahres Gesicht gewählt. Das, was ist, ist natürlich.
Wenn man so will – und auch, wenn man nicht so will –, ist sein physischer Körper das größte Werk postmoderner amerikanischer Bildhauerkunst. Man muss ihn sorgfältig konservieren.
Es ist überaus spannend, die Interviews zu lesen, die er im Laufe der letzten dreißig Jahre "Ebony" und "Jet" gab. Ich gebe zu, dass sie mich als Weißen verwirren. Während die großen Medien endlose Berichte über seine bizarren Gewohnheiten und seine Zurückgezogenheit brachten, gewährte er diesen beiden Magazinen über Jahre hinweg immer wieder intime, offenherzige Einblicke, wobei er nie vergaß, seine Gesprächspartner daran zu erinnern, dass er nur ihnen vertraute und nur mit ihnen sprechen würde. Die Artikel führen mir vor Augen, dass die einzige Persönlichkeit namens Michael Jackson, die ich je kannte, ein Mensch war, der sich vor Weißen gegen den Vorwurf passiv-aggressiven Kindesmissbrauchs verteidigt. Mit Schwarzen redete er anders, fühlte sich wohler. Die Sprache und die Beschaffenheit der Details unterscheiden sich – ohne dass die Konstellation journalistisch objektiver gewesen wäre.
Die Verlegerfamilie John H. Johnson, die "Jet" und "Ebony" herausgibt, stärkte Michael immer den Rücken, kittete und pflegte seine komplizierten Beziehungen mit der Black Community und versicherte den Lesern, dass man in Michaels Gegenwart "schnell hinter das Leuchten der rätselhaften Ikone, unter ihre fast durchscheinende Haut sehen und feststellen kann, dass diese afroamerikanische Legende mehr ist, als der oberflächliche Blick verrät". Manchmal, vor allem, als die "Homo"-Sache losging, kippte die Unbedingtheit der positiven Berichterstattung auch ins Komische, wie in einer 1982er Ausgabe von "Ebony", in der Michael über obsessive männliche Fans spricht:
"MICHAEL: 'Sie versuchen auf jede Art, an uns ranzukommen, da sind die Jungs genauso schlimm wie die Mädchen. Wenn Jungs auf die Bühne springen, stürzen sie sich meistens auf mich und Randy.'
EBONY: 'Aber das bedeutet doch nur, dass sie dich bewundern, oder?'"
Und trotzdem ist es ein neuer Michael, den man hier entspannt und unprätentiös über das reden hört, was er am meisten liebte: Kunst. Ein Mensch, der nicht das Geringste zu tun hat mit beispielsweise dem Michael aus "Living with Michael Jackson", Martin Bashirs berüchtigtem Dokumentarfilm, in dem Michael zugibt, sein Schlafzimmer mit Kindern zu teilen. Man muss "Jet" und "Ebony" lesen, um zu verstehen, wie ansonsten geradlinig wirkende Menschen jedweder Hautfarbe über all die Jahre gute Freunde von Michael Jackson bleiben konnten. Er ist sympathisch; er hat einen regen Geist. Was für eine Freude, dabei zu sein, wie er sich frühe Demos seiner eigenen Kompositionen anhört und sagt: "Und hier, das ist zu Hause, mit Janet und Randy ... Hier hört man vier Bässe ..." Oder wie er nicht ganz so vorgefertigte Anekdoten erzählt, wie die von dem schönen schwarzen Mädchen, das, als es ihn im Flugzeug entdeckte, wie vom Donner gerührt im Gang stehen blieb und sich so einnässte, dass es ihr die Beine runterlief. Oder die von dem blonden Mädchen, das ihn am Flughafen küsste und, als er nicht zurückküsste, sagte: "Was ist dein Problem, du Schwuchtel?" Er wird müde, immer wieder daran erinnern zu müssen, dass "es einen Grund gibt, warum ich als Mann geschaffen wurde. Ich bin kein Mädchen." Den Grund lässt er ungenannt.
Als sich Michael und Quincy Jones am Filmset von "The Wiz – Das zauberhafte Land" über den Weg laufen, fällt Michael eine Jahre zurückliegende Begebenheit ein. Damals hatte Sammy Davis Jr. im Backstage Jones zur Seite genommen und ihm zugeflüstert: "Der Junge hat was; er ist umwerfend." Michael hat diese Begebenheit "aufbewahrt". Jones’ Namen kennt er von den Hüllen der Jazzalben seines Vaters, er weiß, dass Jones eine Autorität ist. Er wartet bis zur Fertigstellung des Films, dann ruft er ihn an. Jones schüchtert ihn etwas ein, und genau deshalb fühlt er sich zu ihm hingezogen. Er sehnt sich nach einer Art Konkurrenz, die großformatiger ist als die alte innerfamiliäre, die er zudem seit langem dominiert. Die Familie ist ein Dame-Spiel, er will Schach. Verblassende Kinderstars haben es leicht, sich weiteren Motivationsversuchen zu verweigern, wenn sie sich das wünschen, und das tun die meisten. Es ist der menschlichere Weg. Michael aber sucht den Druck, zumindest in diesem Moment. Er umgibt sich mit Leuten, die ihn zu "höheren Anstrengungen" bringen, wie er es formuliert.
Quincy Jones gibt ihm den Spitznamen Smelly, wegen seiner Gewohnheit, mit den Fingern der linken Hand ständig die eigene Nase zu berühren oder zu verdecken, ein Tick, der auch in Nachrichtenclips aus dieser Zeit nicht zu übersehen ist. Er schämt sich wegen seiner breiten Nase. Diverse Operationen später – nachdem man es, so steht zu vermuten, im Jackson-Lager als undiplomatisch gebrandmarkt hatte, über Michaels frühere, sein Gesicht betreffende Unsicherheit zu sprechen – klingt die Geschichte anders. Man erzählt uns, dass Michael immer, wenn ihm im Studio ein Track gefiel, von einem "Smelly jelly" sprach. Vielleicht stimmen beide Geschichten. "Smelly jelly" klingt nach einer von Jacksons merkwürdigen, infantilen Redewendungen. Zu einem späteren Zeitpunkt in seinem Leben würde er, wenn er sich schwach fühlte, zu seinen Leuten sagen: "Ich habe Schmerzen ... deckt mich zu!" Was unter anderem bedeuten konnte: Zeit für meine Medizin.
Michael weiß, dass er seine Solokarriere nicht wirklich anschieben muss, bevor sein eigenes Songwriting nicht ein anderes Niveau bekommt. Er will nicht einfach nur dazugehören. Er will Ehrfurcht. Jones hat einen zuverlässigen Songwriter in seinem Stall, den Engländer Rod Temperton, der mit "Heatwave" bekannt wurde und jetzt den Song "Rock with You" anbietet. Der Song ist sehr gut. Michael hört ihn und weiß, dass das ein Hit ist. Hits sind ihm zu diesem Zeitpunkt eigentlich gar nicht so wichtig, er sieht sie als eine Art Nebenprodukt auf dem Weg zur Perfektion. Er fährt nach Hause und schreibt "Don’t Stop ’Til You Get Enough". Janet klingelt mit einer Glasflasche. Der treue Randy spielt Gitarre. Mit diesen beiden Geschwistern zieht Michael ins Quincy-Jones-Abenteuer, sie nimmt er mit in die innerste Zone, wo er komponiert. Wir unterstellen immer, dass seine Familie musikalisch nichts zu seiner Solokarriere beigetragen hat, es sei denn, aus Schuldgefühlen heraus. Aber bei diesen beiden fühlt er sich aufgehoben, es ist ihm wichtig, sie weiterhin in sein Nest eingewoben zu wissen. Beide sind jünger als er. Seine kleine Schwester.
Aus dem Abstand von dreißig Jahren betrachtet ist "Don’t Stop ’Til You Get Enough" ein sehr viel besseres Stück als "Rock with You". So sehr man "Rock with You" auch bewundert: Michaels Song ist melodisch deutlich unverwechselbarer. Was man hier hört, ist nicht handwerkliches Geschick, sondern ausgeprägt entwickelter Instinkt.
"Off the Wall" hinterlässt bei Michael ein Gefühl der Enttäuschung. Das Album wird mit einem Grammy ausgezeichnet, generiert mehrere Nummer-Eins-Singles, steigert Jacksons sowieso schon erhebliche Berühmtheit, rettet Disco genau im richtigen Moment: im Augenblick des Disco-Todes. Diana Ross, die die Jacksons einst unterstützt hatte, indem sie ihren hübschen Arm um sie legte, möchte Michael wieder bei ihren Konzerten dabei haben, und zwar nicht ihm zuliebe, sondern sich selbst zuliebe. Nicht, dass sie verzweifelt ist, aber es hat sich etwas verschoben. Quincy Jones und Bruce Swedien, der Aufnahme-Guru, mit dem Jones zusammenarbeitet, halten allein die Idee, in Sachen Erfolg einen "Nachfolger" von "Off the Wall" zu produzieren, für absurd. Man gibt sein Bestes, aber so etwas passiert trotzdem nur, wenn es eben passiert. Jones weiß das. Michael nicht. Er nimmt an "Off the Wall" nur wahr, dass im selben Jahr noch größere Alben erschienen sind. Er will etwas schaffen, das sich, wie er sagt, "weigert, ignoriert zu werden".
Zu Hause nimmt er mit Randy und Janet eine Demoversion von "Billy Jean" auf. In dem Part, der den Song einmal unsterblich machen wird, singen Janet und Michael noch "Whoo whoo / Whoo whoo".
Von Michaels Gehirn geht es also über eine kleine Bandmaschine ins Heimstudio. Bruce Swedien kommt vorbei. Wenn man Michael Jackson ist, der am Nachfolger zu "Off the Wall" arbeitet, heißt das auch, dass manchmal der beste Toningenieur der Welt zu dir nach Hause kommt und deine Demos aufnimmt. Das Team arbeitet trotzdem sehr minimal, ohne jede Rauschunterdrückung. "Meistens kommt das Beste dabei heraus", sagt Michael, "wenn man alles aufs absolute Minimum runterfährt, in sich hineinhört und einfach loslegt."
Auf diesem Home-Demo, das zwischen der allerersten Fassung und der Albumversion entstanden ist, kann man Michaels geheimnisvolle Platzhalter-Vocals hören. Der eigentliche Text war noch nicht geschrieben. Wir hören ihn sagen: "Mehr Kick und so auf die Kopfhörer ... Ich brauche, ähm ... mehr Gerüst, mehr Kick auf die Kopfhörer." Dann die Musik. Und etwas, das sich anhört wie:
"(nuschel nuschel nuschel) oh, to say
On the phone to stay ...
Oh, born out of time.
All the while I see other eyes.
One at a time
We’ll go where the winds unwind.
She told me her voice belonged to me
And I’m here to see
She called my name, then you said, Hello
Oh, then I died
And said, Gotta go in a ride
Seems that you knew my mind, now live
On that day got it made
Oh, mercy, it does care of what you do
Take care of what you do
Lord, they’re coming down.
Billie Jean is not my lover
She just a girl that says that I am the one
You know, the kid is not my son."
Swedien – groß, rundlich, warmherzig, skandinavischer Typ, aus Minnesota – hat sich zwar mit klassischer Musik einen Namen gemacht, weiß aber, dass er sich beim Aufnehmen von Klassik auf nichts weiter als auf die Klangtreue konzentrieren kann. Aber er möchte beteiligt sein am Entstehungsprozess und die Songs mitformen. Er, ein frustrierter Anatom, der formal von ganz oben kommt und auf dem Weg nach unten ist, begegnet Michael, dessen Stern im Steigen begriffen ist. Quincy, mitten in seiner Cool-Jazz-Phase, nennt ihn Svensk. Der Weiße pflegt die liebenswerte Gewohnheit, mit beiden Händen gleichzeitig die grauen Enden seines Walrossschnauzers glatt zu streichen. Er hat eine Veranlagung namens Synästhesie. Das bedeutet, er sieht beim Musikhören Farben. Er weiß, dass der Mix erst dann stimmt, wenn er die richtigen Farben sieht. Michael singt gern für ihn.
1993 spricht Swedien in einem Seminarraum in Seattle bei einer Audio-Pro-Nerd-Konferenz über sein Handwerk. Er spielt die Aufnahme von Michaels fehlerlosen, in einem Take abgenommenen Vocals von "The Way You Make Me Feel" vor, ohne jeden zusätzlichen Effekt, um die Toningenieure im Publikum den reinen Stoff hören zu lassen: ein tolles Mikrofon vor einer tollen Stimme, so wenig Interferenz wie möglich, der richtige Winkel, das richtige Aufnahmegerät, fertig.
Jemand im Saal meldet sich und fragt, ob es schwer sei, Michael aufzunehmen, immerhin sei Michael doch, wie Swedien eben selbst gesagt habe, sehr "körperlich". Swedien kapiert zunächst nicht. "Ja, ganz unproblematisch ist das nicht", antwortet er, "aber es ist nie vorgekommen, dass das Mikrofon beschädigt worden wäre. Obwohl, einmal ..."
Der Fragensteller unterbricht ihn: "Ich meine nicht, dass etwas kaputtgeht, ich meine dieses Nähe-Ding."
"Oh!", macht Swedien, dem plötzlich ein Licht aufgeht. Seine Stimme wird zu einem Flüstern: "Er ist unglaublich." Darauf folgt die schönste aller Beschreibungen: "Michael nimmt im Dunkeln auf, und er tanzt dazu. Stellen Sie sich vor: Sie schauen durch die Scheibe. Und es ist dunkel. Nur ein stecknadelkopfgroßer Lichtpunkt liegt auf ihm." Swedien hebt die Hand, um einen schmalen Lichtkegel anzudeuten, der senkrecht herunterleuchtet. "Und hier müssen Sie sich das Mikro vorstellen. Er singt seine Zeilen. Und dann verschwindet er."
In der umgebenden Dunkelheit tanzt er jetzt, wirbelt und zuckt herum. Mehr wissen Quincy und Swedien nicht.
"Aber dann" – Swedien boxt in die Luft – "ist er zum exakt richtigen Zeitpunkt wieder zurück am Mikro."
Swedien erfindet einen speziellen Reißverschlussüberzug für die Mikrofonierung der Bassdrum bei "Billie Jean". Ein dämpfendes Gehäuse. Was dem Lied diese mumifizierte Herzschlagintensität verleiht, die einen Dancefloor, Sie werden es selbst schon erlebt haben, lebendig werden lässt. Die geschichteten Bassklänge auf der Eins und der Drei verleihen dem Stück ein schleichendes, katzenhaftes Pochen. Bassdrum, Bassgitarre, ein doppelter Bass aus dem Synthesizer – eben die vier Bässe, die zusammen das machen, was bei Michael und Janet am Anfang noch ein von Jehovah kommendes "Whoo whoo whoo whoo" war. Dessen Tempo wie der Herzschlag eines schlafenden Menschen ist.
Michael ist noch mal für einen Tag zurück im alten Motown-Gebäude, um irgendein Video abzumischen, als Berry Gordy zu ihm kommt und fragt, ob er bei der NBC-Sondersendung zum fünfundzwanzigsten Labeljubiläum dabei sei. Michael zögert. Ein klaustrophobischer Moment für ihn. Dieses ganze Business, seine Brüder, Motown, die Jackson 5, die Vergangenheit: Das alles ist ein Kokon, in dessen Inneren er sich gewunden und durch den er sich endlich nach außen gebissen hat. Er weiß, dass "Billie Jean" eingeschlagen ist wie eine Bombe, er weiß, dass er gerade zu einem ganz anderen wird. Aber wie ein Tier wittert sein Ehrgeiz die Gelegenheit. Er handelt mit Gordy den legendären Deal aus, dass er sich zusammen mit seinen Brüdern auf die Bühne stellen wird, wenn er die Erlaubnis bekommt, auch einen seiner eigenen Post-Motown-Hits zu bringen. Gordy willigt ein.
Was Michael dann – in Anbetracht des Kontextes und der Tatsache, dass seine Brüder gerade erst die Bühne verlassen haben, die Mr. Berry Gordy gehört – mit seinem Moment macht, ist unverschämt. In den YouTube-Clips von diesem Auftritt, die mittlerweile Kultstatus erreicht haben, ist Michaels Vorrede meist weggeschnitten, weswegen es sich lohnt, das Ganze auf DVD anzuschauen (auf der übrigens auch einer der letzten Auftritte von Marvin Gaye vor seiner Ermordung zu sehen ist).
Verschwitzt stolziert Michael über die Bühne. "Danke ... Oh, ihr seid wunderbar ... Danke", sagt er, vor lauter Sexiness fast lallend. Man merkt ihm an, dass er bei den Jackson-5-Songs Nerven gelassen hat. Jetzt gehört ihm der Raum wie das Innere seines Käfigs. Abermillionen Augen ruhen auf ihm.
"Ich muss sagen: Das waren die guten alten Zeiten", schwadroniert er weiter. "Ich liebe diese Songs, es waren magische Augenblicke mit meinen Brüdern, auch mit Jermaine." (Der Hang der Jackson-Familie, in entscheidenden Momenten passiv-aggressive Schläge auszuteilen, ist außergewöhnlich; bei Michaels Beerdigung wird Jermaine sagen: "Ich war seine Stimme und sein Rückgrat, ich habe immer hinter ihm gestanden." Um dann hinzuzufügen, als fiele ihm gerade ein, sich auch noch bei seinem Agenten zu bedanken: "Wie die gesamte Familie.")
"Es waren gute Songs", sagt Michael. "Mir gefallen die Songs sehr, aber ganz besonders gefallen mir" – seine Stimme weicht für eine Sekunde vom Mikro zurück, was die Authentizität des Live-Auftritts derart strahlen lässt, dass einen dieses Strahlen fast festnagelt – "die neuen Songs."
Unbändiges Kreischen. Er greift nach dem Mikrofonständer so, wie James Brown immer danach gegriffen hat: als ob der Ständer einen Hals hat und er ihn erwürgen will. Die Leute auf den Plätzen schreien: "Billie Jean! Billie Jean!".
Ich werde die Einzigartigkeit dessen, was er als Nächstes tut, nicht mit Worten zukleistern, will allerdings auf etwas hinweisen, das man ansonsten eventuell übersieht (weil es so offensichtlich ist): Er tut es vollkommen allein. Die Bühne ist überwältigend leer. Die Silhouetten der Orchestermitglieder klatschen ganz hinten im Dunkeln. Wenn man den glitzernden Handschuh – der laut einer Quelle dazu da war, die fortgeschrittene Weißfleckenkrankheit zu kaschieren, die seine linke Hand entstellte – nicht mitzählt, hat Michael nur ein einziges Requisit dabei: einen schwarzen Hut. Und den wirft er fast sofort weg. Bühne, Tänzer, Scheinwerfer. Er schnappt sich das Mikro vom Ständer wie aus den Händen eines nervigen Kindes.
Mit dem Handwerkszeug eines Mimen macht er im Folgenden das möglicherweise Fesselndste, was ein Mensch je vor Zeugen auf einer Bühne gemacht hat. Richard Pryor, der wahrlich nicht dafür bekannt war, ein Schleimscheißer zu sein, geht hinterher zu Michael und sagt schlicht: "Das war der großartigste Auftritt, den ich je gesehen habe." Fred Astaire nennt ihn den "größten lebenden geborenen Tänzer".
Michael gesteht "Ebony": "Ich erinnere mich ganz genau an diese Performance, und ich erinnere mich deshalb so gut, weil ich mich so über mich geärgert habe, denn das war nicht, was ich wollte. Ich wollte mehr als das." Am Ende des Moonwalks noch länger mit gebeugten Knien auf Zehenspitzen stehen, heißt es. Wenn man richtig hinsieht, kippt er zwar von seinen Zehen, aber mit perfektem Timing, und lässt den Fall zum Teil einer Drehung werden. Genauso wischt er sich gegen Ende exakt getaktet den Schweiß von der Oberlippe.
Die Gefühlstiefe hinter seinem Gesicht sieht unerträglich aus.
Quincy ermahnt ihn ständig: "Smelly, geh mal einen Schritt zur Seite und mach Platz, damit Gott hereinkommen kann."
Ein Gott bewegt sich durch ihn hindurch. Der Gott tritt ein, der Gott tritt aus.
Es ist seltsam, über einen Menschen zu schreiben, von dem man weiß, dass er eventuell ein mehrfacher Kinderschänder war, ohne das aber sicher zu wissen. Ob Michael es getan hat oder nicht: Die Mutmaßungen haben sein Leben eine sehr lange Zeit überschattet und letzten Endes seine Seele getötet. Es heißt, dass er sich mit denselben Narkotika, die ihm wahrscheinlich den Garaus gemacht haben, betäuben ließ. Nicht stunden-, sondern tagelang. Als wollte er sich auslöschen lassen. Zeugen, die seinen Körper auf dem Seziertisch gesehen haben, berichten, dass seine künstliche Nase fehlte. Dass sein Gesicht nur aus Löchern bestand. Eine Mumie. Zwei unabhängig voneinander durchgeführte, vollständige Autopsien: Sie haben ihn zerstückelt. Zum Zeitpunkt der Niederschrift dieses Textes weiß außerhalb des Jackson-Lagers niemand mit Sicherheit, wo sich sein Körper befindet.
Im vergangenen Monat habe ich einen Stapel Bücher über ihn gelesen, mehr, als ich mir je hätte vorstellen können – aber nicht mehr, als ich wollte. Er verdient eine seriöse, objektive Biografie, die er zweifelsohne eines Tages auch bekommen wird, schließlich fanden in ihm sämtliche großen Stränge amerikanischer Musik zusammen. Dass ihn gerade sein rassisches Dazwischen-Sein zu einer zentralen Figur unserer Kulturgeschichte gemacht hat, müssen wir noch zu akzeptieren lernen. Er hat es bereits begriffen und benutzt. Seine Ehe mit der Tochter von Elvis war in Teilen ein Kunstwerk.
Von allen Büchern beunruhigt und beschäftigt mich das des Promi-Journalisten Ian Halperin am meisten: "Unmasked: The Final Years of Michael Jackson". Halperin, der für ein Buch und einen Film berühmt wurde, in denen er die zweifelhafte These vertritt, Kurt Cobains Selbstmord sei ein verschleierter Mord gewesen, ist sicher keine ideale, aber eben auch keine nutzlose Quelle. Treffsicher prognostizierte er Michaels Tod sechs Monate im Voraus und scheint sich an vielen Stellen in die Jackson-Welt gewühlt zu haben. Halperin behauptet, dass er mit seinem Buch anfänglich vor allem den Beweis dafür erbringen wollte, dass Michael kleine Jungen sexuell belästigte und sein Geld dazu verwendete, um damit durchzukommen. Diese ursprüngliche Motivation nehme ich ihm sofort ab, denn ein solcher Beweis hätte die meiste Sensationspresse gehabt, den größten Absatz gezeitigt usw. Nachdem er diversen Spuren erschöpfend nachgeht, stellt Halperin schließlich fest, dass ihm jeder Ansatz einer Beweiskette wie Sand durch die Finger rieselt. Entweder verlangt ein vermeintlicher Zeuge – und sei es ein Familienmitglied – Geld oder hat vorher schon Leute angezeigt oder ist offenkundig verrückt. Und fast immer bleibt am Ende nichts außer dem Gerücht, dass jemand anderes etwas über eine angebliche geheime Schmiergeldzahlung gehört haben soll. Und dann gibt es noch Jungen wie Macaulay Culkin (den liebkost zu haben Michael auch vorgeworfen wurde), die an die Öffentlichkeit getreten und angegeben haben, dass nie etwas Unbotmäßiges mit Michael passiert sei. Dass der Freispruch vor Gericht das richtige Urteil gewesen sei.
Das ist die erste Hälfte der Halperin-These. Die zweite Hälfte beschäftigt sich damit, dass Michael ein in vollem Umfang aktiver schwuler Mann gewesen sein soll, der sich sein gesamtes Erwachsenenleben hindurch heimliche Liebhaber genommen hat. Halperin behauptet, zwei seiner Liebhaber getroffen und Bilder gesehen zu haben, die zumindest einen der beiden zusammen mit Michael zeigten. Sie waren jung, aber definitiv volljährig. Der eine erzählte Halperin, Michael sei ein unersättlicher Bottom gewesen.
Was Michaels Interesse an Kindern anbelangt: Man kann sich schwerlich vorstellen, dass es keinerlei erotische Dimension hatte. Aber möglicherweise war es tatsächlich asexuell. Michaels Entwicklung hat im Stadium der Adoleszenz haltgemacht – ungefähr zur Zeit der frühen, verträumten kalifornischen Jahre im gestreiften Sweatshirt –, und er wollte Zeit mit Menschen verbringen, die er als gleichaltrig empfand. Kissenschlachten veranstalten, sich gegenseitig Dödel nennen. Das ist vielleicht gruselig, fordert aber auch keine Opfer. Es würde ihn – medizinisch-kategorial formuliert – zu einem partiell passiven, fixierten Pädophilen machen. Noch kein Verbrechen, jedenfalls solange die Gedankenlese-Maschinen nicht in Gang gesetzt sind.
Ich plädiere nicht dafür, dass Sie sich Halperins Meinung anschließen, ich würde mir nur wünschen, dass Sie zugestehen, was ich mich genötigt sehe zuzugestehen: dass das psychologische Bild, das Halperin heraufbeschwört, nicht weniger plausibel und vielleicht sogar etwas plausibler ist als jenes andere, in dem Michael die Neverland Ranch als Spinnennetz gebraucht, um kleine Jungs in sein Bett zu locken. Wenn Sie so sind wie ich, dann haben Sie einen großen Teil Ihres Lebens unterbewusst angenommen, dass Letzteres mehr oder weniger der Fall ist. Aber es besteht eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass das nie gestimmt hat und dass Michael Kinder mit einer zwar schrägen, aber nicht unmoralischen Zuneigung geliebt hat.
Sollten Sie Lust haben auf ein verstörendes Gedankenexperiment, dann lassen Sie erst einmal diese, ich will nicht sagen: Fakten, aber vielleicht: Möglichkeitsgebilde sacken und sehen sich noch einmal Martin Bashirs Dokumentarfilm von 2003 an. Es bringt nichts, an dieser Stelle die fortgesetzte Dämonisierung von Bashir zu betreiben, der Michael mit seiner Freundlichkeit mehr oder weniger dazu gebracht hat, sich als ultimativer, Gespielen um sich versammelnder Unhold zu verkaufen, vor allem, wenn man sich vor Augen hält, dass Bashir uns relativ offenherzig in Kenntnis setzt von seinen Vorurteilen Michael gegenüber. Nämlich dass er das mit Michael und den Kindern für wahrscheinlich zutreffend hielt.
Wenn man den Film aber mit einer zweifelnden Haltung anschaut und sieht, wie Michael seine Unschuld verteidigt und – Händchen haltend mit einem zwölfjährigen Krebsüberlebenden – fragt: "Was ist so falsch daran, Liebe zu teilen?", oder sich vor Augen führt, wie er viele Jahre vorher in einem merkwürdigen, auf seine Initiative hin veröffentlichten Statement mit kaum verhohlenem Zorn die Demütigung beschreibt, seinen Penis von der Polizei untersuchen lassen zu müssen – verdammt noch mal, dann erscheint sein Leben plötzlich doch in einem ganz anderen Licht. Es ist nicht völlig von der Hand zu weisen, dass Michael eine Art Märtyrer war.
Wir werden ihn nicht bemitleiden. Dass er sein Schicksal selbst gewählt hat, dass er von vornherein wusste, was der Ruhm mit ihm anstellen, wie er ihn entstellen würde, befreit uns davon, ihn zu idolisieren.
Trotzdem leidet dieses Land an der Pathologie der Pathologisierung. Es ist eine bürgerliche Krankheit, und wir tun recht daran, sie einen großen Scheißdreck zu nennen. Wir beklagen, dass Michael sein Gesicht verändert hat, weil er sich selbst hasste. Aber vielleicht hat er geliebt, zu was er wurde.
In den Neunzigerjahren hat "Ebony" ihn in Afrika getroffen. Von Dorfbewohnern in der Elfenbeinküste war er gerade zum König von Sani gekrönt worden. "Sie wissen, dass ich eigentlich keine Interviews gebe", sagte er in diesem Dorf zu Robert E. Johnson. "Sie sind der Einzige, dem ich genug vertraue, um eine Ausnahme zu machen. Tief im Inneren habe ich das Gefühl, dass die Welt, in der wir leben, eigentlich ein großes, riesiges, monumentales Symphonieorchester ist. Ich glaube, dass die gesamte Schöpfung in ihrer ursprünglichen Gestalt Klang ist, und zwar nicht einfach nur zufälliger Klang, sondern Musik."
Mögen dies seine letzten Gedanken gewesen sein.
http://www.welt.de/print/die_welt/literatur/article109096733/Michael.html