Di, 19. Juni 2012
Krank genug, um berühmt zu sein
Gerade Megastars surfen oft am Rand der psychischen Krankheit. Wissenschaftler fragen sich warum.Nicht der Ruhm macht krank, sondern die Borderline-Persönlichkeitsstörung macht berühmt, lautet die These von Psychologen. Die Borderline-Störung geht meist mit ausgeprägtem Narzissmus einher. Dieser sei die Antriebskraft, alles dafür zu tun, geliebt und verehrt zu werden, der Beste zu sein und sich gegen die Konkurrenz durchzusetzen. Der Grund, besagt eine neue Theorie, liege in einem Mangel an für Belohnung und Glücksgefühle zuständigen Botenstoffen im Gehirn. Betroffene seien ständig auf der Suche nach dem extremen Kick, der diesen Mangel kurzfristig ausgleicht.
"Natürlich gibt es unzählige Künstler, die vollkommen frei sind von irgendwelchen psychischen Störungen", erklärt Borwin Bandelow, Psychologe an der Universität Göttingen. Auch seien Persönlichkeitsstörungen nicht die häufigsten psychischen Probleme von Promis, ebenfalls Depressionen, bipolare Störungen oder Angsterkrankungen träten bei Musikern, Schauspielern oder Literaten häufiger als in der Durchschnittsbevölkerung auf. "Extrem sind sicherlich die Persönlichkeitsstrukturen so mancher berühmter Personen", stellt der Psychosomatiker Stephan Doering von der Uni Münster fest. Als Beispiele nennt er aus der Ferne Musiker wie Karlheinz Stockhaus, die Beatles, Velvet Underground oder The Cure, Maler wie Vincent van Gogh und Salvador Dali oder Stars wie Britney Spears und Klaus Kinsky, "ohne dass dies etwas mit Störung und Behandlungsbedürftigkeit zu tun haben muss." Nicht jeder prominente Kreative ist ein geltungssüchtiger Narzisst. Es gibt auch den ausgeglichenen, fleißigen Arbeiter oder das scheue Genie.
"Dennoch fällt auf, dass bei den Megastars, vor allem bei denjenigen, die früh starben, Symptome einer Borderline-Störung offensichtlich waren", sagt Bandelow. Dazu gehörten beispielsweise Amy Winehouse, Michael Jackson, Nirwana-Sänger Kurt Cobain, Stones Gitarrist Brian Jones, Janis Joplin, Jimi Hendrix oder Jim Morrison von den Doors. Ohne leichtfertig eine Ferndiagnose stellen zu wollen, käme die charakteristische Mischung der aufgrund von Autobiografien oder Presseberichten feststellbaren Symptome bei keiner anderen Erkrankung vor. Diese Merkmale umfassen den Konsum unterschiedlicher Drogen, Medikamentensucht, Verlust der Impulskontrolle, heftige Stimmungsschwankungen, Essstörungen, Selbstverletzung, die Suche des Risikos, ausgeprägter Narzissmus und Probleme in der oder den Partnerschaften.In Beziehungen suchen Borderliner große Nähe, die ihnen andererseits aber auch Angst macht, sobald sie da ist. Dann zerstören sie das Vertrauen oft abrupt. "Von außen betrachtet haben solche Menschen, die häufig darum ringen, nicht verlassen zu werden, und dann, wenn die Beziehung da ist, sie vor lauter Angst kaum ertragen können oder auch entwerten müssen, instabile oder auch sehr intensive, wechselnde zwischenmenschliche Beziehungen", schildert Michael Franz von der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Bad Emstal in Hessen die typischen Nähe-Distanz-Konflikte.
Diese Störung kann viele Gesichter haben. Ein häufiges Symptom ist eine starke Gemütserregung, Wut, schwer zu kontrollierende Emotionalität. "Unangemessene, starke Wut und wiederholte emotionale Entgleisungen können eines der Merkmale der Borderline-Störung darstellen", erklärt Franz. "Also jemand ist stark episodisch niedergeschlagen und kann sich davon kaum distanzieren, dann wieder ist er sehr reizbar, dann wieder sehr ängstlich", sagt Franz. "Es ist also die Stabilität der Instabilität, die diese Variante kennzeichnet." Dazu komme oft ein chronisches Gefühl der inneren Leere. "Klingt erst mal harmlos, ist aber, wenn man darunter leidet, ausgesprochen quälend."
"Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen eine erschreckende und deutliche Häufung psychischer Probleme bei kreativen Künstlern und eine alarmierend erhöhte Todesrate, die hauptsächlich auf Drogen- und Alkoholmissbrauch zurückgeht", fasst Bandelow zusammen. Menschen mit einer Borderline-Störung lernen schon im Kindes- und Jugendalter, wie sie andere auf sich aufmerksam machen können. "Die Anteilnahme anderer Menschen bedeutet ihnen noch mehr als Normalpersonen – vor allem vor dem Hintergrund, dass zu den Risikofaktoren einer emotional instabilen Persönlichkeit eine von Lieblosigkeit, Vernachlässigung oder Gewalt geprägte Kindheit gehört."
Borderliner haben Angst vor Zurückweisung und Verlassenwerden, glauben, nicht liebenswert und attraktiv zu sein oder nicht wertgeschätzt zu werden. Daher suchen sie permanent den Beweis des Gegenteils. Dieser Narzissmus, die Sucht nach ständiger Aufmerksamkeit stellvertretend für Liebe und Geborgenheit führt beispielsweise dazu, dass von zwei Künstlern mit dem gleichen Talent eher derjenige die Gunst des Publikums erringt, der früh gelernt hat, nachdrücklich auf sich aufmerksam zu machen, eben der Narzisst. "Und keiner kann tiefen Schmerz, Kummer, Trauer, Leid, Hass und Wut ergreifender und authentischer ausdrücken als Menschen, die selbst ständig unter Seelenqualen leiden", meint Bandelow.
Denken wir nur an Amy Winehouses Song "Back to Black" oder an "I Will Always Love You" von Whitney Houston. Auch die kürzlich verstorbene Sängerin hätte laut Bandelow die klassische Symptommischung einer Borderlinerin gezeigt.
Das Bindeglied zwischen Sex, Drugs und Rock n’Roll ist Bandelow zufolge das Belohnungssystem des Gehirns. "Eine neue Theorie vermag nun plausibler als die bisherigen die oft unverständlichen und gefährlichen Verhaltensweisen der Borderline-Patienten erklären." Im Gehirn gibt es das Belohnungssystem, das uns immer dann mit Dopamin belohnt, wenn wir unsere primären Triebe befriedigen, also Essen, Trinken und Sex. Dieses System ist eng mit dem der körpereigenen Drogen verbunden, dem sogenannten endogenen Opiatsystem. Dieses schüttet Botenstoffe aus, die Endorphine, die ähnlich wirken wie das Schmerzmittel Morphin.
Endorphine lindern Schmerz und machen euphorisch. "Sie werden in Stresssituationen ausgeschüttet", erklärt Bandelow, zum Beispiel, wenn ein Tier kämpft und aus Wunden blutet. Es verspürt keinen Schmerz, sondern Euphorie, so dass es den Überlebenskampf besser meistert. "Eine der beunruhigendsten Eigenschaften von Borderline-Patienten sind die häufigen Selbstverletzungen. Sie berichten oft, dass sie dabei keinen Schmerz verspüren, sondern im Gegenteil einen Kick bekommen, der ihre unerträglichen Leeregefühle kurzfristig bessert", stellt Bandelow fest. Dies könne mit einer Fehlfunktion des Opiatsystems erklärt werden: Wenn Blut fließt, würden Endorphine ausgeschüttet, die schmerzunempfindlich machen und die kaum auszuhaltende Leere mildern.
Auch viele angenehme Dinge gehen mit dem Freisetzen von Endorphinen einher: der Anblick schöner Gesichter, Geschlechtsverkehr, Streicheleinheiten oder Massagen, ein warmes Bad, Sport, ein Geldgewinn oder wenn man Geld spendet und wenn man für seine Leistung gelobt oder bejubelt wird, die Aufmerksamkeit der Massen erringt. Applaus sei Koks für die Seele, meint Bandelow. Gegenspieler dieses Opiatsystems ist eine soziale Angststruktur im Gehirn, die dafür sorgt, dass wir bei der Suche nach dem höchsten Glück nicht ungehemmt und auf Kosten anderer Normen, Regeln und Tabus verletzen. "Ist das Gleichgewicht zwischen dem endogenen Opiatsystem und dem Angstsystem schwer gestört, kann es zu gefährlichen und unsozialen Versuchen kommen, das Opiatsystem zu stimulieren, wie Drogenmissbrauch, Vergewaltigung oder Raubmord", erklärt Bandelow.
Diese Fehlfunktion kann daher rühren, dass entweder zu wenig Endorphine zirkulieren oder dass die Rezeptoren für die Glücksboten zu unempfindlich sind. "Dies führt dazu, dass die Patienten ständig einen zu niedrigen Pegel der Wohlfühlhormone haben, ein Zustand, der sich in ständigen Leeregefühlen und Missstimmung bemerkbar macht", betont der Göttinger Psychologe. Daher entwickeln betroffene Techniken, ihren Endophinspiegel hochzuregeln, auch um den Preis der Selbst- oder Fremdgefährdung.
Viele der exzessiven, riskanten und provokanten Verhaltensweisen von Borderlinern könnten mit dem unersättlichen Drang erklärt werden, das Drogensystem im Gehirn zu aktivieren – koste es, was es wolle. Einer der schnellsten Wege zum Glücksgefühl ist der Drogenrausch mit Heroin oder Kokain, die direkt an den Opiatrezeptoren im Gehirn andocken. "Natürlich versuchen auch alle gesunden Menschen, ihre Wohlfühlhormone möglichst im oberen Bereich zu halten, aber nur Borderline-Patienten gehen dabei über die Grenzlinie, ohne die schädlichen Folgen zu bedenken", betont Bandelow. Er hofft, dass diese Erkenntnisse es eines Tages ermöglichen wird, ein "Medikament zu entwickeln, das wie Morphin oder Heroin das Opiatsystem aktiviert, ohne allerdings süchtig zu machen."
http://www.badische-zeitung.de/gesundheit-ernaehrung/krank-genug-um-beruehmt-zu-sein--60750840.html