@AnGSt Betrachten wir nun das aramäische Vaterunser nach Neill Douglas-Klotz. Das erste was auffällt, ist dass die Bedeutung des Wortes "awuun" (meist mit "Vater" übersetzt) geschlechtsneutral ist. Klotz übersetzt mit "O Gebärer(in), Vater-Mutter des Kosmos" (womit auch die Suggestion, Gott halte sich ausschliesslich im Himmel, nicht auf der Erde auf, vom Tisch ist). Der Aramäisch-Gelehrte Rocco Errico sagte auf einer Audio-CD über das Vaterunser, "awuun" sei ein familiäres Kosewort, es könne für Vater oder Mutter, Sohn oder Tochter, Bruder oder Schwester gleichermassen verwendet werden. Das mag überraschen, weil es ein solches Wort im Deutschen gar nicht gibt, ausser vielleicht "Schatz" oder "Liebes". Eine mögliche (ausführlichere) Übersetzung wäre angelehnt an Errico und Douglas-Klotz: "Geliebtes Schöpferwesen, das überall im Universum und in meiner Seele gegenwärtig ist".
Es gibt noch weitere solche Begriffsverschiebungen. So bedeutet etwas "lachma" im Aramäischen sowohl "Brot" als auch "Einsicht". Douglas-Klotz sagt: "Gewähre uns täglich, was wir an Brot und Einsicht brauchen". Also Nahrung für Leib und Geist gleichermassen. Der "Schuld"-Vers lautet in der Neuübersetzung: "Löse die Stränge der Fehler, die uns binden". Eine befreiende Botschaft, die an das Sprengen von Fesseln erinnert. Das Wort für "Vergeben" (ausgesprochen ungefähr "waschwoklähn") trägt im Kern die Bedeutung "Rückkehr zum ursprünglichen Zustand". Und das Wort für "Versuchung" (l'nisiona) meint in der ursprünglichen Bedeutung "innere Unruhe, die uns von unserer eigentlichen Lebensaufgabe abgelenkt werden." Also nichts von einem Vater, der uns vorsätzlich in Versuchung führt.
O Gebärer(in)! Vater-Mutter des Kosmos,
Bündele Dein Licht in uns - mache es nützlich:
Erschaffe Dein Reich der Einheit jetzt.
Dein eines Verlangen wirkt dann in unserem - wie in allem Licht, so in allen Formen.
Gewähre und täglich, was wir an Brot und Einsicht brauchen.
Löse die Stränge der Fehler, die uns binden, wie wir loslassen, was uns bindet an die Schuld anderer.
Lass oberflächliche Dinge uns nicht irreführen, sondern befreie uns von dem, was uns zurückhält.
Aus Dir kommt der allwirksame Wille, die lebendige Kraft zu handeln, das Lied, das alles verschönert und sich von Zeitalter zu Zeitalter erneuert.
Amen
Das aramäische Vaterunser entführt uns in eine erstaunlich frische wirkende, unverstaubte Welt mystischer und undogmatischer Spiritualität. Es führt uns in die Nähe und zielt auf die Vereinigung mit einer liebenden, allgegenwärtigen Gottheit. Die erste Hälfte des Gebets umreisst eine Bewegung von Gott zu den Menschen hin. Seine Energie oder sein "Verlangen" soll sich in den Menschen manifestieren, sein Reich schon jetzt und auf der Erde Realität werden. Die zweite Hälfte (ab dem "Brot-Vers") gibt wichtig Anleitungen für das irdische Leben, die Versorgung mit dem Notwendigsten, den Umgang mit anderen Menschen und den "geraden Weg" zur Befreiung
Es gibt noch weitere direkte Übersetzungen aus dem aramäischen, die nicht weniger begeisternd sind, als die Version von Douglas-Klotz. Beispielhaft sei hier noch eine andere Version aufgeführt:
Oh Du, von der/dem der Atem des Lebens kommt, der/die Du alle Ebenen von Klang, Licht und Schwingung erfüllst.
Möge dein Licht in meinem Heiligsten erfahren sein
Dein Himmelreich kommt.
Lass Deinen Willen wahr werden - im Universum (allem was schwingt) wie auch auf Erden (allem was fest ist).
Gib uns Weisheit (Verständnis, Unterstützung) für unsere täglichen Bedürfnisse, nimm die Fesseln der Fehler von uns, die uns binden, wie auch wir loslassen von der Schuld anderer.
Lass uns nicht verlorengehen in oberflächlichen (materiellen) Dingen, sondern mache uns frei von allem, was uns von unserem wahren Zweck abhält.
Von Dir kommt der allwirksame Wille, die lebendige Kraft zu Handeln, das Lied, das alles verschönert und sich selbst erneuert von Zeitalter zu Zeitalter.
Amen
(Ich bezeuge mit meinem ganzen Wesen)
..... das hört sich doch gleich ganz anders an OHNE den domatischen umschreibungen von kirchlicher seite her
:)