Eine Folge der InformationsverarbeitungDas Phänomen der Gesichtserscheinung hängt schlicht und einfach mit der Art und Weise zusammen, wie unser Gehirn die Informationen verarbeitet, die über unsere Augen hereinkommen.
Was wir zu sehen meinen, ist kein exaktes Abbild der Realität, sondern eine Interpretation der einlaufenden Daten. Und die Interpretation ist von Mensch zu Mensch nicht völlig unterschiedlich, sondern erfolgt nach bestimmten Mechanismen. Das belegen zwei eindrucksvolle Beispiele:
1) Eine Aufnahme des Zellkerns des Fadenwurms Caenorhabditis elegans, die in der Fachzeitung Developmental Biology (205, 1999) veröffentlicht wurde, zeigt deutlich eine runde Erhebung.
Stellt man das Foto auf den Kopf, interpretiert man das sonst exakt identische Objekt als Vertiefung. Denn unser Gehirn geht grundsätzlich davon aus, dass Lichtquellen sich "oben"
befinden.
2) Wo unser Sehnerv auf die Netzhaut trifft, befinden sich keine Lichtrezeptoren. In unserem Gesichtsfeld gibt es deshalb einen "blinden Fleck". Diesen bemerken wir jedoch nicht, da unser Gehirn die fehlenden Informationen einfach dem Hintergrund entsprechend ergänzt.
Und obwohl wir Farben eigentlich nur in der Mitte unseres Sehfeldes sehen können, malt unser Gehirn uns den Rand bunt – entsprechend unserer Erwartungen.
Doch über diese Fähigkeiten hinaus reichen uns auch wenige tatsächlich wahrgenommene Punkte, um ganze Gestalten daraus zu konstruieren. Hilfreich ist das - wie schnell einleuchtet -, um zum Beispiel ein Raubtier im Gebüsch zu erkennen, obwohl es teilweise von Laub verdeckt ist. Ein Gehirn, das zu dieser Leistung fähig ist, bringt seinem Träger einen immensen Überlebensvorteil.
Demnach ergänzen wir, was wir sehen, ständig, und zwar auf der Grundlage von angeborenen Wahrnehmungs- und auch Lernprozessen. Das gilt auch für Gesichter.
Gerade Gesichtszüge sind für uns extrem wichtig. Ein großer Teil unserer Kommunikation findet mit Hilfe von Gesichtsausdrücken statt. Und je schneller und genauer wir sie zu interpretieren in der Lage sind, umso besser können wir darauf reagieren.
Hirnregionen zur GesichtserkennungDementsprechend ausgeprägt sind auch die Hirnregionen, die allein dazu dienen, Gesichter zu erkennen, zu unterscheiden und zu interpretieren. Es gibt sogar bestimmte Regionen, die offenbar ausschließlich dazu da sind. Fallen sie etwa aufgrund eines Schlaganfalles aus, kann der Betroffene weiterhin alles erkennen - bis auf Gesichter.Hirnregionen zur Gesichtserkennung
Arbeiten an Computerprogrammen zur Gesichtserkennung am Massachusetts Institute of Technology (MIT) haben inzwischen weitere Hinweise darauf geliefert, welche Informationen ausreichen, um ein Gesicht zu erkennen.
Zum Beispiel sind die Augen demnach immer dunkler als die Stirn, der Mund dunkler als die Wangen. Wie Pawan Sinha vom MIT kürzlich der New York Times erklärte, reichen zwölf solcher Verhältnisse von "Gesichtspunkten" aus, um ein Gesicht wahrzunehmen. Und besonders scharf müssen wir auch ein echtes Gesicht nicht sehen, um es als solches zu identifizieren.
Offenbar besitzen wir eine Art Grundkonzept davon, wie ein Gesicht auszusehen hat. Und wenn die Mischung aus dunkel und hell passt, werden noch ein paar Lücken gefüllt - und mit der entsprechenden Vorbildung sehen wir Jesus oder Buddha, Elvis oder Marilyn Monroe.
Da wir in der Lage sind, auf den zweiten Blick zu erkennen, ob es sich tatsächlich um ein Gesicht handelt oder um ein Artefakt, ist der Anblick der Jungfrau Maria in einem Toastbrot für die meisten von uns zum Glück kein Problem. Schlimmer wäre es, wenn wir echte Gesichter übersehen würden oder nicht interpretieren könnten.
Die MIT-Computer übrigens arbeiten genauso wenig perfekt wie das menschliche Gehirn. Hin und wieder bilden sich auch die Maschinen ein, Gesichter zu erkennen, wo keine sind.
http://www.sueddeutsche.de/wissen/444/326308/text/9/