Legenden und Sagen
06.07.2007 um 11:35
Alice
Auf Quinipily, nahe dem Städtchen Baud, lebte ein alter, reicher Herr, derMillionen besaß und doch nicht glücklich war. Er konnte es auch nicht sein, denn er hattekeine Kinder.
Um das Schicksal doch noch zu versöhnen, hatte er oft an die Armenund Kranken Spenden verteilt, Wallfahrten gemacht, Kerzen entzündet und Andachtengehalten - vergeblich. Sein Wunsch ging nicht in Erfüllung. Traurig und einsam schlichdas Alter heran, denn der Herr war mehr als sechzig Jahre alt, und seine Frau kam demhalben Jahrhundert ziemlich nah.
Als sie schon alle Hoffnungen aufgegeben hatten,beglückte die Natur sie doch noch mit einem reizenden Mädchen, das bei der Taufe denNamen Alice erhielt.
Unmöglich ist es, die Freude zu schildern, die das Ehepaarüber die Geburt dieses so ersehnten Kindes empfand, noch die Sorge zu beschreiben, mitder die Kleine behütet wurde.
Mit zwölf Jahren war Alice schlank wie einHanfstengel, geschmeidig wie ein Schilfrohr, frisch, aber blaß wie die wilde Rose;freilich war sie sehr zart, und ihre schwache Natur, die ihrer Schönheit einenunnachahmlichen Reiz lieh, beunruhigte auch ihre Eltern, deren einziger Lebensinhalt siewar. Die berühmtesten Ärzte waren nicht zu teuer, um dem hübschen, aber schwächlichenKind eine Lebensweise vorzuzeichnen, die seine Gesundheit kräftigen könnte; sie rietenAlice geregelte Tätigkeit, reine Feldluft, Spazierritte und verboten für immerdurchwachte Nächte.
Alice befolgte die Ratschläge gewissenhaft. Von zweiFreundinnen begleitet, ritt sie täglich auf ihrem Pferd, das weiß wie Milch, sanft wieein Lamm und flink wie ein Eichhörnchen war, durch die Gegend; sie besuchte die Katen undHütten der Landarbeiter und Bauern, um Hilfe und gute Worte zu verteilen, sprach mitallen, gab ihnen Geld. Ihr Herz war aus Gold.
Mit sechzehn Jahren war Aliceblühend wie die Gartenrose, denn einen guten Charakter setzt die Natur auch inAnsehnlichkeit um. Das Mädchen war groß und gekräftigt, und aus zwanzig Meilen in derUmgebung kamen, gelockt durch ihre jungen Reize, die Männer zu Besuch, entbrannt in Liebeund Begehren.
Ihr alter Vater, bedenkend, daß seine Jahre gezählt waren, und vondem Gedanken beunruhigt, seine geliebte Tochter könne einst ohne Mann zurückbleiben,drang oft in sie, einen der Bewerber zu wählen; aber Alice, die selbständig und frei war,wollte sich nicht binden.
Eines Tages kam ein junger, schöner Mann aus Versailles,ausgezeichnet durch Anmut und edle Haltung, als ein entfernter Verwandter der Eltern nachQuinipily; er sah Alice, verliebte sich in sie, gewann auch ihr Herz, und siebeschlossen, zu heiraten.
Nie hatte es eine schönere, fröhlichere, reichereHochzeit gegeben, nie waren so viele Gäste so glücklich gewesen, niemals hatten zu soklangvollen Sackpfeifen und Brummbässen so viel Leute getanzt. Und doch nahm, mitten indem Glanz und dem lärmenden Jubel, alle Herzen eine ängstliche Beklemmung ein understickte die Freude.
Es hatte jedoch, für den, der es hören konnte, am Abend vordem Fest die Hundemeute des Anwesens die ganze Nacht geheult; die Kerzen für die Brauthatten nur schwach gebrannt und waren ohne Rauch verloschen; beim Essen war Salz auf denTischen verschüttet worden; Alice war an einem Dreizehnten des Monats getraut worden, unddreizehn Frauen hatten am Morgen ihrer Garderobe beigewohnt.
Ganz in ihr Glückversunken, hatte Alice keines dieser Vorzeichen bemerkt. Konnte sie eine unglücklicheZukunft ahnen, sie, der damals im Leben alles zulächelte?
Doch kein Kopf ist sobeschäftigt, kein Herz so voll, daß nicht eine Begierde dazu darin Platz finden könnte.Wenige Tage nach der Hochzeit also verlangte Alice, nach Versailles abzureisen, wovon ihrMann soviel Erstaunliches erzählt hatte. Und an einem Freitag darauf fuhren sie auch.
Dort angekommen, vergaß sie bald die Mahnungen der Ärzte, ihre Nächte brachte sieauf Bällen, ihre Tage im Strudel von Festen zu. Bald verblichen die Rosen ihrer Wangen,verwelkte ihre schöne Gesundheit, die das geordnete Landleben ihrer Heimat ihr gegebenhatte.
Sowie Alice an dem Fieber, das sie schüttelte, die Bedenklichkeit ihresZustandes erkannte, wollte sie zu den Eltern zurückkehren und zu Hause neue Kraftschöpfen; aber es war zu spät. Die Pflege konnte nur ihr Leiden lindern, nicht seinenFortschritt aufhalten.
Umsonst verbarg man der jungen Frau ihr nahes Ende, eswurde ihr bald klar. Denn in einer schlaflosen Nacht hörte sie an ihrem Fenster einKäuzchen sein klägliches Gewimmer ausstoßen und die Räder des Totenkarrens ächzen, dervor dem Tor hielt, und diese schrecklichen Anzeichen gaben ihr zu verstehen, daß auf derWelt für sie alles zu Ende ging.
Da bereitete sie sich auf den Tod vor. Um keineSpur ihrer Eitelkeit und Oberflächlichkeit zurückzulassen, wollte sie mit allen Kleidernund Schmuckstücken begraben werden. Dann starb sie, nicht ohne Klage, doch gefaßt.
Lange und bitter wurde sie von allen beweint, die sie gekannt hatten. Ihre Elternüberlebten den Schmerz nicht, und das Anwesen ging in fremde Hände über.
Zu derZeit lebten auf dem Bauernhof, der dem Anwesen angegliedert war, ein junger Knecht undeine hübsche Magd, die einander versprochen hatten, sobald sie sich von ihrem kärglichenLohn genug gespart hätten, ein kleines Gut zu pachten. Aber der Lohn war zu gering,obwohl sie unermüdlich bis in die Nacht hinein arbeiteten, und so nahm Verzweiflung vonden Liebenden Besitz.
"Ach", sagte der junge Knecht zu seiner Liebsten, "man hatmit Alice einen Schatz in die Erde verscharrt, der niemand etwas nützt, während eineinziger von diesen Juwelen für unser Glück ausreichen würde!" Und er seufzte laut, undseine Freundin weinte.
Wenn der Gedanke keinen vernünftigen Widerstand findet unddas Herz ihn mit starken Wünschen trägt, dann unterliegt man ihm schließlich. Noch amselben Abend waren die beiden Liebenden an Alices Grab und raubten es aus. Beim Anblickder Reichtümer, die dort aufgehäuft waren, wuchs ihre Habgier. Ein einziges Schmuckstückbefriedigte sie nicht mehr, wie auch Alice zu ihren Lebzeiten nur an vielen Genußgefunden hatte, sie rissen alles an sich, wie es die reichen Adligen im Land ihnentäglich vormachten; und sie machten selbst nicht halt vor dem reichverziertenSeidenkleid, das der Toten als Leichentuch diente. Dann schlössen sie das Grab sorgfältigzu.
Einen Monat nach dieser Tat, die nach ihrer Hoffnung das Glück gründensollte, waren die beiden nicht wiederzuerkennen. Bleich und abgezehrt gingen sie umher,mieden alle Feste und wiesen ihre Freunde ab. Bei jedem Wort, das man an sie richtete,wurden sie rot, und wenn man sich gar von der Verstorbenen unterhielt, wurden sie soverwirrt, daß es jedermann bemerkte, ohne indessen die Ursache verstehen zu können.Gewissensqualen und Schrecken folterten ihren Geist, und in jeder Nacht weckte sie einGespenst aus dem unruhigen Schlaf, das eine kalte Hand auf ihre Stirn legte, und eineGrabesstimme rief ihnen immer wieder zu:" Gib mir mein Sterbekleid wieder!"
Diejunge Magd konnte die entsetzliche Angst endlich nicht mehr ertragen. Sie beschwor ihrenGeliebten, die geraubten Schätze wieder zurückzutragen, und nach langem Zögern willigteer ein, ebenfalls zerrüttet von den Alpträumen.
In einer schwarzen, stürmischenNacht begaben sich die beiden heimlich auf den Friedhof. Was sich dort zutrug - niemandhat es erfahren, niemand kann es wissen. Aber am anderen Tag konnten alle, die amFriedhof vorbeigingen, neben dem Grab den Hut des Knechtes, den Rosenkranz der Magd unddie beiden Buchsbaumzweige sehen, die sie zum Schutz mitgenommen hatten. Das waralles.
Niemals hat man in der Gegend von Quinipily die beiden Menschenwiedergesehen, niemals hat man etwas von ihnen vernommen!