Bürger vs. Staat
01.02.2013 um 21:04
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Sie protestieren gegen Flughäfen, Bahnhöfe und die Gier der Banker: In Deutschland begehren Bürger auf. Was treibt sie an? Was verbindet sie? Eine Studie seziert die neuen Bewegungen - und stellt fest: Die Rebellen sind vor allem grauhaarig, gut gebildet und bestens versorgt.
Hamburg - Sie wollen endlich ihre Ruhe haben - zumindest nachts und das acht Stunden lang. Immer wieder gehen Tausende Berliner und Brandenburger auf die Straße, um am künftigen Flughafen Berlin Brandenburg ein striktes Nachtflugverbot von 22 bis 6 Uhr zu fordern. Ihnen reicht es nicht, dass der Flugverkehr nur zwischen Mitternacht und 5 Uhr ruhen soll. "Kein üBERflug", "Fluglärm macht krank" oder "Platzeck auf die Abflugroute" steht auf ihren Transparenten - sie sind wütend, weil sie das Gefühl haben, dass niemand ihre Sorgen ernst nimmt, sondern der "Katastrophenflughafen" einfach an ihnen vorbei geplant und gebaut wird.
Die Bürger kämpfen an allen Fronten: Sie klagen vor Gericht; sie tauchen da auf, wo der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) auftritt, zum Beispiel beim Hoffest am Roten Rathaus. "Lügenpack" und "Kein Zaster für das BER-Desaster" schmetterten sie ihm entgegen; sie setzen per Volksbegehren durch, dass sich der Potsdamer Landtag erneut mit dem Nachtflugverbot beschäftigen muss.
Der indirekte Weg der Beteiligung allein erscheint vielen Bürgern mittlerweile als zu mühsam, als zu veraltet. Statt auf Wahlen und Lobbygruppen setzen die Menschen auf ihre eigene Kraft: Sie wollen mitreden, selbst verhandeln - und nutzen dafür auch das Netz und die sozialen Medien, um sich bemerkbar zu machen. Die schweigende Masse begehrt auf - und knüpft damit an die Tradition der großen Friedensdemos der achtziger Jahren gegen den Nato-Doppelbeschluss oder gegen die Atomkraft an.
Der Bürger protestiert heute gegen Bahnhöfe, Stromtrassen, Flugzeuglandebahnen und Windräder. Er organisiert Kampagnen gegen Bildungsreformen, mobilisiert gegen die Gier der Banker oder die Macht der Atomindustrie. Die heutige Protestkultur ist vielfältig, flammt in allen Teilen Deutschlands auf - und doch haben die Demonstranten viel gemein.
Das zeigt eine Studie des Göttinger Instituts für Demokratieforschung unter Leitung des Politikwissenschaftlers Franz Walter. "Bürgerproteste in Deutschland" lautet der Titel der vom Konzern BP gesponserten Untersuchung. Sozialwissenschaftler des Instituts haben in dem großangelegten Projekt 200 Aktivisten interviewt oder mit ihnen Gruppendiskussionen geführt, über Monate Demonstrationen, Mahnwachen und Versammlungen vor Ort beobachtet. Sie wollten wissen: Was treibt die Protestierenden an? Was verbindet sie?
Dabei kam heraus: Die neuen engagierten Demonstranten sind vor allem Bildungsbürger, eher Männer und älter, sie haben meist ein geregeltes Einkommen und sind oft in technischen Berufen tätig. Konkret konnten die Autoren herausfiltern:
Eine wichtige Voraussetzung für das Engagement ist Zeit. Viele Demonstranten sind Vorruheständler, Rentner und Pensionäre. Bei den Protesten finden sich auch viele Hausmänner, Teilzeitangestellte, Freiberufler, Schüler, Pastoren und Lehrer.
Die Demonstranten sind eher älter. Unvergessen sind die Bilder grauhaariger Schwaben, die sich bei Stuttgart 21 den Wasserwerfern entgegenstellten, von ihren Kritikern oft als "Alte, die Veränderungen scheuen" beschimpft oder "Senioren mit Trillerpfeifen" verlacht. Die Verfasser der Studie haben jenseits des Spotts herausgefunden, dass das Engagement vielen Älteren "Spaß bringt, den Kreis der sozialen Kontakte erweitert". Auf die Frage nach dem neuen Lebenssinn antwortet ein Befragter, der im Ruhestand ist: "Ich glaube, für die grauen Zellen ist es sehr gut. Man hat das Gefühl, man wird gebraucht; letztendlich, also persönlich, geht es mir gut damit."
Wenn es um Proteste in Netzfragen geht - wie etwa gegen das umstrittene Acta-Abkommen - sind die Aktivisten aber jünger. Hier scheint sich laut Politikwissenschaftler Walter "eine neuartige Schülergeneration mit originären Protestformen und politischen Anliegen" zu formieren. Die jungen Aktivisten wachsen mit Smartphones, YouTube und Facebook auf und nutzen die verschiedenen Möglichkeiten des Internets begeistert - auch um gemeinsam politisch zu handeln. Das Engagement der Jungen überrascht manchmal die eigenen Verwandten: "Meine Eltern waren total verdutzt und haben mich eher fragend angeguckt."
Die Proteste werden von Männern dominiert, 70 Prozent der Aktivisten sind männlich. Nur wenn es darum geht, Kritik an Bildungsprojekten zu äußern, fühlen sich vor allem Frauen angesprochen.
Die Proteste werden von Menschen mit hohem Bildungsabschluss und geregeltem Einkommen getrieben, oder, wie ein Kritiker lästert: "widerstandsbegeisterten Wohlstandsmenschen". 55 Prozent der vom Göttinger Institut Befragten haben einen Studienabschluss oder eine Promotion vorzuweisen. "Auf die Barrikaden gingen vornehmlich Bürger mit hoher Bildung, ordentlichem Einkommen, vielseitigen sozialen Kontakten, anspruchsvollen Berufstätigkeiten", so Walter. Was macht sie so entschlossen? "Personen, die bereits von Kindheit an die Wirkmächtigkeit ihres Tuns gelernt haben, besitzen das Selbstvertrauen, den Optimismus, auch die Ausdauer dafür, mit anderen selbst gegen einflussreiche Kontrahenten ein Projekt hartnäckig zu verfolgen."
Wenn es um Projekte wie die Energiewende, Infrastruktur oder Stadtentwicklung geht, fühlen sich vor allem Menschen angesprochen, die in technisch geprägten Berufen arbeiten: Ingenieure, Techniker, Informatiker und Biologen, auch Juristen. Sie sehen sich selbst oft nicht als Visionäre oder Idealisten, sondern wenn sie an die Zukunft denken, "hoffen sie auf zielgerichtete Planung, starke Gesetze und kompetente Politiker". Gerade Ingenieure reagierten "tief beleidigt, wenn man sie zu den 'spinnerten Wutbürgern' zählt".
Auf einen bestimmten Glauben lassen sich die Aktivisten nicht festlegen. Über die Hälfte der Befragten ist konfessionslos. Doch die Hilfe der Kirche wird bisweilen gern gesehen: Die Occupy-Demonstranten etwa durften sich im Winter in kirchlichen Räumen aufwärmen und wurden dort verpflegt.
Zusammenfassend charakterisierte SPIEGEL-Autor Dirk Kurbjuweit in einem Essay: "Der Wutbürger buht, schreit, hasst. Er ist konservativ, wohlhabend und nicht mehr jung. Früher war er staatstragend, jetzt ist er zutiefst empört über die Politiker." Und die Buhrufe werden nicht enden. Wissenschaftler Walter glaubt, dass das Zeitalter des Wutbürgers erst begonnen hat. Im alternden Deutschland der nächsten Jahrzehnte werden die Bürgerprotestler eine noch stärkere Rolle bei der Organisation der Unzufriedenheit spielen, sagt er.
Er prophezeit: "Spätestens zwischen 2015 und 2025 werden sich Hunderttausende hochmotivierter und rüstiger Rentner mit dem gesamten Know-how juveniler Demonstrationserfahrungen aus den spätsiebziger und frühachtziger Jahren in die Schlacht werfen." Das Altern der Republik werde also keineswegs zu Gleichgültigkeit in den öffentlichen Angelegenheiten führen - im Gegenteil.
(Spiegel online)